Strafrecht

Anrechnungsmaßstab für in Bulgarien erlittene Auslieferungshaft

Aktenzeichen  1 Ws 508/17

Datum:
22.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 139990
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art 3; EGV Art 6; IRG § 73 S 2; CPT Art 10 Abs 1; CPT Art 10 Abs 2; StGB § 53 Abs 4 S 2; StPO § 306 Abs 1; StPO § 309 Abs 2; StPO § 311 Abs 2; StPO § 458 Abs 1; StPO § 462 Abs 1 S 1; StPO § 462 Abs 3 S 1; StPO § 473 Abs 4

 

Leitsatz

Für eine in der Republik Bulgarien erlittene Freiheitsentziehung (hier: Auslieferungshaft) ist aufgrund der dortigen Haftbedingungen, insbesondere des keine wesentlichen Besserungen im Strafvollzug aufzeigenden Berichts des CPT derzeit ein Anrechnungsmaßstab von 1:2 zu Grunde zu legen.

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 04.08.2017 aufgehoben.
II. Die vom Verurteilten im gegenständlichen Verfahren erlittene Auslieferungshaft wird im Verhältnis 1:2 auf die Strafhaft angerechnet.
III. Die weitergehende sofortige Beschwerde des Verurteilten wird verworfen.
IV. Die Gebühr für das Beschwerdeverfahren entfällt. Die Staatskasse hat die dem Verurteilten im Beschwerdeverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.
Mit Beschluss vom 04.08.2017 hat die Strafvollstreckungskammer die vom Verurteilten in Bulgarien im gegenständlichen Verfahren erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet und den weitergehenden Antrag des Verurteilten (Anrechnung im Maßstab 1:3) zurückgewiesen. Auf die Gründe des vorgenannten Beschlusses wird im Übrigen Bezug genommen.
Der Beschluss wurde dem Verteidiger des Verurteilten am 09.08.2017 zugestellt. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16.08.2017, beim Landgericht eingegangen per Telefax am 17.08.2017, legte der Verurteilte gegen den Beschluss sofortige Beschwerde ein.
Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers vom 17.08.2017, beim Landgericht eingegangen per Telefax am selben Tage, beantragte der Verurteilte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wobei sein Verteidiger zugleich anwaltlich versicherte, dass er den Schriftsatz vom 16.08.2017 an diesem Tage gefertigt, er es jedoch versäumt habe, den Schriftsatz noch am selben Tage zu unterzeichnen und per Telefax auf den Weg zu bringen. Diesen Fehler habe er erst am 17.08.2017 bemerkt. Der Verurteilte habe ihn damit beauftragt, alle notwendigen Schritte für ihn einzuleiten, und habe deswegen auf ihn vertraut.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Verfügung vom 25.08.2017 beantragt, Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 04.08.2017 auf Kosten des Verurteilten zu bewilligen und die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 04.08.2017 als unbegründet kostenfällig zu verwerfen.
Der Verurteilte hatte sich hierzu durch Schreiben vom 05.09.2017 persönlich geäußert.
Mit Beschluss vom 15.09.2017 hat der Senat dem Verurteilten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für die Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 04.08.2017 bewilligt und zugleich die Einholung einer Auskunft der zuständigen diplomatischen oder konsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der Republik Bulgarien zu den Verhältnissen in den bulgarischen Haftanstalten Swilengrad und Chaskowo über das Auswärtige Amt zu den Behauptungen des Verurteilten über seine dortigen Haftbedingungen angeordnet. Hierzu wird auf den Inhalt des vorgenannten Senatsbeschlusses, der die Ausführungen seines Verteidigers hierzu wiedergibt, Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 11.10.2017 hat das Auswärtige Amt über das Bundesamt der Justiz mitgeteilt, dass Eindrücke über den bulgarischen Strafvollzug nur aus konsularischen Besuchen bei einzelnen Häftlingen in den Besuchsräumen der Justizvollzugsanstalt und aus den Schilderungen der Häftlinge gewonnen werden können und dass der deutschen Botschaft in Sofia zu den fraglichen Haftanstalten keinerlei Erkenntnisse vorliegen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist statthaft (§§ 458 Abs. 1, 462 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StPO) und in zulässiger Art und Weise eingelegt (§ 306 Abs. 1 StPO). Die Versäumung der Frist des § 311 Abs. 2 StPO ist durch die mit Senatsbeschluss vom 15.09.2017 gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geheilt.
Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Nach der öffentlichen Erklärung des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) vom 26.03.2015 haben sich die Haftbedingungen in Bulgarien seit Jahren bei wiederholter Prüfung durch das CPT als bedenklich erwiesen.
Das CPT führte danach seit dem Jahre 1995 insgesamt 10 Besuche in Bulgarien durch und besuchte in diesem Zeitraum u.a. nach und nach alle Justizvollzugsanstalten bis auf eine.
Besuche von bulgarischen Haftanstalten erfolgten durch das CPT in den Jahren 2012 und 2014 sowie zuletzt im Februar 2015.
Nachdem das CPT auch bei seinem vom 13. bis 20.02.2015 durchgeführten Besuch in Bulgarien keine durchgreifenden Verbesserungen der Haftbedingungen feststellen konnte, hat sich das Komitee entschlossen, am 26.03.2015 eine öffentliche Erklärung nach Art. 10 Abs. 2 der Europäischen Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe abzugeben (CPT/Inf (2015) 17). Eine solche Erklärung des Komitees erfolgt nur, wenn das betroffene Land nicht kooperiert oder sich weigert, die Situation auf der Grundlage der Empfehlungen des Komitees zu verbessern.
In der öffentlichen Erklärung vom 26.03.2015 beklagt sich das CPT ausdrücklich darüber, dass es im Laufe der Besuche in Bulgarien in den Jahren 2010, 2012, 2014 und 2015 keine entscheidenden Maßnahmen der Behörden feststellen konnte, was zu einer anhaltenden Verschlechterung der Situation der Inhaftierten geführt hätte.
In der öffentlichen Erklärung vom 26.03.2015 führt das CPT aus, dass die Situation in den drei von ihm 2015 besuchten Gefängnissen weiterhin alarmierend sei im Hinblick auf schlechte körperliche Behandlung von Häftlingen durch das Gefängnispersonal (darunter auch Ohrfeigen, Faustschläge und Fußtritte). Auch Gewalt unter den Gefangenen und Korruption sind nach der Erklärung des Komitees ein andauerndes Problem im bulgarischen Strafvollzug. Insassen der Haftanstalten sollen demnach für die Gewährung ihnen gesetzlich zustehender Rechte (z.B. Verlegung in den offenen Vollzug oder Zugang zu medizinischer Behandlung) Zahlungen an das Gefängnispersonal leisten müssen. Das CPT führt in der Erklärung weiter aus, dass die Mehrzahl der Gefangenen weiterhin keinen Zugang zu Aktivitäten außerhalb der Zelle habe, sodass die Mehrheit von ihnen 23 Stunden des Tages untätig in der Zelle verbringen müsse. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Erklärung Bezug genommen.
Der Bericht für das Jahr 2017 ist noch nicht veröffentlicht.
Zwar beziehen sich die aktuellen Feststellungen des CPT aus dem Jahr 2015 nur auf die drei von diesem zuletzt besuchten bulgarischen Haftanstalten; es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich bei den festgestellten Vollzugsbedingungen im Hinblick auf Baulichkeiten, Personal und Gestaltung des Vollzugsalltags nicht um Probleme handelt, die nur in den drei in der öffentlichen Erklärung genannten Haftanstalten vorkommen, sondern um generelle Probleme im Strafvollzugswesen in Bulgarien.
In Auslieferungsfällen nach Bulgarien wird daher regelmäßig – vorbehaltlich konkreter völkerrechtlich verbindlicher Zusicherungen zu den Haftbedingungen im Einzelfalle – von einem Auslieferungshindernis i.S.v. § 73 Satz 2 IRG i. V. m. Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union und Art. 3 EMRK auszugehen sein (vgl. OLG München, Beschluss vom 27.10.2015 – 1 AR 392/15 [bei juris] = NStZ-RR 2016, 29 [Ls]; KG, Beschluss vom 15.04.2015 – [4] 151 AuslA 33/15 [bei juris]).
Die Schilderungen des Verurteilten zu den Haftbedingungen hinsichtlich Belegung, sanitärer Zustände und Beheizung der Hafträume, in denen er untergebracht war, und hinsichtlich der medizinischen Versorgung sind aufgrund der Ausführungen des CPT zu den seit Jahren unveränderten Zuständen im Allgemeinen glaubwürdig.
Nach einer Entscheidung des LG Berlin (vgl. LG Berlin, Urt. v. 06.05.1997 – 69 Js 207/94 Kls [87/96] = StV 1998, 347) wurde eine in Bulgarien erlittene Strafhaft im Hinblick auf die dort bestehenden Haftbedingungen im Maßstab 1:3 auf eine Jugendstrafe gemäß § 52a Abs. 1 Satz 1 JGG angerechnet. Der dortige Verurteilte hatte vom 13.10.1994 bis 27.06.1996 in Bulgarien Strafhaft verbüßt, war in beengten Zellen untergebracht ohne freien Zugang zu einer Toilette und litt unter erheblichen Rückenbeschwerden, die nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Darstellung in StV 1998, 347 Bezug genommen.
Nachdem aufgrund des Berichts des CPT davon auszugehen ist, dass sich seitdem im bulgarischen Strafvollzug nichts Wesentliches zum Besseren gewendet hat, ist trotz des Umstandes, dass es sich bei der Republik Bulgarien um einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union handelt hier abweichend von dem Grundsatz, dass in diesen Fällen regelmäßig von einem Anrechnungsmaßstab 1:1 auszugehen ist, nach dem Ermessen des Senats im Falle des Verurteilten ein solcher von 1:2 anzuwenden.
Ausschlaggebend hierfür ist, dass sich der Verurteilte im Vergleich zu dem vom Landgericht Berlin entschiedenen Fall in Bulgarien „nur“ in Auslieferungshaft befand mit der von vornherein begründeten Aussicht, dort nur wenige Wochen verbleiben zu müssen, wie dies tatsächlich auch der Fall war. Deswegen erscheinen die erschwerten Haftbedingungen im Allgemeinen wie auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die nicht oder nur gegen Bezahlung behandelt wurden, in ihren Folgen für die seelische Verfassung des Verurteilten vergleichsweise weniger gravierend.
Daher war der angefochtene Beschluss aufzuheben und es war stattdessen (§ 309 Abs. 2 StPO) ein Anrechnungsmaßstab von 1:2 zu bestimmen.
Die weitergehende sofortige Beschwerde – erstrebt wurde weiterhin ein Anrechnungsmaßstab von 1:3 – war als unbegründet zu verwerfen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO.
Dem Grunde nach hat das Rechtsmittel Erfolg. Das Teilunterliegen des Verurteilten beruht lediglich auf der Ermessensausübung des Senats. Es ist davon auszugehen, dass sich der Verurteilte mit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zufrieden gegeben hätte, wenn bereits diese auf einen Anrechnungsmaßstab von eins zu zwei erkannt hätte (vgl. Meyer-Goßner/Scftm/’ff StPO 60. Aufl. § 473 Rn. 26).


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