Strafrecht

Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung bei Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft

Aktenzeichen  12 Qs 37/21

Datum:
9.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 13981
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 143 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Wird ein Pflichtverteidiger zur Sicherung der praktischen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Mindeststandards der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 nachträglich bestellt, steht das einer anschließenden oder späteren Aufhebung der Bestellung gem. § 143 Abs. 2 StPO nicht entgegen (Ergänzung zu Kammer, Beschluss vom 4. Mai 2021 – 12 Qs 22/21, juris). (Rn. 7 – 8)
2. Das Beschwerdegericht hat im Rahmen der Beschwerde gegen die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen. (Rn. 12)

Verfahrensgang

44 Ds 992 Js 2570/20 2021-05-11 Bes AGNUERNBERG AG Nürnberg

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 11. Mai 2021 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten der sofortigen Beschwerde zu tragen.

Gründe

I.
Der Angeklagte befand sich vom 28. November 2020 bis 22. März 2021 in Untersuchungshaft in anderer Sache (Haftsache). Deshalb stellte sein Wahlverteidiger in hiesigem Verfahren am 19. Februar 2021 den Antrag, als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Das lehnte das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 6. April 2021 ab. Auf sofortige Beschwerde hin bestellte die Kammer mit Beschluss vom 4. Mai 2021 (12 Qs 22/21, juris) rückwirkend den bisherigen Wahl zum Pflichtverteidiger.
Mit Beschluss vom 11. Mai 2021 hob das Amtsgericht Nürnberg die Bestellung wieder auf. Das begründete es damit, dass die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung nicht mehr gegeben seien.
Gegen den ihm am 12. Mai 2021 zugestellten Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde des Verteidigers, die dieser namens des Angeklagten am 19. Mai 2021 beim Amtsgericht eingelegt hat. Die Beschwerde begründet er damit, dass das Amtsgericht bei seiner Entscheidung über die Aufhebung das ihm zustehende Ermessen verkannt habe. Das Amtsgericht habe das hiesige Verfahren nicht mit der am 22. März 2021 verhandelten Haftsache verbunden. Hätte es die Verbindung verfügt, hätte wegen der damals noch bestehenden Untersuchungshaft weiterhin ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen. Hier hätten Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes geprüft werden müssen.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat in ihrer Zuschrift beantragt, den Beschluss des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
II.
Die gemäß § 143 Abs. 3 StPO statthafte, fristgerecht und auch sonst zulässig eingelegte sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Die Bestellung von Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger war aufzuheben.
Die Bestellung zum Pflichtverteidiger kann aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt und – im hier gegebenen Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO – der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen wird (§ 143 Abs. 2 Sätze 1 und 2 StPO). Diese Voraussetzungen liegen vor.
1. Die Aufhebung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die vorangehende Bestellung zur Sicherung der praktischen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (ABl. L 297/1 vom 4. November 2016, fortan: PKH-Richtlinie) durch die Kammer nachträglich und rückwirkend angeordnet worden ist (Beschluss vom 4. Mai 2021 – 12 Qs 22/21, juris Rn. 22). Zweck der nachträglichen Bestellung war, den Angeklagten hinsichtlich seiner Verteidigungsmöglichkeiten so zu stellen, wie er stünde, wäre ihm der Pflichtverteidiger rechtzeitig beigeordnet worden. Die justizseitig verursachte Verzögerung bei der Pflichtverteidigerbestellung sollte damit gleichsam neutralisiert werden. Dieses Ziel wurde – soweit möglich – durch den zitierten Kammerbeschluss erreicht.
Daraus folgt aber nicht, dass die Bestellung ungeachtet im weiteren Verlauf eintretender tatsächlicher Änderungen auch für die Zukunft unabänderbar festgeschrieben würde (ähnlich BT-Drs. 19/13829, 22). Die PKH-Richtlinie enthält selbst keine Regelung zur Dauer und zur Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung; Art. 6 Abs. 1 PKH-Richtlinie behandelt lediglich die Grundsätze der Bestellung, befasst sich jedoch nicht mit dem gegenläufigen Akt. Allerdings kann Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtline eine immanente Beschränkung der Bestellung auf Fälle entnommen werden, in denen sie „erforderlich“ ist, was die Berücksichtigung zeitlicher Grenzen oder eingetretener Änderungen ermöglicht. Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b PKH-Richtlinie verweist zur Anwendbarkeit ihrer Regelungen zudem zurück auf die Maßgaben des nationalen Rechts, sofern nicht – was hier gerade nicht mehr vorliegt – der Freiheitsentzug des Beschuldigten andauert (Art. 2 Abs. 1 Buchstabe a PKH-Richtlinie). Damit kann, weil Bestimmungen der PKH-Richtlinie nicht entgegenstehen und sie ohnehin nur Mindest- und nicht Höchststandards festschreibt (vgl. deren 30. Erwägungsgrund), § 143 Abs. 2 StPO zum Zuge kommen.
2. Der ursprünglich gegebene Fall einer notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO) liegt nicht mehr vor. Der Angeklagte befindet sich nicht mehr in Untersuchungshaft in der Haftsache, sondern ist seit dem 22. März 2021 wieder auf freiem Fuß und die Hauptverhandlung in hiesiger Sache ist auf den 17. Juni 2021 angesetzt. Damit sind die Voraussetzungen des § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO erfüllt und die Bestellung kann aufgehoben werden.
Das Bestehen eines sonstigen gesetzlichen Grundes für die notwendige Verteidigung (§ 140 Abs. 1 und 2 StPO) wird von der Beschwerde im Übrigen weder behauptet, noch ist es ersichtlich. Auf Nachfrage der Kammer hat die mit der Anklage befasste Richterin am Amtsgericht X. mitgeteilt, dass der Angeklagte in der Haftsache zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne Bewährung verurteilt worden und dass dieses Urteil rechtskräftig sei. Damit wird – im Falle einer Verurteilung im hiesigen Verfahren – eine Gesamtstrafe zu bilden sein. Diese wird bei Zugrundelegung der Strafpraxis des Amtsgerichts Nürnberg ein Jahr Gesamtfreiheitsstrafe nicht annähernd erreichen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140 Rn. 23a).
3. Auf der Rechtsfolgenseite gewährt § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO Ermessen. Dessen Ausübung durch die Kammer bestätigt im Ergebnis die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung.
a) Die Ausübung des Ermessens steht in der Beschwerde dem Beschwerdegericht zu. Die Kammer ist insoweit nicht auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle der erstinstanzlichen Entscheidung beschränkt, sondern trifft auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten eine eigenständige Ermessensentscheidung (OLG Schleswig, Beschluss vom 20. Januar 1976 – 1 Ws 332/75, NJW 1976, 1467, 1468; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 309 Rn. 4; Hoch in SSW-StPO, 4. Aufl., vor §§ 304 ff. Rn. 13; Neuheuser in MünchKomm-StPO, § 309 Rn. 28; Matt in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 309 Rn. 7). Die abweichende Ansicht, die dem Beschwerdegericht lediglich die Prüfung einer Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens durch das Erstgericht zubilligen will (OLG München, Beschluss vom 28. Februar 1972 – 2 Ws 5/72, MDR 1972, 1056; Bloy, JuS 1986, 585, 588; Peters, JZ 1954, 182, 184) ist mit der Funktion des Beschwerdegerichts als Tatsacheninstanz (vgl. § 308 Abs. 2 StPO), die im Interesse der Verfahrensbeschleunigung grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheiden soll (vgl. Matt in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 309 Rn. 7 m.w.N.), nicht zu vereinbaren.
b) Dies vorweg geschickt sind vorliegend keine Gesichtspunkte erkennbar, die eine Aufrechterhaltung der Bestellung gerechtfertigt hätten. Insbesondere vermag die Kammer keinen Vertrauenstatbestand zugunsten des Angeklagten zu erkennen. Die nachträgliche Bestellung des Pflichtverteidigers durch die Kammer enthielt keine für die Zukunft wirkende Zusage. Die Erwägung der Beschwerde, dass die hiesige Pflichtverteidigung fortbestanden hätte, wäre hiesiges Verfahren mit der Haftsache verbunden und mit dieser verhandelt worden, ist rein hypothetisch und damit nicht geeignet, eine für Vertrauensbildung notwendige tatsächliche Grundlage abzugeben. Tatsächlich war im Zeitpunkt der Verhandlung der Haftsache über die Pflichtverteidigung hier noch nicht entscheiden. Für die Nichtverbindung des hiesigen Verfahrens zur Haftsache gab es zudem, was die Beschwerde selbst sieht, gute sachliche Gründe. Zu einer Aufhebung der Pflichtverteidigung gab es nach alldem keine rational zu begründende Alternative.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.


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