Strafrecht

Coronavirus, SARS-CoV-2, Hauptverhandlung, Verteidiger, Staatsanwaltschaft, Angeklagte, Gutachten, Auslegung, Generalstaatsanwaltschaft, Jugendkammer, Anordnung, Ermessen, Beschwerdeverfahren, Schmerzen, Schutz, Gefahr, Erlass des Urteils

Aktenzeichen  4d Ws 166/22

Datum:
17.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11731
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beschwerden des Angeklagten V. und seiner Verteidiger gegen die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II vom 22.06.2021, abgeändert durch Verfügung vom 03.05.2022, werden als unbegründet verworfen.
2. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.

Gründe

I.
1. Die Vorsitzende der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II hat am 22.06.2021 für die am 23.08.2021 im Sitzungssaal in der S.straße 10 in M. beginnende Hauptverhandlung eine Sicherungsverfügung erlassen, in der unter Ziffer III. besondere Regelungen zur Vermeidung von Infektionen mit dem Erreger SARS-CoV-2 enthalten sind.
Unter Ziffer III.1. wird ausgeführt, dass nach dem aktuellen Hygieneplan (Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin M. vom 31.08.2020 bzw. 02.03.2021) im Zuschauerbereich des Sitzungssaals insgesamt 23 Sitzplätze für die Saalöffentlichkeit zur Verfügung stünden, von denen 11 Sitzplätze für Journalisten reserviert seien. Weiter enthält die Verfügung den Hinweis, dass ausschließlich die als solche gekennzeichneten Sitzplätze benutzt werden dürften. Die dazwischenliegenden Plätze hätten zur Einhaltung des Sicherheitsabstandes von 1,5 m frei zu bleiben; ihre Benutzung sei untersagt.
In Ziffer III.2. wird im Zuhörerbereich des Sitzungssaals wie auch im Sicherheitsbereich um den Sitzungssaal für das Sicherheitspersonal sowie für alle Zuhörer und Pressevertreter das stetige Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes (Maske der Schutzklasse FFP 2/KN 95 ohne Ausatemventil oder vergleichbar) vor Beginn, während und nach Ende der Sitzung angeordnet.
Ziffer II.3. regelt für alle Verfahrensbeteiligten (Gericht, Protokollführer, Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, Nebenklägervertreter, Sachverständige, Verteidiger und Angeklagte) das Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes, und zwar entweder das Tragen einer OP-Maske oder einer Maske der Schutzklasse FFP 2/KN 95 ohne Ausatemventil, im Sitzungssaal. Ausgenommen von dieser Pflicht sind diejenigen Verfahrensbeteiligten, denen während der Hauptverhandlung das Wort zu mündlichen Ausführungen erteilt ist.
Weiter behält sich die Vorsitzende vor, im Einzelfall unter bestimmten näher dargelegten Umständen die Maskentragungspflicht für einzelne Verfahrensabschnitte und/oder einzelne Verfahrensbeteiligte aufzuheben. Zudem wird geregelt, dass Zeugen und Sachverständige ihre Zeugenaussage/Gutachtenserstattung ohne Mund-Nasen-Bedeckung abzugeben hätten.
Mit Verfügung vom 03.05.2022 hat die Vorsitzende der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II die Verpflichtung zur stetigen Maskentragungspflicht für das Sicherungspersonal, die Zuhörer und Pressevertreter in Ziffer III.2. der Sicherungsverfügung vom 22.06.2021 dahingehend modifiziert, dass nunmehr auch für sie und damit nunmehr für alle im Sitzungssaal anwesenden Personen das Tragen einer medizinischen Maske im Sinne einer sogenannten OP-Maske ausreichend sei.
2. Mit ihrer im eigenen Namen und im Namen des Angeklagten V. am 03.05.2022 eingelegten Beschwerde wenden sich die Verteidiger des Angeklagten V., Rechtsanwalt Dr. A. B., Rechtsanwalt Dr. A. S. und Rechtsanwältin S. St. gegen die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden vom 22.06.2021 sowie mit Schriftsatz vom 04.05.2022 auch gegen die mit Verfügung vom 03.05.2022 modifizierte Regelung.
Ergänzender Vortrag der Beschwerdeführer erfolgte in den Schriftsätzen vom 05.05.2022, 06.05.2022 und 12.05.2022.
Die Beschwerdeführer tragen im wesentlichen vor, die Sicherungsverfügung sei angesichts der seit ihrem Erlass stark gewandelten Pandemie- und Rechtslage spätestens seit dem Inkrafttreten des geänderten Infektionsschutzgesetzes am 20.03.2022 mit der Sach- und Rechtslage gänzlich unvereinbar und grob rechtswidrig.
Die eingriffsintensiven Maßnahmen seien spätestens seitdem evident unverhältnismäßig. In tatsächlicher Hinsicht hätten sich die äußeren Voraussetzungen drastisch verändert. Es seien nahezu sämtliche Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Pandemie aufgehoben worden. In Bayern gebe es keinen einzigen Corona-Hotspot. Der M. Oberbürgermeister habe bekannt gegeben, dass das Oktoberfest in diesem Jahr ohne jede Einschränkung stattfinden könne. Der Pandemiebeauftragte des Klinikums R. habe sich in der S. Zeitung vom 24.04.2022 mit der Aussage zitieren lassen, dass die Gefahr an COVID-19 zu sterben, inzwischen geringer sei als an der Virusgrippe.
Soweit die Vorsitzende mit ihrer Verfügung vom 03.05.2022 alle Personen im Sitzungssaal zum Tragen einer Maske verpflichte, sei dies rechtswidrig. Die Anordnung verstoße gegen § 176 Abs. 2 GVG, der es an der Verhandlung beteiligten Personen verbiete, ihr Gesicht ganz oder teilweise zu verhüllen. Ein Verbot der Gesichtsverhüllung für Richter, ehrenamtliche Richter und Staatsanwälte in Ausübung ihres Dienstes ergebe sich zusätzlich aus Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2 Satz 3, Art. 15 Satz 3 BayRiStAG i.V.m. Art. 75 BayBG.
Verteidiger seien von sitzungspolizeilichen Maßnahmen nicht erfasst und könnten durch die Vorsitzende nicht zum Tragen einer Maske verpflichtet werden. Etwas anderes würde sich auch nicht aus der Sechzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ergeben, die Gerichtssäle gar nicht erfasse.
Zum Hygienekonzept des Oberlandesgerichts München tragen die Beschwerdeführer vor, dass sich die Lebenswirklichkeit der Menschen und der rechtliche Rahmen seit dem 22.06.2021 stark gewandelt habe und der infektionsschutzrechtliche Rahmen dem gefolgt sei.
Der aktuelle wöchentliche COVID-19-Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 05.05.2022 stelle fest, dass der Gipfel der aktuellen Welle klar überschritten sei, viele Hospitalisierungsfaktoren und auch die Todesfälle weiter abnähmen. Auch die Zahl der auf der Intensivstation behandelten Personen sei wie bereits in den Vorwochen gesunken. Das Hygienekonzept des Oberlandesgerichts München beruhe auf einem veralteten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Ausführungen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität M. stammten vom 31.08.2020 und vom 02.03.2021. Zur Maskenpflicht sei darauf hinzuweisen, dass die Europäische Luftsicherheitsbehörde in Abstimmung mit der Europäischen Gesundheitsbehörde am 11.05.2022 die Maskenpflicht an Bord von Flugzeugen aufgehoben habe.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf die Schriftsätze der Beschwerdeführer vom 03.05.2022, 04.05.2022, 05.05.2022, 06.05.2022 und 12.05.2022 Bezug genommen.
3. Mit Verfügungen vom 04.05.2022 und vom 05.05.2022 hat die 1. Jugendkammer den Beschwerden nicht abgeholfen und die Beschwerden dem Oberlandesgericht München zur Entscheidung vorgelegt.
4. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Schriftsatz vom 05.05.2022 beantragt, die Beschwerde des Angeklagten und seiner Verteidiger gegen die Verfügung der Vorsitzenden vom 22.06.2021, abgeändert durch Verfügung vom 03.05.2022, als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zu verwerfen.
Mit Schriftsatz vom 11.05.2022 gab die Generalstaatsanwaltschaft München eine ergänzende Stellungnahme unter Aufrechterhaltung ihrer Anträge ab und teilte am 12.05.2022 mit, dass ihrerseits von einer Stellungnahme zum weiteren Schriftsatz der Beschwerdeführer vom 12.05.2022 abgesehen werde.
II.
Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihren Beschwerden gegen die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden vom 22.06.2021 und die von ihr in Ziffer III.2. mit Verfügung vom 03.05.2022 vorgenommene Änderung. Aus dem Gesamtzusammenhang der Argumentation der Beschwerdeführer lässt sich im Rahmen der Auslegung des Beschwerdevorbringens entnehmen, dass nicht die gesamte Sicherungsverfügung, sondern die in Ziffer III. geregelten „Besonderen Bestimmungen zur Vermeidung von Infektionen mit dem Erreger SARS-CoV-2“ Beschwerdegegenstand sein sollen.
Zu den übrigen Bestimmungen der Sicherungsverfügung verhalten sich die Beschwerdeführer nicht. Dabei unterliegen die Beschwerdeführer, wie aus dem Beschwerdeschriftsatz vom 03.05.2022 ersichtlich, bei ihrer Argumentation insoweit einem Irrtum, als sie davon ausgehen, dass den Verfahrensbeteiligten in Ziffer III.3. zwingend das Tragen einer FFP 2-Maske auferlegt worden sei. Tatsächlich ist nach der Verfügung das Tragen einer OP-Maske ausreichend.
III.
Die Beschwerden gegen die Verfügungen vom 22.06.2021 und vom 03.05.2022 haben keinen Erfolg.
1. Die Beschwerden sind zulässig.
Gemäß § 305 Satz 1 StPO unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. Dabei werden vom Beschwerdeausschluss nicht nur Gerichtsbeschlüsse, sondern auch Verfügungen des Vorsitzenden erfasst (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. 2021 § 305 Rdn. 3 m. w. N.).
Selbständig anfechtbar hingegen bleiben Entscheidungen, die eine vom Urteil nicht umfasste, selbständige Beschwer eines Verfahrensbeteiligten bewirken und die vom erkennenden Gericht nicht bei Erlass des Urteils und auch nicht im Rahmen einer Urteilsanfechtung nachprüfbar sind (Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rdn. 4 f.).
Gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG ist die Beschwerde nach heute überwiegender Auffassung statthaft, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, dass ihn die Maßnahme über die Hauptverhandlung hinaus in seinen Rechten beeinträchtigt (vgl. (BeckOK/Cirener StPO § 305 Rdn.1-12.1 m.w.N.; OLG Stuttgart NJW 2011, 2899; OLG Karlsruhe BeckRS 2020, 13586; OLG Celle Beck RS 2015, 16252).
Eine derartige Beeinträchtigung ist im vorliegenden Fall zu besorgen.
Die Weigerung der Verteidiger, der Anordnung der Sicherungsverfügung nachzukommen, eine medizinische Maske zu tragen, kann zur Folge haben, dass die Kammer das Verfahren gegen den Angeklagten abtrennt, die Hauptverhandlung gegen diesen nach § 145 Abs. 1 StPO wegen eines einem unentschuldigten Ausbleiben gleichzusetzenden Verhaltens seiner Verteidiger in der Hauptverhandlung aussetzt und den Verteidigern die durch die Aussetzung verursachten Kosten gemäß § 145 Abs. 4 StPO auferlegt. Somit wären von den sitzungspolizeilichen Maßnahmen Rechtspositionen der Beschwerdeführer betroffen, die nicht mit dem Urteil überprüft werden könnten.
2. In der Sache sind die Beschwerden jedoch unbegründet.
Die Anordnung, zum Schutz vor einer COVID-19-Infektion in der Hauptverhandlung eine medizinische Maske zu tragen, ist vorliegend von der Ermächtigung der Vorsitzenden zur Ausübung der Sitzungspolizei gemäß § 176 Abs. 1 GVG gedeckt und beruht auch auf einer fehlerfreien Ausübung des Ermessens der Vorsitzenden. Die Regelung des § 176 Abs. 1 GVG ermächtigt zu allen Maßnahmen, die für den ungestörten und gesetzesmäßigen Ablauf der Sitzung nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich sind (KK-Diemer, StPO, § 176 GVG Rdn.1).
Dazu zählen auch Maßnahmen zum Schutz der Verfahrensbeteiligten, sodass sich die Ermächtigung auch auf Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem Coronavirus bezieht (OLG Celle, aaO; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28.09.2020 – 1 BvR 1948/20 -, juris).
Der Vorsitzenden kommt dabei ein weiter Ermessensspielraum zu, wobei sich das Ermessen darauf bezieht, ob überhaupt eingeschritten wird und in welcher Weise auf eine drohende Störung unter Abwägung der betroffenen Rechtsgüter bei Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu reagieren ist (OLG Celle aaO).
Die dabei ergangene Entscheidung unterliegt im Beschwerdeverfahren nur der Prüfung, ob die Vorsitzende ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und den Zweck sowie die Grenzen des Ermessens beachtet hat. Verwehrt ist dem Beschwerdegericht die Überprüfung der Zweckmäßigkeit sitzungspolizeilicher Maßnahmen (OLG Celle aaO; OLG Stuttgart aaO).
Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Sicherungsverfügung vom 22.06.2021 und ihre Abänderung in Ziffer III. 2. mit Verfügung vom 03.05.2022 der Nachprüfung stand.
Es begegnet keinen Bedenken, dass die Vorsitzende das Tragen einer medizinischen Maske in der Hauptverhandlung zum Schutz vor einer Coronainfektion für geeignet hält, das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus während der Sitzung zu reduzieren. Dies entspricht der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts, wonach das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung das Infektionsrisiko verringern könne (vergleiche Robert-Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19 vom 05.05.2022). Somit ist die Anordnung geeignet, mögliche Infektionen im Gerichtssaal zu verhindern oder die Wahrscheinlichkeit dafür zu reduzieren.
Es ist auch die Annahme der Vorsitzenden nicht zu beanstanden, dass in geschlossenen Räumen neben der durch die Gerichtsverwaltung bereits festgelegten Mindestabstandsregelung und der Höchstzahlbestimmung anwesender Personen keine Maßnahmen zur Verfügung stehen, die ergänzend zu den Anordnungen der Verwaltung das Ansteckungsrisiko ebenso wirksam wie das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung reduzieren könnten.
Eine Mund- und Nasenbedeckung wird in geschlossenen Räumen einen höheren Schutz vor Infektionen bieten als das bloße Einhalten eines Abstands und das Lüften der Räumlichkeiten bei gleichzeitiger Beschränkung der Anzahl der anwesenden Personen.
Dies entspricht auch den Ausführungen des Robert-Koch-Instituts in seiner Risikobewertung zu COVID-19 vom 05.05.2022, wonach angesichts der weiterhin hohen Zahl von Neuinfektionen die konsequente kumulative Einhaltung von Hygiene, Lüften, Abstandhalten, Kontakteinschränkung und Maskentragung zur Reduktion des Infektionsrisikos erforderlich sind. Die Maßnahmen weisen nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts die höchste Effektivität auf, wenn sie bei einem Zusammentreffen von allen anwesenden Personen eingehalten werden.
Da danach mehrere in Betracht kommende aber noch nicht ausreichende Maßnahmen bereits durch die vorgegebenen Regelungen der Gerichtsverwaltung ausgeschöpft sind, bleibt zur weiteren Reduzierung des Risikos die Anordnung der Mund- und Nasenbedeckung. Die kumulative Anwendung dieser Maßnahmen entspricht den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts.
Die Vorsitzende ist im Rahmen ihrer Ermessensausübung rechtsfehlerfrei auch davon ausgegangen, dass die Anordnung der Mund- und Nasenbedeckung verhältnismäßig im engeren Sinne und damit angemessen ist.
Die Anordnung enthält eine geringfügige Belastung für die Beschwerdeführer und die Sitzungsteilnehmer. Das Tragen einer Maske ist grundsätzlich weder gesundheitsgefährdend noch ruft es körperliche Schmerzen oder gleichwertige nichtkörperliche Beeinträchtigungen hervor. Für den Einzelfall sieht die Anordnung Befreiungsmöglichkeiten vor. Dieser eher geringen Belastung der Sitzungsteilnehmer hat die Vorsitzende die Gefahr einer COVID-19-Infektion gegenübergestellt und dabei das Infektionsschutzinteresse für überwiegend gehalten. Dabei hat die Vorsitzende nicht verkannt, dass mittlerweile insgesamt das Infektionsgeschehen rückläufig ist, die bayerische Staatsregierung im öffentlichen Leben insbesondere hinsichtlich der Maskenpflicht die Coronamaßnahmen gelockert hat und die weiteren Hygienemaßnahmen während der Sitzungen ebenfalls einen Schutz bieten. Es begegnet rechtlich jedoch keinen Bedenken, dass die Vorsitzende diesen Umständen bei ihrer Abwägung letztlich weniger Gewicht beigemessen hat als den Risiko erhöhenden, sich nach wie vor in einer hohen Infektionsgefahr manifestierenden Gesichtspunkten.
Diese Umstände rechtfertigen es, die Anordnung der Vorsitzenden als angemessen anzusehen. Die Hauptverhandlung ist das Zusammentreffen einer Vielzahl von Personen in einem geschlossenen Raum mit einem vergleichsweise hohen Infektionsrisiko. Auch der Umstand, dass alle Verfahrensbeteiligten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet sind, ohne selbst die Hygienemaßnahmen im Saal wesentlich beeinflussen zu können, spricht für die Schaffung eines hohen Schutzes. Somit war die Vorsitzende berechtigt, unter Ausübung ihres Ermessens, die angefochtene Anordnung gemäß § 176 Abs. 1 GVG zu verfügen.
Der Anordnung steht auch nicht die Regelung in § 176 Abs. 2 GVG entgegen, deren Satz 1 bestimmt, dass an der Verhandlung beteiligte Personen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verhüllen dürfen.
Denn § 176 Abs. 2 Satz 2 GVG sieht weiter vor, dass die Vorsitzende Ausnahmen vom Verbot des Verhüllens gestatten kann, wenn und soweit die Kenntlichmachung des Gesichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung notwendig ist. In Ausübung pflichtgemäßen Ermessens kann die Vorsitzende daher Ausnahmen von § 176 Abs. 2 Satz 1 GVG bestimmen.
§ 176 Abs. 2 Satz 1 GVG bezweckt keineswegs eine Beschränkung der Befugnisse des Vorsitzenden zur Aufrechterhaltung der Ordnung (BayObLG, Beschluss vom 09.08.2021, BeckRS 2021, 25633). Vielmehr ging es dem Gesetzgeber um eine Entlastung des Vorsitzenden, der nicht mehr verpflichtet sein sollte, ein Verbot der Gesichtsverhüllung im Interesse der Sachaufklärung aussprechen und gegebenenfalls begründen zu müssen (Bay ObLG aaO).
Der sitzungspolizeilichen Anordnung der Vorsitzenden stehen auch nicht die Vorschriften der Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2 Satz 3, Art. 15 Satz 3 BayRiStAG i.V.m. Art. 75 BayBG entgegen, die vorsehen, dass Richter, Staatsanwälte und ehrenamtliche Richter bei Ausübung des Dienstes ihr Gesicht nicht verhüllen dürfen, es sei denn dienstliche Gründe erforderten dies. Eine sitzungspolizeiliche Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Sitzungssaal, die sich auf vernünftige Gründe des Gemeinwohls stützt, um die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Infektion zu senken, stellt einen dienstlichen Grund im Sinne dieser Vorschriften zur teilweisen Verhüllung des Gesichts dar.
Die Befugnis zu sitzungspolizeilichen Anordnungen der Vorsitzenden bezieht sich auch auf die am Strafverfahren beteiligten Verteidiger (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 176 Rdn.10).
Bei Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen der Vorsitzenden kommen bei Ihnen jedoch Zwangsmaßnahmen gemäß § 177 GVG regelmäßig nicht zur Anwendung, da der Gesetzgeber erwartet, dass sich Verteidiger – wie alle am Verfahren beteiligten Organe der Rechtspflege – an rechtmäßige sitzungspolizeiliche Anordnungen halten.
Es begegnet im Hinblick auf die angeordneten Maßnahmen der Sicherungsverfügung keinen rechtlichen Bedenken, dass die Sechzehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 01.04.2022 und das Infektionsschutzgesetz vom 20.03.2022 für eine Hauptverhandlung vor Gericht weder eine Verpflichtung zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske noch die weiteren angeordneten Maßnahmen vorsehen. Die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthält dazu lediglich allgemeine Verhaltensempfehlungen.
Die Sicherungsverfügung beruht auf § 176 Abs. 1 GVG und nicht auf dem Infektionsschutzgesetz und auch nicht auf der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Letztere haben für ihren Regelungsbereich die schützenswerten wirtschaftlichen Interessen von Einrichtungen und Veranstaltern an einem möglichst ungehinderten Besucher- und Kundenverkehr zu berücksichtigen und gegen den Infektionsschutz abzuwägen (OLG Celle NStZ-RR 2022, 58). Bei sitzungspolizeilichen Anordnungen sind ökonomische Interessen nicht berührt. Maßgeblich sind dafür die Umstände der jeweiligen Hauptverhandlung und Gesichtspunkte des Infektionsschutzes.
Soweit die Beschwerdeführer sich gegen das Hygienekonzept für den Sitzungssaal in der S.straße 10 und damit zusammenhängend gegen die maximal zugelassene Anzahl der anwesenden Personen sowie das Mindestabstandsgebot wenden, handelt es sich nicht um eine von der Vorsitzenden der Strafkammer in der Sicherungsverfügung getroffene Regelung.
Das Abstandsgebot und die einzuhaltende Kapazitätsgrenze wurden im Rahmen des vom Präsidenten des Oberlandesgerichts M. festgelegten Hygienekonzepts durch die Gerichtsverwaltung für den Sitzungssaal bestimmt. Auch die Auswahl und Zuweisung des Sitzungssaals durch die Gerichtsverwaltung wird nicht durch die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden geregelt.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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