Verkehrsrecht

Kollision von Vorfahrtsberechtigtem und Wartepflichtigem nach irreführendem Fahrverhalten des Vorfahrtsberechtigten

Aktenzeichen  42 O 458/16

Datum:
4.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 7, § 17, § 18
BGB BGB § 823 Abs. 1
StVO StVO § 1 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Ein Ereignis ist dann “unabwendbar” iSv § 17 Abs. 3 StVG, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Fahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hat. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über das Maß der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinaus (vgl. OLG Koblenz BeckRS 2005, 13162). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Von einem “Idealfahrer” iSd § 17 Abs. 3 StVG ist zu verlangen, dass er bei der Einfahrt in eine vorfahrtsberechtigte Straße keinerlei Risiko eingeht und so lange mit der Einfahrt wartet, bis vollständig ausgeschlossen ist, dass durch die Einfahrt der Verkehr auf der vorfahrtsberechtigten Straße behindert werden könnte; dies schließt eine Einfahrt in die vorfahrtsberechtigte Straße auch dann aus, wenn sich auf der vorfahrtsberechtigten Straße ein Fahrzeug nähert, das durch seine geringe Geschwindigkeit und Rechtsblinken den Eindruck erweckt, in die untergeordnete Straße, aus der der Wartepflichtige kommt, einbiegen zu wollen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Erweckt derjenige, der sich auf der vorfahrtsberechtigten Straße einer Einmündung nähert, durch die Kombination von langsamer Fahrt (hier: nicht mehr als 25-30 km/h bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h) und Rechtsblinken den Eindruck, nach rechts in die Einmündung abbiegen zu wollen, fährt er dennoch geradeaus weiter und kollidiert deshalb mit einem aus der Einmündung in die vorfahrtsberechtigte Straße einfahrenden Fahrzeug, so verstößt er gegen § 1 Abs. 2 StVO. Er verhält sich damit auch nicht wie ein “Idealfahrer” iSv § 17 Abs. 3 StVG. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
4 Kommt es zu einer Kollision zwischen einem auf der vorfahrtsberechtigten Straße herankommenden Pkw und einem aus einer untergeordneten Straße in die vorfahrtsberechtigte Straße einfahrenden Pkw, weil der vorfahrtsberechtigte Fahrer durch die Kombination von langsamer Fahrt und Rechtsblinken den falschen Eindruch erweckt hat, nach rechts abzubiegen, so übersteigt die den in die übergeordnete Straße einfahrenden Pkw treffende Haftungsquote 50% nicht. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 6.652,53 EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
Dem Kläger steht gegen die Beklagtenseite kein Schadensersatzanspruch nach §§ 7, 18 StVG bzw. § 823 Abs. 1 BGB zu, der der Höhe nach den bereits vorgerichtlich gezahlten Betrag von 6.652,53 EUR übersteigt.
1. Die Beklagte zu 1) war unstreitig Führerin des Pkw, amtliches Kennzeichen -, als es zum Zusammenstoß mit dem klägerischen Pkw kam. Der klägerische Pkw wurde auch unstreitig bei diesem Zusammenstoß beschädigt.
2. Ein Ausschluss der Ersatzpflicht wegen Vorliegens höherer Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG kommt bei einem verkehrsinternen Vorgang wie dem hier vorliegenden Zusammenstoß zweier Fahrzeuge im Einmündungsbzw. Kreuzungsbereich nicht in Betracht.
3. Nach Durchführung der Beweisaufnahme konnte weder die Beklagtenseite noch die Klägerseite gemäß § 17 Abs. 3 StVG den ihnen jeweils obliegenden Nachweis führen, dass der Unfall ein für sie unabwendbares Ereignis war. Gemäß § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis dann unabwendbar, wenn sowohl der Halter, als auch der Führer des Fahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über das Maß der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinaus (vgl. OLG Koblenz, NJW-RR 2006, 94).
3.1. Nach der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Beklagte zu 1) den Unfall vermeiden hätte können, wenn sie abgewartet hätte, bis der klägerische Pkw entweder nach rechts abgebogen oder an ihr vorbeigefahren wäre.
Dies bestätigte auch der Sachverständige, der dem Gericht aus zahlreichen Verfahren als sorgfältig arbeitender Gutachter bekannt ist. Er führte hierzu nachvollziehbar aus, dass der Unfall für die Beklagtenfahrzeugführerin vermeidbar gewesen wäre, wenn sie nicht vor dem für sie von links sichtbar herannahenden Kläger-Pkw in die bevorrechtigte Straße eingefahren wäre, sondern außerhalb der bevorrechtigten Straße stehen geblieben wäre.
Unabhängig von der Frage, mit welcher Geschwindigkeit der Kläger fuhr und ob er einen Fahrtrichtungsanzeiger aktiviert hatte, ist von einem „Idealfahrer“ im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG zu verlangen, dass er bei der Einfahrt in eine vorfahrtsberechtigte Straße keinerlei Risiko eingeht und so lange mit der Einfahrt wartet, bis vollständig ausgeschlossen ist, dass durch die Einfahrt der Verkehr auf der vorfahrtsberechtigten Straße behindert werden könnte. Das hat die Beklagte zu 1) jedoch gerade nicht getan, sondern ist schon vor völlig zweifelsfreier Klärung der Verkehrssituation in die vorfahrtsberechtigte Straße eingefahren. Insofern hat sich die Beklagte zu 1) gerade nicht wie ein „Idealfahrer“ verhalten und nicht jede gebotene Sorgfalt im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG beachtet.
3.2. Allerdings ist auch der Kläger im Rahmen des Unfallhergangs den Anforderungen an einen „Idealfahrer“ im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG nicht gerecht geworden. Nach dem Ergebnis des Beweisaufnahme, insbesondere angesichts (i) der uneidlichen Vernehmung der Zeugen C., Sch. und S., (ii) der Ausführungen des Sachverständigen, sowie (iii) der informatorischen Anhörung der Parteien, kommt das Gericht zu dem Schluss, dass der Kläger sich unmittelbar vor dem Unfall dem Einmündungsbereich mit einer im Vergleich zur zulässigen Höchstgeschwindigkeit deutlich herabgesetzten Geschwindigkeit sowie mit aktiviertem Fahrtrichtungsanzeiger nach rechts näherte, obwohl er in der Folge nicht nach rechts abbog, sondern geradeaus weiterfuhr. Durch die Kombination aus langsamer Fahrt und aktiviertem Fahrtrichtungsanzeiger trotz Weiterfahrt auf der Staats Straße x hat der Kläger zumindest fahrlässig gegen § 1 Abs. 2 StVG verstoßen und sich daher gerade nicht wie ein „Idealfahrer“ im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG verhalten, sondern bei der Beklagten zu 1) den nachvollziehbaren Eindruck erweckt, er werde nach rechts abbiegen, weshalb diese der Ansicht war, gefahrlos in die Staats Straße x einbiegen zu können.
Das Gericht verkennt nicht, dass der informatorisch angehörte Kläger sowie die Ehefrau des Klägers, die Zeugin Sch., jeweils bekundeten, dass sie vor der Kollision mit 50 km/h bzw. 60 km/h gefahren seien und sie an der Einmündung nicht abbiegen, sondern geradeaus weiterfahren hätten wollen, weshalb auch der Fahrtrichtungsanzeiger nach rechts nicht aktiviert gewesen sei.
Angesichts der Feststellungen des Sachverständigen und der Aussagen der Zeugen C. und S. ist das Gericht jedoch davon überzeugt, dass der Kläger bei Zufahrt auf den Kreuzungsbereich sehr langsam, nämlich nicht mehr als 25-30 km/h fuhr, und dabei zusätzlich den Fahrtrichtungsanzeiger nach rechts aktiviert hatte.
Die Geschwindigkeit des Klägerfahrzeugs steht für das Gericht aufgrund der einleuchtenden Aussage des Sachverständigen fest, der diesbezüglich feststellte, dass der EES-Wert beider unfallbeteiligten Fahrzeuge bei etwa 4 – 8 km/h gelegen habe, was zu einer Anstoßgeschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs von 15 – 17 km/h und für den Beklagten-Pkw von 13 – 15 km/h führe. Selbst wenn man eine Abbremsung des Klägerfahrzeugs vor dem Kollisionskontakt unterstelle, seien Geschwindigkeiten wie vom Kläger angegeben im Bereich von 50 oder 60 km/h nicht darstellbar. Die maximal mögliche Ausgangsgeschwindigkeit könne bei 25 – 30 km/h gelegen haben.
Angesichts der Aussagen der Zeugen C. und S. ist das Gericht ferner davon überzeugt, dass der Kläger in Annäherung an den Kreuzungsbereich den rechten Fahrtrichtungsanzeiger aktiviert hatte. Der Zeuge S. sagte aus, er habe gesehen, dass sich der klägerische Pkw von links genähert und dabei nach rechts geblinkt habe sowie langsam gefahren sei. Er (der Zeuge) habe den Eindruck gehabt, der klägerische Pkw wolle nach rechts abbiegen. Nach der Kollision habe seine Ehefrau ihn darauf hin gewiesen, dass der Blinker am klägerischen Pkw nach wie vor aktiviert sei; er habe das dann auch selbst gesehen. Der Zeuge C. bekundete ebenfalls, dass der klägerische Pkw nach rechts geblinkt habe und langsam unterwegs gewesen sei. Dann habe der klägerische Pkw plötzlich wieder beschleunigt, wobei der Blinker aktiviert geblieben sei. Auch nach der Kollision sei der Blinker noch aktiviert gewesen.
Die Aussagen der glaubwürdigen Zeugen C. und S. sind glaubhaft. Sie haben ruhig, widerspruchsfrei und ohne erkennbaren Be-/Entlastungseifer ausgesagt. Für das Gericht ist es ohne Weiteres nachvollziehbar, dass die Zeugen die Wahrnehmungen, die sie schilderten, gemacht haben, weil sie zum Einen als Verkehrsteilnehmer hinter dem Fahrzeug der Beklagten zu 1) den Verkehr beobachteten und zum anderen – gemäß der Aussage des Sachverständigen – auch einen freien Blick auf die Verkehrssituation hatten. Hinsichtlich der Geschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs wird ihre Aussage zudem durch die Feststellung des Sachverständigen bestätigt. Die Tatsache, dass die Zeugen zusammen mit der Klägerin unterwegs waren, um eine Eisdiele aufzusuchen, ändert weder etwas an ihrer Glaubwürdigkeit noch an der Glaubhaftigkeit der Aussagen.
Das Gericht vermag demgegenüber der Aussage der Zeugin Sch. in den entscheidenden Punkten keinen Glauben zu schenken. Zum einen wird ihre Aussage zur Geschwindigkeit des klägerischen Pkw durch die Feststellungen des Sachverständigen widerlegt. Zum Anderen leuchtet es dem Gericht nicht ein, warum sich die Zeugin einerseits genau daran erinnern können sollte, dass der Fahrichtungsanzeiger nicht aktiviert war, andererseits jedoch nach eigener Aussage keinerlei Erinnerung mehr daran hatte, (i) ob es im Kreuzungsbereich eine Rechtsabbiegerspur gibt, (ii) wo sie vor dem Unfall hingeblickt hatte, (iii) wo das Verkehrszeichen (70 km/h) stand und (iv) wie weit sie von dem Beklagtenfahrzeug entfernt war, als sie es das erste Mal sah. Die Aussage, dass sie das „Tackern“ des Blinkers gehört hätte, genügt insofern nicht, um die Überzeugung des Gerichts zu erschüttern.
4. Im Rahmen der nach § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StVG durchzuführenden Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Beklagtenseite maximal zu 50% für den Unfall einzustehen hat.
Wie bereits oben ausgeführt und begründet, steht für das Gericht nach der Beweisaufnahme fest, dass der Kläger unmittelbar vor dem Unfall mit einer im Vergleich zur zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h deutlich herabgesetzten Geschwindigkeit von 25-30 km/h sowie mit aktiviertem Fahrtrichtungsanzeiger nach rechts fuhr, obwohl er in der Folge dann nicht nach rechts abbog, sondern geradeaus weiterfuhr. Die Beklagte zu 1) durfte angesichts dieser zwei Indizien in dieser Situation damit rechnen, dass der Kläger entsprechend seiner Geschwindigkeit und dem an seinem Fahrzeug eingeschalteten Fahrtrichtungsanzeiger nach rechts in die von der Beklagten zu 1) befahrene Straße abbiegen werde, sodass sie den Einfahrtsvorgang beginnen durfte (vgl. dazu OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.11.2000 – 10 U 155/00; LG Bonn, Urteil vom 14.05.2002 – 8 S 241/01; OLG Hamm, Urteil vom 29. 9. 2003 – 6 U 95/03; KG, 25.09.1989 – 12 U 4646/88). Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kläger sich in Annäherung an den Kreuzungsbereich nicht nach rechts eingeordnet hatte, sondern mittig auf seiner Fahrbahn fuhr. Eine Orientierung zur rechten Fahrbahnseite wäre allenfalls ein weiteres Indiz für eine Abbiegeabsicht gewesen; in Anbetracht der zwei anderen vorliegenden Indizien kam es darauf aber nicht mehr an.
Damit entfällt auf die Beklagtenseite eine Haftungsquote, die 50% keinesfalls übersteigt. Der Klägerseite ist ein Schaden in Höhe von 13.300,06 EUR entstanden. Die Unkostenpauschale beträgt 25 EUR (OLG München, Urteil vom 27. 1. 2006 – 10 U 4904/05; OLG München, Urteil vom 26.02.2016 – 10 U 579/15), im Übrigen war der Schaden unstreitig. Da die Beklagtenseite hierauf 6.652,53 Euro gezahlt hat, besteht kein klägerseitiger Anspruch mehr.
II.
Damit besteht auch kein Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
III.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 91 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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