Verkehrsrecht

Zurückverweisung wegen unterbliebener Parteianhörung eines Unfallbeteiligten

Aktenzeichen  10 U 972/16

Datum:
1.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO ZPO § 141 Abs. 1 S. 1, § 137 Abs. 4, § 538 Abs. 2S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Hat in einem Rechtsstreit, der zwischen Verkehrsunfallbeteiligten geführt wird und in dem der Unfallhergang streitig ist, der eine Unfallbeteiligte entsprechende Zeugen wie etwa seinen Beifahrer und der andere nicht, so ist die Anhörung des anderen Unfallbeteiligten oder die Anhörung beider Parteien geboten oder erforderlich, dass der andere Unfallbeteiligte als anwesende Partei gemäß § 137 Abs. 4 ZPO Gelegenheit zur Stellungnahme hatte. (redaktioneller Leitsatz)
Verletzt das erstinstanzliche Gericht seine Pflicht zur Beiziehung von Verkehrsunfallakten und zur persönlichen Anhörung der Unfallbeteiligten in Verkehrsunfallsachen, so kann darin ein schwerwiegender, eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO rechtfertigender Verfahrensfehler liegen (vgl. OLG Schleswig BeckRS 2008, 10977). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

11 O 1999/15 2016-02-03 Endurteil LGKEMPTEN LG Kempten

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin vom 03.03.2016 wird das Endurteil des LG Kempten vom 03.02.2016 (Az. 11 O 1999/15), soweit nicht die Klage wegen der 5 Prozentpunkte über dem jeweiligen Basiszinssatz übersteigenden Zinsansprüche abgewiesen wurde, samt dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Kempten zurückverwiesen.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG Kempten vorbehalten.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
I. Das Landgericht hat nicht frei von Verfahrensfehlern einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz verneint, weil es die Klägerin nicht zum Unfallgeschehen angehört hat. Die persönliche Anhörung (§ 141 I 1 ZPO) der Klägerin war vorliegend aus Sicht des Senats nicht entbehrlich. Streitig war, ob es zu einer Berührung der Fahrzeuge kam, die Klägerin behauptete dies, die Beklagte stellte eine solche unter Berufung auf die vorhandenen Stellungnahmen der Insassen ihres Fahrzeuges in Abrede. In Fällen, bei denen ein Unfallbeteiligter Zeugen (z. B. Beifahrer) hat, ist die Anhörung des anderen Unfallbeteiligten oder Gelegenheit zur Stellungnahme für die anwesende Partei nach § 137 IV ZPO (BVerfG NJW 2008, 2170; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 32. Aufl. 2011, § 448 Rz. 4) oder die Anhörung beider Parteien geboten, OLG Schleswig OLGR 2008, 314 = NJW-RR 2008, 1525 = MDR 2008, 684 (nur Ls.) = NZV 2009, 79; Senat, Urt. v. 13.02.2009 – 10 U 5411/08 (Juris = VRR 2009, 163 – Kurzwiedergabe); v. 05.02.2010 – 10 U 4091/09 (Juris) v. 13.11.2015, Az. 10 U 2226/15 OLG Frankfurt a.M. NJW-RR 2010, 1689 = NZV 2010, 623 (Juris, dort Rz. 18). Die Klägerin erschien zum Termin nicht, weil ihr ohne Angabe von Gründen mitgeteilt wurde, dass von der Anordnung ihres persönlichen Erscheinens bewusst abgesehen wurde (Bl. 24 d. A.) Die Begründung im Urteil, die Anordnung des persönlichen Erscheinens sei unterblieben, weil der Unfall mit Ausnahme der Berührung unstreitig sei, trägt die unterbliebene Anhörung vorliegend nicht. Für den Unfall gibt es keine „neutralen“ Zeugen. Die Klägerin hatte für ihre Behauptung einer Berührung anders als die Beklagte keine Zeugen (Fahrerin und Insassen). Die Klägerin hat auch behauptet, mit einem Gutachten könne geklärt werden, dass die an ihrem Fahrzeug noch vorhandenen Lackspuren von einem Bundeswehrfahrzeug Mercedes-Benz Wolf stammten und die Erholung eines Sachverständigengutachtens beantragt. Es lässt sich den Akten auch nicht entnehmen, dass seitens der Klägerin eine Einlassung erfolgen würde, die unglaubhaft oder technisch nicht möglich wäre. Daher wäre die Anhörung der Klägerin im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Parteianhörung in Fällen, in denen der Ablauf eines Verkehrsunfalls streitig ist (BGH NJW 2013, 2601 [2602 [10, 11]; OLG Schleswig NJW-RR 2008, 1525 Senat, Urt. v. 09.10.2009 – 10 U 2309/09 [juris, dort Rz. 23]) vorliegend zwingend geboten gewesen.
II. Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber – entgegen seiner sonstigen Praxis – aus folgenden Gründen dagegen entschieden:
1. Eine (erheblich) mangelhafte Beweiserhebung stellt einen Zurückweisungsgrund nach § 538 II 1 Nr. 1 ZPO dar (BGH NJW 1957, 714; OLG Köln VersR 1977, 577; 1997, 712; Senat, Urt. v. 14.7.2006 – 10 U 5624/05 (juris Rz. 33), st. Rspr., zuletzt etwa NJW 2011, 396 [398] und Urt. v.. 20.2.2015 – 10 U 1722/14 [juris Rz. 35]; OLG Bremen OLGR 2009, 352; OLG Hamm NJW 2014, 78 [83]; OLG Zweibrücken OLGR 2000, 221; OLG Köln NJW 2004, 521; OLG Bremen OLGR 2009, 352). Ein schwerwiegender Verfahrensfehler des erstinstanzlichen Gerichts kann darin liegen, dass es die Pflicht zur Beiziehung von Verkehrsunfallakten und zur persönlichen Anhörung der Unfallbeteiligten in Verkehrsunfallsachen verletzt hat (OLG Schleswig NJW-RR 2008, 1525; Senat, Urt. v. 9.10.2009 – 10 U 2309/09 [juris Rz. 23]). Hinzu kommt, dass die Beklagte 4 Zeugen benannt hat, dass es nicht zu einer Kollision gekommen sei (Klageerwiderung S. 2 = Bl. 12 d. A.; Berufungserwiderung S. 3 = Bl. 66 d. A.) und die Klägerin ihrerseits Beweis durch Sachverständigengutachten dafür angeboten hat, dass an ihrem Pkw Lackspuren eines Fahrzeugs vom Typ Wolf anhaften würden. Da es eine nicht eben lebensnahe Betrachtungsweise wäre, anzunehmen, die Spuren könnten auch aus einer anderen Kollision mit einem Bundeswehrfahrzeug Wolf stammen, erscheint sowohl die Einvernahme der Zeugen als auch die Erholung des Gutachtens unumgänglich. Zudem hat auch die Klägerin nunmehr (Berufungsbegründung S. 6 = Bl. 54 d. A.) die Einvernahme der 4 Zeugen für ihren Sachvortrag, dass es nämlich zu einer Berührung der Fahrzeuge kam, beantragt.
Eine Beweisaufnahme in dem vorstehend beschriebenen Umfang wäre umfangreich i. S. d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO und würde den Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren erstmaligen Beweisaufnahme an Stelle der 1. Instanz (Senat NJW 1972, 2048 [2049]; OLG Köln NJW 2004, 521; OLG Naumburg NJW-RR 2012, 1535 [1536]) zwingen.
2. Der durch die Zurückverweisung entstehende grundsätzliche Nachteil, dass eine gewisse Verzögerung und Verteuerung des Prozesses eintritt, muss hingenommen werden, wenn es darum geht, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen ist und dass den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge voll erhalten bleiben (Senat NJW 1972, 2048 [2049]; OLG Naumburg NJW-RR 2012, 1535 [1536]); eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist im Übrigen angesichts seiner Geschäftsbelastung vorliegend zu erwarten.
3. Die Frage der Zurückverweisung wurde auch in der mündlichen Verhandlung mit den Parteivertretern ausführlich erörtert. Beide Parteivertreter sind einer Zurückverweisung nicht entgegengetreten, seitens der Klagepartei wurde sie beantragt.
III. Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729).
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa. VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (Senat a. a. O.).
V. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.


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