Verwaltungsrecht

1 C 41/20, 1 C 41/20 (1 C 26/16)

Aktenzeichen  1 C 41/20, 1 C 41/20 (1 C 26/16)

Datum:
30.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C41.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Die Anwendung des § 46 VwVfG ist nur mit Art. 14 und Art. 34 RL 2013/32/EU vereinbar, sofern dem Ausländer im asylgerichtlichen Verfahren in einer die grundlegenden Bedingungen und Garantien im Sinne des Art. 15 RL 2013/32/EU wahrenden persönlichen Anhörung Gelegenheit gegeben worden ist, sämtliche gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen, und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens in der Sache keine andere Entscheidung ergehen kann (wie EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 [ECLI:EU:C:2020:579], Addis -). Gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass dem Ausländer diese Gelegenheit im asylgerichtlichen Verfahren nicht garantiert worden ist oder werden kann, hat es die Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17, Addis – Rn. 73).
2. Es ist in das weite, nur eingeschränkt nachprüfbare Verfahrensermessen des Tatsachengerichts gestellt, ob es entweder dem Bundesamt innerhalb des asylgerichtlichen Verfahrens aufgibt, den Kläger persönlich anzuhören, eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung der angegriffenen Entscheidung zu treffen und diese in das Verfahren einzuführen, oder die persönliche Anhörung des Klägers selbst nachholt oder den angegriffenen Bescheid des Bundesamts aufhebt und dem Bundesamt dadurch Gelegenheit gibt, nach Durchführung einer persönlichen Anhörung im Verwaltungsverfahren eine neuerliche Entscheidung über den Asylantrag zu treffen.
3. Übt das Gericht sein Ermessen dahingehend aus, die persönliche Anhörung des Klägers selbst vorzunehmen, so hat es diese Anhörung insbesondere gemäß Art. 15 Abs. 2 RL 2013/32/EU unter Bedingungen durchzuführen, die eine angemessene Vertraulichkeit nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich gewährleisten.
4. Die Tatsache einer gesonderten persönlichen Anhörung und der Umstand, dass diese unter Beachtung der grundlegenden Bedingungen und Garantien des Art. 15 RL 2013/32/EU durchgeführt worden ist, ist in der Sitzungs- bzw. Terminsniederschrift ausdrücklich festzuhalten.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 19. Mai 2016, Az: 13 A 1490/13.A, Urteilvorgehend VG Minden, 15. April 2013, Az: 10 K 1095/13.A, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 15. April 2013, soweit es nicht bereits aufgehoben ist, sowie das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Mai 2016 geändert. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge der Beklagten vom 18. Februar 2013 wird auch zu Ziffer 1 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Instanzen.

Tatbestand

1
Der Kläger, dem unter anderen Personalien in Italien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und ein bis Februar 2015 gültiger Reiseausweis für Flüchtlinge ausgestellt worden war, wendet sich gegen die ohne vorherige persönliche Anhörung mit Bescheid vom 18. Februar 2013 getroffene Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), ihm stehe aufgrund der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zu.
2
Das Verwaltungsgericht hat die gegen diesen Bescheid erhobene Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die seitens des Bundesamts zugleich verfügte Abschiebungsanordnung nach Italien aufgehoben, die Berufung des Klägers im Übrigen aber zurückgewiesen. Die Feststellung sei rechtmäßig, weil dieser aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG in das Bundesgebiet eingereist sei. In Italien drohe ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK.
3
Auf die Revision des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht zur Klärung unter anderem der Frage der Vereinbarkeit der Unbeachtlichkeit des Unterbleibens einer persönlichen Anhörung mit der Richtlinie 2013/32/EU ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet. Auf dieses Ersuchen hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Art. 14 und 34 RL 2013/32/EU dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Verletzung der Pflicht, der Person, die internationalen Schutz beantragt, vor dem Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben, nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Asylbehörde führt, es sei denn, diese Regelung ermöglicht es dem Antragsteller, im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens in einer die gemäß Art. 15 RL 2013/32/EU geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien wahrenden Anhörung persönlich alle gegen die Entscheidung sprechenden Umstände vorzutragen, und trotz dieses Vorbringens kann keine andere Entscheidung ergehen.
4
Zur Begründung seiner Revision rügt der Kläger, das Bundesamt habe nicht von einer persönlichen Anhörung absehen dürfen. § 46 VwVfG finde keine Anwendung. Die Vertraulichkeit einer persönlichen Anhörung sei in der mündlichen Verhandlung infolge des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht zu gewährleisten. Im Übrigen sei seine Situation in Italien weder vor dem Verwaltungs- noch vor dem Oberverwaltungsgericht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Dessen ungeachtet sei die angegriffene Entscheidung auch infolge des Übergangs der Verantwortung nach dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (EATRR) aufzuheben. Ein solcher Übergang dürfe nicht dazu führen, dass ihm im Bundesgebiet nur ein Flüchtlingsstatus zweiter Klasse zuteilwerde.
5
Die Beklagte ist der Auffassung, der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig. Die Nachholung der Anhörung des Klägers im Rechtsbehelfsverfahren sei garantiert. Die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung stehe dem Gebot der Vertraulichkeit der Umstände der Anhörung nicht entgegen. Das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 werde von den Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems überlagert. Dessen ungeachtet stehe der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ein allenfalls auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 EATRR in Betracht zu nehmender Übergang der Verantwortung nicht entgegen. Für eine Zweitprüfung des Asylbegehrens bestehe gerade auch mit Blick auf die in den Art. 5 und 6 EATRR vorgesehenen Rechtsfolgen eines Verantwortungsübergangs kein Bedarf. Dies stelle auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG klar.
6
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat mitgeteilt, sich an dem Verfahren nicht zu beteiligen.


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