Verwaltungsrecht

Abschiebung, Einreise, Bescheid, Bundesamt, Aufenthaltsverbot, Prozesskostenhilfe, Herkunftsland, Asylanerkennung, Lebensunterhalt, Ausreise, Migration, Asylberechtigter, Abschiebungsverbote, Einkommen, Furcht vor Verfolgung, Anerkennung als Asylberechtigter, Art und Weise

Aktenzeichen  Au 8 K 20.30506

Datum:
13.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40211
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfah-rens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. November 2020 konnte entschieden werden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten am Verhandlungstermin teilgenommen hat. Die Beklagte wurde nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf diese Möglichkeit hingewiesen.
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beziehungsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes oder auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz VwGO). Es wird Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kur den haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6).
c) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur PKK hat der Kläger nicht zu befürchten.
Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020, S. 6, 10 f. – im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um eine kurdische Autonomie (zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 16 ff. m.w.N.) erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 nach – der PKK zugeschriebenen – Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte erhebliche Opfer auf beiden Seiten sowie unter Zivilisten, darunter allein in Cizre ca. 280 Personen (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; AI, Auskunft an das VG Ansbach vom 6.8.2020, S. 1 ff.). Die seitens der Türkei der PKK zugerechnete YDGH war dabei im Südosten der Türkei u.a. in Gaziantep, Cizre und Nusaybin aktiv und in Kämpfe verwickelt (AI, Auskunft an das VG Ansbach vom 6.8.2020, S. 1 f.). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2; weitere Daten bei AI, Auskunft an das VG Ansbach vom 6.8.2020, S. 1; dazu auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 2 ff.). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2). Mittlerweile hat die Intensität der Kämpfe auf türkischem Territorium seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen, während sie sich auf syrischem Gebiet durch den türkischen Einmarsch verschärften (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 17). Es sollen noch zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Zivilisten aus den von den Ausgangssperren betroffenen Städten anhängig sein, wenn diese ihren Wohnort nicht verlassen hätten und deswegen als Unterstützer der PKK bzw. YDGH angesehen würden (AI, Auskunft an das VG Ansbach vom 6.8.2020, S. 3).
Gefangene und verwundete Kämpfer der PKK werden in staatlichen Krankenhäusern behandelt und 24 Stunden von Polizisten oder Personal der türkischen Streitkräfte bewacht; eine Flucht aus dem Krankenhauszimmer ist daher sehr schwierig, aber im Einzelfall nicht ausgeschlossen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.8.2019 an das VG Augsburg zu Frage 4).
Bei einer Verurteilung wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ greifen Art. 5 i.V.m. Art. 314 Abs. 2 TStGB und beträgt das Strafmaß 5 bis 10 Jahre Freiheitsstrafe; häufig werde in der Türkei die Mindeststrafe angewandt, so dass es oftmals zu einer Gesamtstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten mit Erhöhung um die Hälfte wegen der Begehung einer Terrorstraftat kommt. „Sachbeschädigung“ wird nach Art. 151 tStGB mit 4 Monaten bis zu 3 Jahren Freiheitsstrafe geahndet; bei Tatbegehung durch Brandstiftung werde die Haftstrafe nach Art. 152 tStGB bis auf das doppelte erhöht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.8.2019 an das VG Augsburg zu Frage 6b).
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 88).
Der Kläger hat vorgetragen, mit … verwandt zu sein, der ihn im Jahr 2015 oder 2016 zuhause besucht habe. Nach seiner Abreise hätten sich AKP- und MHP-Anhänger aus der Nachbarschaft vor dem Haus des Klägers versammelt, ihn beschimpft und bedroht. Es sei zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gekommen, in der der Kläger einen der Angreifer mit einem Messer verletzt habe. Im Anschluss an diesen Vorfall sei der Kläger verhaftet und u.a. wegen Unterstützung einer Terrororganisation zu über vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Diesem Vortrag vermag die Einzelrichterin keinen Glauben zu schenken. Höchst zweifelhaft ist bereits, ob der Kläger tatsächlich mit … verwandt ist. Er gab an, … sei der Cousin seiner Mutter. Auf Frage der Einzelrichterin, wie die Eltern von … heißen, antwortete der Kläger „… und …“. In Wahrheit heißt der Vater jedoch, die Mutter … (vgl. … abgerufen am 13.11.2020). Der Name von … Ehefrau war dem Kläger ebenfalls nicht bekannt, was angesichts des behaupteten Verwandtschaftsverhältnisses zumindest verwunderlich ist. Selbst wenn der Kläger aber mit … verwandt sein sollte, ist nicht glaubhaft, dass dieser ihn zuhause besucht hat. Bereits hinsichtlich des Zeitpunkts dieses für das weitere Verfolgungsschicksal des Klägers so wesentlichen Besuchs war der Vortrag des Klägers widersprüchlich. So gab er vor dem Bundesamt an, … sei im August 2015 in … gewesen und habe ihn während dieses Aufenthalts besucht. In der mündlichen Verhandlung gab er demgegenüber das Jahr 2016 an. Auf diesbezüglichen Vorhalt trug er schließlich vor, sich nicht mehr genau erinnern zu können. Er denke aber, der Besuch habe Ende 2015 oder Anfang 2016 stattgefunden. Auch dann ergibt sich aber eine zeitliche Abweichung zum Vortrag vor dem Bundesamt um mehrere Monate. Völlig unglaubhaft ist auch der weitere Vortrag des Klägers, aufgrund der Messerstecherei im Anschluss an den behaupteten Besuch … strafrechtlich verurteilt worden zu sein. Ein entsprechendes Urteil konnte der Kläger nicht vorlegen. In widersprüchlicher Art und Weise trug er hierzu beim Bundesamt vor, er habe das Urteil zuhause gehabt, habe es aber nicht mitnehmen können, wohingegen er vor Gericht angab, nie ein Urteil erhalten zu haben. Das bereits beim Bundesamt vorgelegte, vom Kläger als „Suchbefehl“ bezeichnete Dokument vom 14. März 2019 vermag das Vorbringen des Klägers nicht zu stützen, da sich der Kläger auch in Bezug auf dieses in massivste Widersprüche verstrickt hat. So gab er beim Bundesamt an, das Haus nicht mehr verlassen zu haben, nachdem er den „Suchbefehl“ erhalten habe. Er habe sich an unterschiedlichen Adressen aufgehalten, dann sei er nach Istanbul gegangen und von dort ausgereist. Den „Suchbefehl“ habe seine Frau aus der Türkei mitgenommen. In der mündlichen Verhandlung trug er demgegenüber vor, von dem „Suchbefehl“ erst in Deutschland erfahren zu haben. Dieser sei nach seiner Ausreise an seine Wohnadresse in … geschickt worden. Diesen Widerspruch versuchte der Kläger auf Vorhalt damit zu erklären, dass die Verständigung mit dem Dolmetscher beim Bundesamt schlecht gewesen sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Kläger auf dem Kontrollbogen zur Anhörung mit seiner Unterschrift bestätigt hat, dass es bei der Anhörung auf Türkisch keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben hat und das rückübersetzte Protokoll seinen Angaben entspricht (Bundesamtsakte Bl. 143). Zudem weichen die Angaben des Klägers vor dem Bundesamt so stark von denen in der mündlichen Verhandlung ab, dass nicht von einem bloßen Übersetzungsfehler ausgegangen werden kann. Auch der auf diesbezüglichen Vorhalt erfolgte weitere Erklärungsversuch des Klägers, sich nun daran zu erinnern, dass seine Mutter ihn per Telefon über den „Suchbefehl“ informiert habe, als er bereits in Istanbul gewesen sei, wirkt vorschoben und überzeugt nicht. Diese Variante ist außerdem genauso wenig mit dem Vortrag vor dem Bundesamt in Übereinstimmung zu bringen, wo er angegeben hatte, nach Erhalt des „Suchbefehls“ an verschiedene Orte und schließlich nach Istanbul gegangen zu sein. Weiter gab der Kläger auf Frage der Einzelrichterin, wie er den „Suchbefehl“ erhalten habe, in der mündlichen Verhandlung an, seine Mutter habe seiner Frau über den Erhalt des „Suchbefehls“ Bescheid gegeben. Diese habe daraufhin mit in … lebenden Verwandten gesprochen, die den „Suchbefehl“ nach Deutschland mitgenommen und dem Kläger per Post zugeschickt hätten. Warum er beim Bundesamt dagegen vorgetragen hatte, seine Frau habe ihn aus der Türkei mitgenommen, erschließt sich nicht. Mit den Angaben des Klägers sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung nicht in Einklang zu bringen ist der Vortrag der Frau des Klägers im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt. Sie gab auf ausdrückliche Nachfrage, ob sie etwas mit der Beschaffung des Dokuments zu tun gehabt habe, an, dass das nicht der Fall sei und sie nichts davon gewusst habe. Auch der Erklärungsversuch des Klägers, seine Frau habe möglicherweise die Unwahrheit gesagt, da sie ihn in Deutschland strafrechtlich angezeigt habe, kann nicht überzeugen. Die Frau des Klägers bezieht sich in ihren Asylgründen gerade auf die des Klägers. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum sie dem Kläger insoweit in den Rücken fallen sollte. Weitere Unterlagen, die seine angebliche Verurteilung wegen Unterstützung einer Terrororganisation stützen könnten, hat der Kläger nicht vorgelegt. Insbesondere konnte er seinen Vortrag auch nicht durch Nachweise über e-Devlet oder UYAP untermauern.
Auch soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung eine „Ladung zum Haftantritt“ vom 10. Januar 2020 vorlegte, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Laut der sinngemäßen Übersetzung der anwesenden Dolmetscherin ist in diesem Dokument ein Urteil des 2. Strafgerichts … über eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten genannt. Der Kläger trug hierzu vor, Grund für diese Verurteilung seien bei Hausdurchsuchungen gefundene Fotos und kurdische Flaggen gewesen. Dieser Tatvorwurf lässt sich dem in der mündlichen Verhandlung sinngemäß übersetzten Dokument jedoch nicht entnehmen. Ein entsprechendes Urteil, dass seine Behauptung stützen könnte, hat der Kläger nicht vorgelegt. Auffällig ist des Weiteren, dass er beim Bundesamt mit keinem Wort erwähnte, dass es neben dem angeblichen Strafverfahren aufgrund der Messerstecherei zu einem weiteren Strafverfahren wegen der Fotos und Flaggen gekommen wäre. Seine diesbezüglichen Ausführungen betrafen lediglich die angebliche Verurteilung zu der vierjährigen Haftstrafe. Eine politisch motivierte Verurteilung wegen der genannten Fotos und Flaggen hat er damit nicht glaubhaft gemacht.
d) Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur HDP.
Der nun gewaltsam ausgetragene Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertre tung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Abgeordnete mehrerer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung im Juli 2016 betroffen, besonders auch die linkskurdische Partei „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Für die türkische Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Befriedungsprozess; sie zog in der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1% der Stimmen erstmals als Partei ins Parlament ein, nachdem sie zuvor durch unabhängige Kandidaten vertreten gewesen war. In der Parlamentswahl am 1. November 2015 gelang ihr mit 10,8% der Stimmen ebenso die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament wie in der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 mit 11,7% der Stimmen und dies trotz Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020, S. 6, 10 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 65). Im Zuge von Anklagen wegen angeblicher Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze verloren 57 der damals 59 HDP-Parlamentsabgeordneten zunächst ihre Immunität und nach rechtskräftiger Verurteilung verloren neun Abgeordnete der HDP auch ihr Parlamentsmandat (Lagebericht ebenda S. 6, 11). Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP und von deren Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete wurden 93 gewählte Kommunalverwaltungen überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, GülenBewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhändler ersetzt (Lagebericht ebenda S. 10). Teilen der Basis der HDP werden Verbindungen zur PKK nachgesagt sowie zu deren politischer Dachorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), welcher von türkischen Behörden unterstellt wird, von der PKK dominierte quasistaatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen (Lagebericht ebenda S. 10). Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK trifft daher teilweise auch Mitglieder der HDP/DBP, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger unter dem Vorwurf, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Bei mehreren Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert; geschätzt ca. 5.000 Funktionäre und Mitglieder der HDP befanden sich im Frühjahr 2020 in Haft, auch wegen kritischer öffentlicher Äußerungen gegen den Militäreinsatz in Afrin (Lagebericht ebenda S. 6, 10). Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 überwand die HDP mit 11,7% der Stimmen erneut die Zehnprozenthürde (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Der Druck auf die HDP dauert an; so wurden die der HDP angehörenden Bürgermeister von Diyarbakir, Mardin und Van im Südosten der Türkei am 19. August 2019 ihrer Ämter enthoben; gegen sie wird wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 50).
Das Gericht ist nach dem Vortrag des Klägers beim Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung aus folgenden Gründen davon überzeugt, dass der Kläger nicht aufgrund seiner HDP-Mitgliedschaft in den Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden geraten ist und ihm heute bei einer Rückkehr keine landesweite Verfolgung droht:
Der Kläger gibt an, Mitglied der HDP gewesen zu sein. Er habe an Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen teilgenommen. Im Rahmen der Vorbereitungen zu den Kommunalwahlen habe er Plakate aufgehängt, mit Geschäftsleuten gesprochen und Stimmen in der Bevölkerung gesammelt. Hieraus wird aber keine exponierte Tätigkeit, mit der er sich aus der Masse der HDP-Sympathisanten und einfachen Mitglieder hervorgehoben haben sollte und in den Fokus des Staates hätte gelangen können, ersichtlich. Da ein landesweites Verfolgungsgeschehen somit nicht hinreichend glaubhaft ist, ist die Vermutung für die inländische Fluchtalternative in der Westtürkei hier nicht widerlegt.
e) Soweit der Kläger vorbringt, von Privatpersonen schriftlich und am Telefon bedroht worden zu sein, stellt dies bereits keine staatliche Verfolgung dar. Insoweit ist der Kläger auf internen Schutz zu verweisen. Der türkische Staat ist bei kriminellem Unrecht grundsätzlich schutzwillig und schutzfähig. Hier gilt, dass der Schutz vor Verfolgung wirksam sein muss und nicht nur vorübergehender Art sein darf. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, insbesondere durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. § 3d Abs. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Zwar verkennt das Gericht nicht, dass die türkische Regierung seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen hat (vgl. Lagebericht vom 14.6.2019, S. 5). Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat kriminelles Unrecht insbesondere durch AKP- oder MHP-Anhänger in jüngster Zeit duldet und deckt oder sogar mit ihnen zusammenarbeitet, liegen nach Auswertung der Erkenntnismittel aber nicht vor. Gegenteiliges hat der Kläger auch nicht substantiiert aufgezeigt. Ein lückenloser Schutz kann nicht gewährt werden, auch nicht in Deutschland von deutschen Behörden.
f) Für den Kläger besteht im Übrigen die von der Beklagten zutreffend geltend ge machte inländische Fluchtalternative in der Westtürkei. Hierzu wird auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen und ergänzend ausgeführt:
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft wegen einer inländischen Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Der Kläger kann nach Überzeugung des Gerichts in einem Teil seines Herkunftslandes – in der Westtürkei – ohne begründete Furcht vor Verfolgung leben. Nach dem oben Ausgeführten ist kein landesweites Verfolgungsinteresse des Staates glaubhaft gemacht. Hierzu wird auf die Ausführungen oben verwiesen.
Dem Kläger ist die Fluchtalternative auch wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht erst recht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage dort (dazu sogleich zu § 60 Abs. 5 AufenthG). Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in der Westtürkei durch einfache Arbeiten sicherstellen kann. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich dort aufhält und seinen Lebensunterhalt dort sicherstellt. Es ist zu erwarten, dass der Kläger als arbeitsfähiger Mann auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäre bzw. sonstige Kontakte dort seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S.
des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020, S. 19 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor. In der Person des Klägers liegt nach seinem Vorbringen kein ein Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor (vgl. Ziff. 1). Zudem ist der Kläger auf eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG zu verweisen (s. Ziff. 1 Buchst. f).
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen eben falls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, so weit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 28.1.2020 – Au 6 K 17.35104 – juris Rn. 62 f. m.w.N.).
Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden (vgl. VG Augsburg, U.v. 28.1.2020 – Au 6 K 17.35104 – juris Rn. 65 ff. m.w.N.).
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers ebenfalls nicht vor.
4. Ermessensfehler des Bundesamtes bei der Entscheidung über die Frist des § 11 Abs. 1 AufenthG sind nicht ersichtlich. Die Abschiebungsandrohung beruht auf § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG.
5. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuwei sen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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