Verwaltungsrecht

Abschiebung in den Irak eines Straftäters

Aktenzeichen  10 ZB 20.2215

Datum:
5.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32685
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4, § 152
AufenthG § 53 Abs. 1, 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, § 55
GKG § 47 Abs. 1, Abs. 3, § 52 Abs. 2, § 63 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Die mehrfache Begehung schwerwiegender Straftaten und das Missachten und Geringschätzen anderweitiger Rechtsgüter begründet ein schwerwiegendes Interesse der Gesellschaft an der Ausweisung des aus dem Irak stammenden Ausländers.   (Rn. 5 – 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 4 K 17.4235 2020-07-01 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein 1994 geborener irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischen Glaubens, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18. August 2017 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung in den Irak angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben (unter der Bedingung der Straffreiheit) bzw. neun Jahre befristet wurde.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die weiter geltend gemachten Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) sowie eines der Beurteilung des Senats unterliegenden Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Solche Zweifel bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Zur Begründung seines Zulassungsantrags macht der Kläger unter ausführlicher Darstellung seiner „Lebensumstände“ und bisherigen „Straffälligkeit“ im Wesentlichen geltend, bei ihm bestehe keine Wiederholungsgefahr, vielmehr stelle sich (auch) die Anlassstraftat vom 30. April 2016 als jugendtypische Verfehlung dar, bei der seine Steuerungsfähigkeit zudem erheblich eingeschränkt gewesen sei. Er sei kein Serientäter. Durch die Anlasstat seien keine nachhaltigen Schäden bei den Betroffenen verursacht worden. Die von ihm weggenommene Schnapsflasche habe er „als gefährlichen Gegenstand aus einer gefährlichen Situation“ herausgenommen; dabei sei er auch nicht planmäßig vorgegangen, weshalb ihm keine kriminelle Energie attestiert werden könne. Die Anlasstat sei nicht für eine Generalprävention geeignet. Seine Verfehlungen würden angesichts der inzwischen eingetretenen Reifung in den Hintergrund treten. Zudem überwiege sein Bleibeinteresse das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung. Insoweit sei neben der fehlenden Wiederholungsgefahr und einem positiven Vollzugsverhaltens zu berücksichtigen, dass bei ihm ein charakterlicher Reifeprozess eingetreten sei, er sich aus seinem kriminellen Umfeld gelöst und eine bürgerliche Existenz als Friseur geplant habe, eine erfolgreiche schulische und berufliche Integration und ein guter sozialer Empfangsraum durch seine Familie bestünden, er andererseits weder Verwandte noch Besitz im Irak habe und auch keine ausreichenden Kenntnisse der arabischen Sprache besitze.
Mit diesem Vorbringen kann er die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch nicht durchgreifend in Zweifel ziehen.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der weitere Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG gefährde, weil von ihm nach wie vor die Gefahr der Begehung schwerer Straftaten ausgehe. Es hat in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass der bereits zuvor mehrfach unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung jugendstrafrechtlich verurteilte Kläger, der zuletzt mit Urteil des Landgerichts München I vom 19. Dezember 2016 rechtskräftig wegen schweren Raubs in einem minder schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist, in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht seine Straftaten bzw. Tatbeiträge erneut stark zu relativieren versucht habe. Die von ihm begangenen Körperverletzungsdelikte bewiesen jedoch ein nicht unerhebliches Ausmaß an Gewalt und eine erhöhte Gefährlichkeit. Auch durch sein sonstiges Verhalten zeige der Kläger, dass er gesetzliche Regeln und behördliche Anordnungen, wie beispielsweise seine aufenthaltsrechtliche Wohnsitzverpflichtung in einer Gemeinschaftsunterkunft oder Verbote während der Corona-Pandemie, missachte und die Rechtsordnung bzw. anderweitige Rechtsgüter geringschätze. Positiven Prognosen bzw. Beurteilungen des Klägers im Rahmen eines forensisch-psychologischen Gutachtens für die zuständige Strafvollstreckungskammer sowie im Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 1. April 2019 (Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung) folge die Kammer ausdrücklich nicht, weil grundlegende Annahmen bezüglich eines geordneten sozialen Empfangsraums und einer familiären/sozialen Kontrolle auch im Rahmen einer geregelten Arbeit im Friseursalon des Onkels sich als nicht zutreffend erwiesen hätten, der Kläger sich auch weiterhin in seinem alten „falschen“ Freundeskreis bewege, seine Straftaten weiterhin verharmlose und gegen ihn seit Haftentlassung bereits vier polizeiliche Ermittlungsverfahren (wegen einer ausländerrechtlichen Straftat und drei Ordnungswidrigkeiten) durchgeführt worden seien.
Das tatbezogene Zulassungsvorbringen des Klägers stellt demgegenüber letztlich nur eine Wiederholung seiner schon zuvor verharmlosenden bzw. bagatellisierenden Einlassungen zu den (Gewalt-)Straftaten dar, ohne auf die detaillierten und überzeugenden spezialpräventiven Erwägungen des Verwaltungsgerichts substantiiert einzugehen. Dass der Kläger die angeführte Schnapsflasche bei der Anlasstat als Drohmittel und im Sinne des § 250 Abs. 2 StGB „gefährliches Werkzeug“ verwendet und in Interaktion mit seinem Mittäter auch aktiv konkret an dem gemeinsamen, spontan gefassten Tatplan mitgewirkt hat, hat bereits das Strafgericht unter Zurückweisung gegensätzlicher Angaben des Klägers in seinem Urteil vom 19. Dezember 2016 festgestellt. Auch wenn bei den einschlägigen Vorverurteilungen des Klägers jeweils Jugendstrafrecht zur Anwendung gekommen ist, haben das Strafgericht und ihm folgend die Beklagte und das Verwaltungsgericht zu seinen Lasten ohne Rechtsfehler berücksichtigt, dass bereits drei Ahndungen wegen einschlägiger Taten – gefährliche Körperverletzung – erfolgt waren und der Kläger deswegen schon Arreste verbüßt hat. Auf generalpräventive Ausweisungsgründe hat das Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung im Übrigen nicht ausdrücklich abgestellt.
Das Verwaltungsgericht hat bei der gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls weiter zu Recht festgestellt, dass das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass einem vertypten besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1, 1a AufenthG und schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8a und 9 AufenthG kein gesetzlich normiertes gleichgewichtiges Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 AufenthG gegenübersteht. Das Erstgericht hat auch nicht verkannt, dass der Kläger – wie seine engere und weitere Familie – inzwischen längere Zeit (elf Jahre) in Deutschland lebt, über deutsche Sprachkenntnisse verfügt und eine Ausbildung als Friseur abgeschlossen hat. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die berufliche und soziale Integration des Klägers in Deutschland bisher letztlich nicht gelungen ist und dass den durch diese Straftaten bedrohten Rechtsgütern, insbesondere der körperlichen Unversehrtheit der betroffenen Opfer, besonderes Gewicht im Rahmen der Interessenabwägung zukommt. Die vom Kläger geltend gemachte Nachreifung hat es mit Blick auf seine Straftaten, ihre anhaltende Bagatellisierung und den nach wie vor bestehenden kriminellen Freundeskreis nachvollziehbar und schlüssig verneint; glaubhafte Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger – wie er geltend macht – seine Einstellung tatsächlich positiv verändert und eine Distanzierung zu den Straftaten und seinen Mittätern vollzogen hat, sind auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens für den Senat nicht ersichtlich. Ebenso hat es das Verwaltungsgericht zu Recht als zumutbar angesehen, dass sich der Kläger, der die ersten 13 Lebensjahre im Irak verbracht und dort zur Schule gegangen ist, in seinem Herkunftsstaat eine neue Existenz aufbaut; den Einwand mangelnder Sprachkenntnisse hat es fehlerfrei als unrealistisch zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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