Verwaltungsrecht

Abschiebung nach Italien – Unklarheit über anderweitige Zuständigkeit nach dem Dublin-Verfahren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren

Aktenzeichen  W 10 S 18.50498

Datum:
9.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 38262
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 2, § 34a, § 77 Abs. 2, § 80, § 83b
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Art. 2 lit. c, lit. f, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1, Art. 20 ff.
EMRK Art. 3
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1, § 113 Abs. 1 S. 1, § 154 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Im Falle der internationalen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union muss eine Abschiebungsandrohung gemäß § 35 AsylG ergehen und keine Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylG (vgl. u.a. SächsOVG BeckRS 2018, 16072).  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bedarf es weiterer Sachverhaltsaufklärung und Erkenntnisgewinnung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens, ob internationaler Schutz in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits zuerkannt wurde, überwiegt in Anbetracht der Folgen einer rechtswidrigen Vollziehung der Abschiebung in diesen Mitgliedstaat das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an einem Vollzug des angefochtenen Bescheids.   (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (W 10 K 18.50497) gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 10. Oktober 2018 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer von der Antragsgegnerin erlassenen Abschiebungsanordnung nach Italien.
1. Die Antragsteller sind nigerianische Staatsangehörige, dem Volk der Edo zugehörig und protestantischen Glaubens. Sie reisten eigenen Angaben zufolge am 1. September 2018 in das Bundesgebiet ein und stellten am 11. November 2018 beim Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen des Bundesamts lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Am 25. September 2018 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Italien, auf das die italienischen Behörden nicht reagierten.
Mit Bescheid vom 10. Oktober 2018, den Antragstellern zugestellt am 12. Oktober 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 2) und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an (Ziffer 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 des Asylgesetzes (AsylG) unzulässig, da Italien aufgrund der dort gestellten Asylanträge gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Sollten die Antragsteller entgegen der bisherigen Erkenntnislage in einem anderen europäischen Staat internationalen Schutz erhalten haben, bleibe es gleichwohl bei der Unzulässigkeit der Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG lägen nach Erkenntnissen des Bundesamts nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorläge, da die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab nicht erfüllt seien. Ebenso fehlten Gründe für eine Annahme, dass bei Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 4 EU-Grundrechtecharta vorläge. Weiterhin bestünden in Italien keine systemischen Mängel, welche die Sicherheitsvermutung widerlegen würden. Die dortigen Aufnahmeeinrichtungen entsprächen internationalen Standards, ein Zugang zum Asylverfahren, zu medizinischer Versorgung sowie juristischer Unterstützung sei gewährleistet. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, seien nicht ersichtlich. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen im Bescheid vom 10. Oktober 2018 Bezug genommen.
2. Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 19. Oktober 2018, bei Gericht am selben Tag eingegangen, ließen die Antragsteller gegen diesen Bescheid Klage erheben (W 10 K 18.50497) und zugleich beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien in Ziffer 3 des Bescheids anzuordnen.
In der Antragsbegründung führen die Antragsteller unter Bezugnahme auf die Anhörung beim Bundesamt aus, sie seien in Italien anerkannt worden, weswegen die Dublin III-Verordnung nicht anwendbar sei.
Wegen der Ausführungen der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt, die Akten im Verfahren W 10 K 18.50497, die beigezogenen Behördenakten sowie auf die Sachverhaltsdarstellung im angefochtenen Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
II.
Der zulässige, insbesondere fristgerecht gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist auch begründet.
1. Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs anordnen. Eine Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG entfaltet von Gesetzes wegen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung.
2. Der Antrag ist begründet. Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Anordnung bzw. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei das Aussetzungsinteresse der Antragsteller und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gegeneinander abzuwägen (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 80 Rn. 152; Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 89). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben wird; ergibt eine vorläufige Überprüfung der Hauptsacheklage dagegen, dass diese offensichtlich erfolgreich sein wird, so überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse der Antragsteller. Sind die Erfolgsaussichten offen, so ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 90 ff.).
Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung zu Gunsten der Antragsteller aus. Es ist nach der hier gebotenen summarischen Prüfung jedenfalls offen, ob sich der angegriffene Bescheid in der Ziffer 3 als rechtswidrig erweist und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Abwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Absatz 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Vorliegend ist jedoch offen, ob die gestellten Asylanträge der Antragsteller nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig sind, eine Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens gegeben ist und eine daraus resultierende Wiederaufnahmepflicht Italiens nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO besteht.
Die Antragstellerin zu 1) gab im Rahmen ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags an, am 30. Dezember 2016 in Italien einen Asylantrag gestellt zu haben. Über diesen Asylantrag sei entschieden worden und sie habe einen Aufenthaltstitel für zwei Jahre bekommen (vgl. Seite 94, 95 der Behördenakte). Das Bundesamt richtete daraufhin ein Wiederaufnahmegesuch an Italien, worauf aber keine Antwort Italiens erfolgte. Aufgrund dieses Sachverhalts ist zweifelhaft, ob den Antragstellern bereits in Italien internationaler Schutz gewährt wurde.
Die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus oder des subsidiären Schutzes in Italien hat ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts der Art. 18 Abs. 1 Buchst. a bis d und Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO zur Folge, dass die Vorschriften der Art. 20 ff. Dublin III-VO nicht anwendbar sind und der anerkennende Mitgliedstaat nicht zur Wiederaufnahme des Schutzberechtigten verpflichtet ist. Nach den Vorschriften der Dublin III-VO können nur noch nicht entschiedene oder negativ entschiedene Anträge die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates auslösen (vgl. EuGH, B.v. 5.4.2017 – C-36/17, NVwZ 2017, 1610 Rn. 41; Bergmann/Dienelt, AsylG, 12. Auflage 2018, § 29 Rn. 25).
Gemäß Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO wird das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Nach der Legaldefinition des Art. 2 Buchst. c Dublin III-VO ist Antragsteller ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde. Wird dem ursprünglichen Antragsteller dagegen die Rechtsstellung eines international Schutzberechtigten zuerkannt, handelt es sich nunmehr gemäß Art. 2 Buchst. f Dublin III-VO um einen Begünstigten internationalen Schutzes, auf den die Dublin III-VO keine Anwendung findet. Wenn Italien allerdings nicht zur Wiederaufnahme nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet ist, kann auch keine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG ergehen.
Zwar führt die Antragsgegnerin zutreffend aus, dass im Falle der internationalen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ein Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist (vgl. S. 2 der Bescheidausfertigung). Gleichwohl hätte dann keine Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylG, sondern eine Abschiebungsandrohung gemäß § 35 AsylG ergehen müssen (vgl. VG Würzburg, B.v. 18.4.2018 – W 4 S 18.50123 -; SächsOVG, B.v. 31.5.2017 – 5 B 19/17A. – juris). An eben einer solchen würde es vorliegend aber fehlen. Abschiebungsanordnung und -androhung stellen unterschiedliche Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung dar, die nicht teilidentisch sind. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung weder eine spezielle Form der Abschiebungsandrohung, noch ist letztere als Minus in einer Abschiebungsanordnung enthalten (vgl. Bergmann/Dienelt, AsylG, 12. Auflage 2018, § 35 Rn. 5; BVerwG, B.v. 23.10.2015 – 1 B 41.15 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Um beurteilen zu können, ob die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids rechtswidrig ist, bedarf es daher weiterer Sachverhaltsaufklärung und Erkenntnisgewinnung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens, ob den Antragstellern bereits in Italien internationaler Schutz zuerkannt wurde (vgl. dazu auch BVerwG, U.v. 21.11.2017 – 1 C 39/16 – juris). Auf dieser Grundlage überwiegt in Anbetracht der Folgen einer rechtswidrigen Vollziehung der Abschiebung nach Italien das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an einem Vollzug des angefochtenen Bescheids.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung war daher anzuordnen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Absatz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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