Verwaltungsrecht

Abschiebungsandrohung im Drittstaatenbescheid

Aktenzeichen  AN 17 S 19.50717

Datum:
14.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 16686
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 24 Abs. 1 S. 1, § 25 Abs. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34, § 35, § 76 Abs. 4 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5, § 88, § 122 Abs. 1, § 154 Abs. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Ein Abschiebungsverbot kann vorliegen, wenn die zuständige Ausländerbehörde nicht geklärt hat, ob der betroffene Ausländer dem Personenkreis der vulnerablen Personen zuzurechnen ist, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. (Rn. 14 – 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juli 2019 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Dem Antragsteller wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt … … zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwaltes bewilligt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung nach Gr., die im Zuge eines Drittstaatenbescheides erlassen wurde.
Der 1977 in Sy. geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger mit arabischer Volkszugehörigkeit. Im behördlichen Verfahren hat der Antragsteller einen auf ihn ausgestellten Personalausweis und einen Führerschein sowie ein Militärbuch in Kopie und eine Heiratsurkunde im Original vorgelegt.
Die Ermittlungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ergaben, dass dem Antragsteller bereits am 16. Juli 2018 internationaler Schutz in Gr. gewährt wurde (EURODAC-Treffer der Kategorie 1), wobei der Antragsteller dort am 31. Juli 2017 seine Fingerabdrücke abgegeben und einen Asylantrag gestellt hatte.
Am 8. Mai 2019 reiste der Antragsteller auf dem Landweg aus der Schw. kommend in die Bundesrepublik D. ein und stellte am 28. Mai 2019 einen förmlichen Asylantrag. Die Anhörungen des Antragstellers durch das Bundesamt zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates und zur Zulässigkeit des Asylantrages erfolgten am 3. Juni 2019. Hierbei gab er an, sein Heimatland letztmals Ende Juni 2017 verlassen und sodann in die T.und von dort nach Gr. eingereist zu sein. In Gr. habe er sich ca. 20 Monate aufgehalten. Er habe auf der Insel L. und in … gelebt, jedoch auch drei Monate in … nach Erhalt der Aufenthaltserlaubnis. Zur Asylantragstellung in Gr. sei er gezwungen worden, da ihm anderenfalls die Rückführung in die T. gedroht hätte. Er habe aber erklärt, nicht in Gr. bleiben zu wollen. Er leide an psychischen Problemen und sei in Gr. auch beim Arzt gewesen. Er könne ein ärztliches Dokument in griechischer Sprache vorlegen. Behandelt worden sei er wegen Depressionen und nehme Medikamente ein. Die Situation in Gr. sei sehr schlecht. Er habe dort keine Arbeit gefunden; selbst die Griechen fänden keine Arbeit. Er habe in Gr. staatliche Unterstützung erhalten. Er wolle in D. bleiben, denn dies sei ein sicheres Land. In Gr. habe er noch einmal traditionell geheiratet. Seine Frau befinde sich aktuell noch in Gr.. Seine erste Frau lebe in Sy.. In D. lebe eine Schwester von ihm, die sich ebenfalls im Asylverfahren befinde. Die in Gr. auf seine Person ausgestellte Aufenthaltserlaubnis gelte für drei Jahre.
Auf das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin erklärten die griechischen Behörden am 18. Juni 2019, dass der Antragsteller nicht übernommen werden könne, da ihm in Gr. bereits internationaler Schutz und eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 15. Juli 2021 zuerkannt worden sei. Die griechischen Behörden teilten weiter mit, dass der Antragsteller als vulnerable Person eingestuft worden sei gemäß Art. 14 Par. 8 des griechischen Gesetzes Nr. 4375/2016 (Opfer von Folter, Raub oder andere ernsthafte psychische, physische oder sexuelle Gewaltanwendung).
Mit Bescheid vom 10. Juli 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik D. binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte ihm anderenfalls die Abschiebung – in erster Linie – nach Gr. an, wobei es feststellte, dass der Antragsteller nicht nach Sy. abgeschoben werden dürfe (Ziffer 3.). Schließlich befristete das Bundesamt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG erstmalig auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die den Bescheid tragenden Feststellungen und Gründe verwiesen.
Der Bescheid wurde mit Postzustellungsurkunde im Wege der Ersatzzustellung durch Übergabe an einen postempfangsbevollmächtigten Mitarbeiter der Asylbewerberunterkunft in der … Straße … in … am 15. Juli 2019 zugestellt. Hiergegen erhob der Antragsteller mit elektronisch übermitteltem Schreiben seines Prozessbevollmächtigten aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach am 17. Juli 2019 Klage (Verfahren AN 17 K 19.50718), über die noch nicht entschieden wurde, und stellte zugleich einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem Antrag:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3. des Bescheids wird angeordnet.
Zur Begründung trägt der Bevollmächtigte vor, die Lebensbedingungen in Gr. für anerkannt Schutzberechtigte seien äußerst prekär und ohne Integrationsperspektiven. Anerkannt Schutzberechtigte in Gr. seien oft gezwungen, in menschenunwürdigen Unterkünften unterzukommen, in denen nicht einmal die grundlegenden humanitären Standards sichergestellt seien. Es drohe auch eine soziale Prekarisierung, die eine Existenzsicherung oft nicht ermögliche. Der Zugang zu Essen, Wasser, Strom, sanitären Einrichtungen und zu Schutz und Sicherheit für anerkannte Flüchtlinge sei nicht immer gesichert. Betroffene seien in den Wintermonaten der Kälte oft schutzlos ausgeliefert, sowie in den Sommermonaten der Hitze. Ein Überleben sei nur mit Hilfe Dritter möglich. Es ermangle einem Großteil der Flüchtlinge an Arbeit. Manche verrichteten Schwarzarbeit, bei der sie unterbezahlt und unversichert blieben. Es bestehe die Gefahr einer Ausbeutung. Es werde Bezug genommen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 2018 in der Rechtssache 2 BvR 714/18. Eine Überstellung von anerkannt Schutzberechtigten nach Gr. scheitere unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR – Urteil v. 21. Januar 2011 in der Rechtssache 30696/09) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH – Urteil v. 19. März 2019 in der Rechtssache C-163/17) daran, dass damit eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 4 GrCh. einhergehe.
Die Antragsgegnerin äußerte sich mit Schreiben vom 22. Juli 2019. Sie beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid unter Bezugnahme auf dessen Gründe.
Mit weiterem elektronischem Schriftsatz, versandt über das besondere elektronische Anwaltspostfach, vom 10. Oktober 2019 beantragte der Prozessbevollmächtigte für den Antragsteller, diesem Prozesskostenhilfe zu gewähren und den Bevollmächtigten beizuordnen. Zu diesem Antrag hat sich die Antragsgegnerin nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die in elektronischer Form vorgelegte Behördenakte (Az. …*) Bezug genommen.
II.
Über den Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Berichterstatter als Einzelrichter.
Der zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des beklagten Bescheids (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) ist begründet. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Aussetzung der Abschiebung gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG liegen im Einzelfall vor. Nach dieser Vorschrift darf in Fällen, in denen der Asylantrag – wie im vorliegenden Fall – nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt worden ist, die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Hier begegnet die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Gr. in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheides durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rechtsgrundlage für die Abschiebungsandrohung ist § 35 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer im Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlässt das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn (1.) der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, (2.) dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, (2a.) dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird, (3.) die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist und (4.) der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Die genannten Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung sind im vorliegenden nicht Fall erfüllt. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dem Antragsteller wurde ausweislich der Treffermeldung in der EURODAC-Datenbank und der Mitteilung der griechischen Behörden am 16. Juli 2018 in Gr. internationaler Schutz in Form der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gewährt. Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung stehen aber zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote im Sinne von § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Gr. entgegen. Dasselbe gilt bei einer europarechts- und konventionskonformen Auslegung des Unzulässigkeitstatbestandes des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wie sie aufgrund der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Omar u.a. (EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u. C-541/17, NVwZ 2020, 137) geboten ist. Denn auch in diesem Fall hat das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller in dem Staat, in dem er vor Verfolgung sicher war, dort als anerkannten Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 3 EMRK (s. Art. 52 Abs. 3 GRCh) zu erfahren.
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der EMRK ein Abschiebungsverbot bzw. Ausschlussgrund für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zugunsten des Antragstellers. Es fehlt an einer individuellen Zusicherung Gr.s an die Antragsgegnerin, dass dem Antragsteller für einen angemessenen Übergangszeitraum nach Rücküberstellung eine menschenwürdige Mindestversorgung zuteil wird. Das dahingehende Erfordernis ergibt sich aus dem Umstand, dass offengeblieben ist, ob der Antragsteller dem Personenkreis der „besonders schutzbedürftigen Personen“ (Vulnerable) zuzurechnen ist und die Antragsgegnerin gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG – auch unter Berücksichtigung von § 25 Abs. 2 AsylG – verpflichtet war, die hierzu vom Antragsteller vorgetragenen Argumente im Hinblick auf die Mitteilung der griechischen Behörden vom 18. Juni 2019 weiter aufzuklären. Deshalb ist offengeblieben, ob dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Gr. ohne entsprechende individuelle Zusicherung dort wahrscheinlich eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Gleiches gilt nach Art. 4 EUGR-Charta, wonach ebenfalls niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Ausweisung eines Asylbewerbers durch einen Konventionsstaat eine Frage nach Art. 3 EMRK aufwerfen kann, wenn es nachweislich ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Asylbewerber im Aufnahmeland tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden. Wenn das so sei, dürfe der Konventionsstaat den Betroffenen nicht in das Aufnahmeland ausweisen. Um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, müsse die Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Dies sei von den Umständen des Einzelfalles, wie Dauer der Behandlung und ihrer psychischen und physischen Wirkungen sowie manchmal von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen abhängig. Das sei beispielsweise der Fall, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Von großem Gewicht sei hierbei, ob der Betroffene besonders benachteiligten und verwundbaren Personengruppen angehört und besonders schutzbedürftig ist (EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 (Tarakhel u. a. / Schw.) -, NVwZ 2015, 127 ff, Rn. 92 – 99). Dagegen verpflichtet Art. 3 EMRK die Vertragsstaaten nicht, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen oder eine finanzielle Unterstützung zu bieten, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 (Mohammed Hussein u. a. / Niederlande u. Italien) -, ZAR 2013, 336 f., Rn. 70).
Dem folgend hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Verantwortlichkeit eines Staates aus Art. 4 EU-Grundrechte-Charta begründet, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 (Ibrahim u. a. / D.) -, juris Rn. 90, zum international Schutzberechtigten; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo / D.) -, juris Rn. 92, zum subsidiär Schutzberechtigten). Diese Schwelle sei aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann und sie „folterähnlich“ wirkt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 (Ibrahim u. a. / D.) -, juris Rn. 91; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo / D.) -, juris Rn. 93). Anders mag die Situation bei sogenannten „vulnerablen“ Personen sein, also wenn sich eine Person, nachdem ihr Schutz gewährt worden ist, aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 -, juris Rn. 93; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 -, juris Rn. 95).
Nach diesen Vorgaben ist bei summarischer Prüfung des Sachverhaltes nicht auszuschließen, dass der Antragsteller im Falle seiner Überstellung nach Gr. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 EUGR-Charta droht. Zwar stellen sich die Lebensverhältnisse von Schutzberechtigten in Gr. (vgl. dazu allgemein die Feststellungen der Kammer unter Bezugnahme auf aktuelle Erkenntnismittel: VG Ansbach, U.v. 17.3.2020 – AN 17 K 18.50394 – BeckRS 2020, 10433 dort Rn. 41 ff.) nach Auffassung des Einzelrichters nicht schon allgemein für jedweden Personenkreis von Schutzberechtigten als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 EUGR-Charta dar, obgleich international oder subsidiär Schutzberechtigte nach der Ankunft in Gr. möglicherweise über einen längeren Zeitraum keinen effektiv gesicherten Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen erhalten. Zudem ist es für sie teilweise praktisch unmöglich, die Voraussetzungen für den Erhalt des sozialen Solidaritätseinkommens zu erfüllen. Bei dieser Sachlage ist der Zugang zu Sozialleistungen, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt allerdings durch das eigenverantwortliche Handeln des Einzelnen geprägt und muss somit auch angemessen Berücksichtigung finden, ob ein anerkannt Schutzberechtigter, dem nur die Sorge für seine Person obliegt, sich selbst dieser staatlich bereitgestellten Versorgungs- und Unterbringungsmöglichkeiten aufgrund seines Weiterzugs oder sonstigen Handelns „freiwillig“ begeben hat (offengelassen durch die Kammer in ihrem Urteil vom 17.3.2020 bezüglich erwachsener, zur Selbstverantwortung fähiger Personen – BeckRS 2020, 10433 dort Rn. 60 und auch durch den BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 13a AS 19.32891, BeckRS 2019, 27542 dort Rn. 34). Entscheidend sind letztlich alle Umstände des Einzelfalles und demnach auch die persönlichen Umstände des Antragstellers (BayVGH, B.v. 9.1.2020 – 20 ZB 18.32705, BeckRS 2020, 254).
Vor diesem Hintergrund muss der jeweilige Schutzberechtigte nach Überzeugung des Gerichts grundsätzlich befähigt sein, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ist davon auszugehen, dass er diese Schwierigkeiten bewältigen kann, fehlt es an der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Gr. (VG Cottbus, B.v. 10.2.2020 – 5 L 581/18.A -, juris Rn. 40; VG Düsseldorf, B.v. 23.9.2019- 12 L 1326/19.A -, juris Rn. 43; VG Leipzig B.v. 17.2.2020 – 6 L 50/19, BeckRS 2020, 2228 Rn. 15). Es verstößt demnach grundsätzlich nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn Schutzberechtigte den eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt sind und von ihnen erwartet wird, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen (VG Düsseldorf, B.v. 23.9.2019 – 12 L 1326/19.A -, juris Rn. 37). Art. 3 EMRK gewährt grundsätzlich auch keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Sofern keine außergewöhnlich zwingenden humanitären Gründe vorliegen, die gegen eine Überstellung sprechen, ist allein die Tatsache, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse nach einer Überstellung erheblich verschlechtern würden, nicht ausreichend, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (VG Düsseldorf, B.v. 23.9.2019 – 12 L 1326/19.A -, juris Rn. 39).
Das Gericht geht aufgrund der summarischen Prüfung des Falles aber davon aus, dass es sich bei dem Antragsteller im hiesigen Verfahren wahrscheinlich um eine Person handelt, die der Gruppe der „Vulnerablen“ zuzuordnen ist, wobei dies letztlich offenbleibt. Hierbei verkennt das Gericht nicht, dass der Antragsteller jung und nach eigenem Bekunden arbeitswillig ist, denn er gab an, in Gr. keine Arbeit gefunden zu haben. Er ist auch keinen Kindern unterhaltsverpflichtet. Soweit er angab, ein zweites Mal traditionell geheiratet zu haben, trug er auch vor, seine zweite Ehefrau lebe noch in Gr., so dass ihm dort möglicherweise persönliche Unterstützung zukommt. Ihm ist es auch trotz angegebener psychischer Erkrankung gelungen, sich nach Verlassen seines Heimatlandes über viele Monate selbst zu versorgen und zu reisen, darunter auch mehrere Monate nach seiner Flüchtlingsanerkennung in Gr.. In diesem Zusammenhang hat er weder behauptet bzw. nicht weiter im Detail dargelegt, dass ihm während dieses Zeitraums es nur mit Mühe und Not gelungen wäre, zu überleben. Sein Vortrag vor dem Bundesamt blieb detailarm und wurde auch im Rahmen der Klage- und Antragsbegründung nicht mit einem die spezifische Situation des Antragstellers betreffenden Sachvortrag näher erläutert.
Die Antragsgegnerin wäre aber verpflichtet gewesen, die vom Antragsteller benannte psychische Erkrankung, die er durch entsprechende Atteste eines Arztes in griechischer Sprache belegen will, unter gebührender Berücksichtigung der Mitteilung der griechischen Behörden vom 18. Juni 2019, wonach dort der Antragsteller als „besonders verletzliche Person“ eingestuft worden war, weiter aufzuklären. Eine entsprechende Amtsermittlungspflicht ergibt sich aus § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG, denn der Antragsteller ist zunächst im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt seinerseits einer Pflicht aus § 25 Abs. 2 AsylG in hinreichender Weise nachgekommen. Die Ermittlungen des Bundesamtes hätten sich insoweit zwar darauf beschränken können, die in griechischer Sprache vorgelegten Atteste ins Deutsche übersetzen zu lassen und dann einer Würdigung zu unterziehen. Eine hiervon losgelöste Bindung der Antragsgegnerin an die Einstufung der griechischen Behörden hinsichtlich der Vulnerabilität des Antragstellers sieht das Gericht nicht. Gegebenenfalls hätte das Bundesamt den Antragsteller nach Vorlage der Übersetzung ins Deutsche der griechischen Arztbriefe zur Vorlage einer aktualisierten Einschätzung der Gesundheitssituation des Antragstellers mittels Vorlage eines neueren Attestes eines deutschen Arztes auffordern können, wenn sich hierzu aus der Übersetzung der griechischen Atteste Anhaltspunkte ergeben hätten. Das Bundesamt hat es aber versäumt, überhaupt eine Übersetzung der vorgelegten Arztbriefe aus Gr. zu veranlassen – jedenfalls ist Derartiges nicht aktenkundig. Die im angegriffenen Bescheid herangezogene Begründung, warum das Bundesamt „nicht zweifelsfrei davon ausgehen kann, dass diese Diagnosen weiterhin bestehen“, verkennt insoweit den Umfang der Amtsaufklärungspflicht des Bundesamtes im vorliegenden Einzelfall.
Die 17. Kammer des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach hat für die Gruppe der vulnerablen Personen, soweit sich die Vulnerabilität aus der Stellung als Kernfamilie mit kleinen Kindern ergibt, bereits entschieden, dass es insoweit unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B. v. 8.5.2017 – 2 BvR 157/17 – NVwZ 2017, 1196) einer individuellen Zusicherung des aufnehmenden Staates an die Antragsgegnerin bedarf, um eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung der anerkannt Schutzberechtigten sicher auszuschließen. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Kammer diese Rechtsprechung auf alle vulnerablen Personen ausdehnt. Da es im vorliegenden Fall gerade an einer sicheren Einschätzung zur Frage der Zugehörigkeit des Antragstellers zu einer vulnerablen Personengruppe fehlt, war im Rahmen einer Interessenabwägung zu seinen Gunsten die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung auszusprechen.
Auf die weitere Frage, wie sich insbesondere die medizinische Versorgung anerkannt Schutzberechtigter in Gr. gestaltet, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an und bedarf keiner weiteren Erörterung.
Nach alledem war dem Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Gewährung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung ergibt sich aus § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO, nachdem der Antragsteller seine Vermögenslosigkeit glaubhaft gemacht hat und die Sache ausreichende Erfolgsaussichten bietet.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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