Verwaltungsrecht

Abschiebungsandrohung nach Pakistan

Aktenzeichen  M 32 S 16.35488

Datum:
12.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 56385
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 10 Abs. 2 S. 4, § 71a, § 25, § 36 Abs. 3 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Der Antrag ist nicht wegen Versäumung der Antragsfrist nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG verfristet. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Antragsteller, der zumindest seit seiner Asylantragstellung unverändert unter derselben Anschrift wohnt, hat gegen keine Mitteilungsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 AsylG verstoßen, weil er sich ausweislich der Niederschrift über seine Anhörung zum Asylantrag zum Beginn der Anhörung mit seiner Aufenthaltsgestattung ausgewiesen hat, in der seine Anschrift eingetragen ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für … vom 28. November 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die vom Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) angedrohte Abschiebung.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge pakistanischer Staatsangehöriger, punjabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 16. Juli 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. Oktober 2015 bei dem Bundesamt einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 19. Oktober 2015 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gab der Antragsteller an, dass ihm in Ungarn Fingerabdrücke abgenommen worden seien; einen Asylantrag habe er dort nicht gestellt. Am 26. September 2016 erfolgte die Anhörung des Antragstellers gemäß § 25 AsylG.
In der vorgelegten Behördenakte befindet sich der Nachweis über einen Eurodac-Treffer für Ungarn der Kategorie 1 (Asylantrag in einem anderen Mitgliedsstaat).
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 28. November 2016 (zur Post gegeben laut Akte wohl am 29. November 2016; Adressat lt. Postzustellungsurkunde vom 2. Dezember 2016 „unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“) lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziff. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2 des Bescheids). Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziff. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4 des Bescheids). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei dem Antrag des Antragstellers um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG handle. Der Antragsteller habe am 1. Juli 2015 in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Er habe nicht konkret dargelegt, wie dieses Asylverfahren ausgegangen sei. Sofern das Verfahren im Mitgliedstaat noch offen sei oder keine Erkenntnisse über den Verfahrensstand vorlägen, sei von einer sonstigen Erledigung ohne Schutzgewährung auszugehen. Eine positive Entscheidung könne im Mitgliedstaat nicht mehr ergehen. Ein weiteres Asylverfahren nach § 71a Abs. 1 AsylG sei nicht durchzuführen. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor. Es habe sich weder die Sach-, noch die Rechtslage geändert. Auch konkrete individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG seien in Bezug auf das Heimatland nicht vorgetragen oder ersichtlich.
Am 12. Dezember 2016 erhob der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht München zur Niederschrift Klage und beantragte u.a., den Bescheid des Bundesamts vom 28. November 2016 aufzuheben (Verfahren M 32 K 16. 35487).
Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Er habe in keinem anderen Land einen Asylantrag gestellt. In Ungarn sei er lediglich kontrolliert worden; dabei seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden.
Am 12. Dezember 2016 legte das Bundesamt die Behördenakten elektronisch vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren (M 32 K 16.35487) sowie auf die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist der Antrag nicht wegen Versäumung der Antragsfrist nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG verfristet.
Gem. § 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu stellen. Gem. § 10 Abs. 1 AsylG hat der Antragsteller während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn u.a. Mitteilungen des Bundesamtes stets erreichen können und muss insbesondere jeden Wechsel seiner Anschrift dem Bundesamt unverzüglich anzeigen; gem. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss er u.a. Zustellungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Wenn die Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden kann, gilt die Zustellung nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt.
Vorliegend ist in der Niederschrift vom 26. September 2016 zum Asylantrag als Anschrift des nicht von einem Bevollmächtigten vertretenen und ohne Empfangsberechtigten handelnden Antragstellers nicht seine tatsächliche Anschrift in einer Gemeinschaftsunterkunft in der O …- … …Str. …, E … angegeben, sondern „O …Str. 1, E …“. Bis zum Bescheid vom 28. November 2016 gingen dem Antragsteller zwar wiederholt Schreiben des Bundesamts zu, die an letztere Anschrift gerichtet waren. Die Zustellung des Bescheids vom 28. November 2016 unter dieser Anschrift schlug jedoch fehl, weil der Adressat laut Postzustellungsurkunde vom 2. Dezember 2016 „unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ war. Dennoch muss der Antragsteller diesen Zustellversuch aus mehreren Gründen nicht nach § 10 Abs. 2 Satz 4 Asyl gegen sich gelten lassen. Zum einen dürfte die Anwendbarkeit des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG wegen Fehlerhaftigkeit des Zustellversuchs ausgeschlossen sein. Angesichts des Absenders der zuzustellenden Sendung, des Empfängernamens und der örtlichen Gegebenheiten (lt. Süddeutscher Zeitung vom 13. Januar 2016 und 30. August 2016 befindet sich in der O …Str. …, E … eine Gemeinschaftsunterkunft für bis zu 300 Flüchtlinge auf drei Etagen im Gewerbegebiet) ist es offensichtlich, dass die Sendung für einen Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft in der O …Str. …, E … und nicht für eine auf dem Nachbargrundstück befindliche Firma in der O …Str., E … bestimmt ist. Der Zustellversuch hätte daher aufgrund der offenkundigen Umstände des Einzelfalls unter der Anschrift O …Str. … und nicht unter Nr. 1 erfolgen müssen. Zum anderen müsste der Antragsteller den Zustellversuch auch bei Bejahung dessen Rechtmäßigkeit nicht nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG gegen sich gelten lassen, weil er ansonsten in einer mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Garantie effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbaren Weise um die Durchsetzbarkeit seiner Rechte gebracht würde (vgl. BVerfG, B.v. 16.10.2007 – 2 BvR 51/05 – juris Rn. 12). Der Antragsteller, der zumindest seit seiner Asylantragstellung unverändert unter derselben Anschrift wohnt, hat gegen keine Mitteilungsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 AsylG verstoßen, weil er sich ausweislich der Niederschrift über seine Anhörung zum Asylantrag zum Beginn der Anhörung mit seiner Aufenthaltsgestattung ausgewiesen hat, in der seine Anschrift eingetragen ist. Wird diese Anschrift bei der Ausstellung der Aufenthaltsgestattung fehlerhaft eingetragen oder vom anhörenden Entscheider bzw. von der anhörenden Entscheiderin des Bundesamts nicht richtig in die Niederschrift übernommen, so kann dies nicht dem Antragsteller angelastet werden. Infolgedessen gilt die Zustellung nicht mit der Aufgabe zur Post als bewirkt.
Wann der Antragsteller tatsächlich Kenntnis vom Bescheid erhalten hat, ergibt sich aus den Akten nicht. Deshalb ist der Antrag nicht verfristet.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß §§ 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Dies ist hier im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) der Fall.
Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die von der Antragsgegnerin gewählte Vorgehensweise, den von dem Antragsteller im Bundesgebiet gestellten Antrag als unzulässigen Zweitantrag zu bewerten, rechtmäßig ist.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.
Die Annahme eines erfolglosen Abschlusses des in einem sicheren Drittstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Wenn das (Erst-)verfahren noch wiedereröffnet werden kann, ist eine Einstellung nicht in diesem Sinne endgültig. Ob eine solche Wiedereröffnung bzw. Wiederaufnahme möglich ist, ist nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 29; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff; VG M, U.v. 28.3.2018 – M 1 K 17.43568 – juris Rn. 11). Der vorangegangene endgültige erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat muss entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren für den Asylbewerber endgültig erfolglos abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Das Bundesamt muss damit Kenntnis von der verfahrensbeendenden Entscheidung und deren Unanfechtbarkeit bzw. Unrevidierbarkeit haben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 33; VG M, U.v.30.8.2017 – M 1 K 16.35575 – juris Rn. 11f).
Der Antragsteller bestreitet eine Asylantragstellung in einem Drittstaat. In den vorgelegten Behördenakten ist zwar ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 (internationaler Schutz beantragt) dokumentiert, offen bleibt jedoch, ob in Ungarn ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 25) durchgeführt wurde bzw. ob das Asylverfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Die fehlende Aufklärung geht zu Lasten der Antragsgegnerin, die die Feststellungslast hierfür trägt (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41; siehe auch Bruns in Hofmann, Ausländerrecht 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Die Antragsgegnerin ist insoweit ihrer Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Der Vorhalt der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller seinen Asylantrag in Ungarn nicht erwähnt und dazu nichts vorgetragen habe, verkehrt diese Aufklärungspflichten; darüber hinaus ist der Antragsteller in der Regel nicht in der Lage, den Verfahrensablauf zu durchschauen und darüber verlässliche Angaben zu machen (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22).
Ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist somit nicht nachgewiesen, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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