Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot (bejaht) – Somalia

Aktenzeichen  M 11 K 17.41381

Datum:
4.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 22614
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
VwGO § 67 Abs. 4 S. 4, S. 7, § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 5 S. 1, § 155 Abs. 1 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Für normale Zivilisten in Mogadischu ergibt sich bei wertender Gesamtbetrachtung nicht, dass sie aufgrund der bloßen Anwesenheit in der Stadt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssten, Opfer willkürlicher Gewalt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu werden. (Rn. 26 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Rückkehr von Eltern mit neugeborenen Kindern erscheint unter den aktuellen Entwicklungen insbesondere im Zusammenhang mit der weltweiten Covid 19- Pandemie die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage im Allgemeinen nicht in ausreichender Weise gesichert. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich S.s vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 5/6 und die Beklagte 1/6.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Das Gericht konnte den Rechtsstreit trotz Ausbleibens der Beklagtenseite verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2. Das Verfahren war einzustellen, soweit der Kläger mit der Klage ursprünglich auch seine Anerkennung als Asylberechtigter und die Gewährung von Flüchtlingsschutz erstrebt hat. Insoweit wurde die Klage durch die in der mündlichen Verhandlung vorgenommene Beschränkung des Klageantrags zurückgenommen. Die Verfahrenseinstellung und Kostenentscheidung musste insoweit nicht gesondert durch Beschluss erfolgen. Vielmehr konnte darüber gemeinsam im Urteil über den anhängig gebliebenen Streitgegenstand entschieden werden (vgl. BVerwG vom 06.02.1963 – V C 24/61 – juris).
3. Die Klage ist in ihrem verbliebenen Umfang zulässig und hat teilweise Erfolg. Die Klage insoweit begründet, als die Beklagte verpflichtet ist, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich S.s vorliegen. Die Beklagte ist unter Aufhebung der Ziff. 4 bis 6 des Bescheids entsprechend zu verpflichten. Im Übrigen ist die Klage unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
3.1 Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Dabei gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG als „ernsthafter Schaden“ die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines international oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes (Nr. 3).
Hinsichtlich des von dem Schutzsuchenden geltend gemachten Schicksals muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen (vgl. BVerwG, U.v. 13.2.2014 – BVerwG 10 C 6/13 – juris Rn. 18). Angesichts des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Schutzsuchende insbesondere hinsichtlich fluchtbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Demgemäß setzt ein Schutzanspruch voraus, dass der Schutzsuchende den Sachverhalt, der seine Schädigungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, gegenüber dem Tatgericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Schutzbegehren lückenlos zu tragen. Der Schutzsuchende muss die persönlichen Umstände des ihm drohenden ernsthaften Schadens hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVwerG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Werden im Laufe des Verfahrens ohne plausible Erklärung unterschiedliche Angaben gemacht, enthält das Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche, erscheinen die Darstellungen nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar oder wird das Vorbringen im Laufe des Verfahrens ohne ausreichende Begründung erweitert oder gesteigert und insbesondere ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren eingeführt, so kann den Aussagen in der Regel kein Glauben geschenkt werden. Diese Anforderungen gelten gleichermaßen für alle Voraussetzungen der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, bei denen es maßgeblich auf das persönliche Vorbringen des Schutzsuchenden ankommt, namentlich auch für die Prüfung individueller gefahrerhöhender Umstände beim subsidiären Schutz und der für die Prüfung der Voraussetzungen des internen Schutzes nach § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG maßgeblichen individuellen Umstände.
Gemessen daran sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes nicht gegeben. 
3.1.1 Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach S. ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe durch den somalischen Staat droht, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Auf Tötungen durch nichtstaatliche Organisationen oder ungesetzliche Hinrichtungen ist die Regelung nicht anwendbar (vgl. BayVGH, U.v. 17.7.2018 – 20 B 17.31659 – juris Rn. 21; BeckOK Ausländerrecht, § 4 AsylG, Rn. 9).
3.1.2 Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, weil er eine ihm drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch die A. Sh. nicht glaubhaft gemacht hat.
Die Ausführungen des Klägers weisen in zentralen Punkten Unstimmigkeiten und auflösbare Widersprüche auf. So trug der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor, niemals bei der A. Sh. gewesen zu sein und ausschließlich über den Jungen Kontakt zur Miliz gehabt zu haben. Dies steht in diametralen Widerspruch zu seinen Angaben im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt. Weitere Unstimmigkeiten ergeben sich daraus, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung vortrug, sein Vater sei erst nach der Ausreise des Klägers umgebracht worden. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger demgegenüber angegeben, dass sein Vater bereits im Jahr 2011 verstorben sei. Soweit der Kläger auf entsprechenden Vorhalt in der mündlichen Verhandlung angab, er habe dies beim Interview anders gesagt, überzeugt die schon deshalb nicht, weil auch die folgenden Angaben des Klägers im Rahmen seiner Anhörung darauf schließen lassen, dass sich die wirtschaftliche Situation der Familie nach dem Tod des Vaters verschlechterte. Eine Fehlerhaftigkeit der Übersetzung hat der Kläger im Rahmen seiner damaligen Anhörung im Übrigen nicht geltend gemacht (vgl. Kontrollbogen, Bl. 75 d. BA.). 22
3.1.3 Dem Kläger droht um Falle einer Rückkehr ferner keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr, in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 – juris Rn. 17). Im vorliegenden Fall ist insoweit auf Mo. abzustellen, wo der Kläger nach seinen Angaben geboren ist und bis zu seiner Ausreise gelebt und gearbeitet hat.
Zwar geht das Gericht weiterhin davon aus, dass im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt in Mo. ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrscht (offengelassen: BayVGH, U.v. 5.7.2018 – 20 B 17.31636; U.v. 27.3.2018 – 20 B 17.31663; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – jew. juris). Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik S. vom 2. April 2020 (im Folgenden: Lagebericht) hat S. den Zustand des „failed state“ überwunden, es bleibt aber ein sehr fragiler Staat. In vielen Gebieten der Gliedstaaten Süd-/ Zentralsomalias und in der Hauptstadt Mo. herrscht Bürgerkrieg (Lagebericht, S. 5). Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Mo. im Rahmen dieses Konflikts allerdings keiner ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt.
Für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung führt. Vielmehr ist zu prüfen, ob von einem bewaffneten Konflikt in der Zielregion für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr ausgeht, die sich in der Person des Klägers so verdichtet, dass sie für diesen eine erhebliche individuelle Gefahr darstellt. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann dabei auf gefahrerhöhenden persönlichen Umständen beruhen, wie etwa berufsbedingter Nähe zu einer Gefahrenquelle oder einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 − 10 C 13/10; U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – jew. juris). Beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände kann eine Individualisierung ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt voraussetzt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 19). Für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte bedarf es dabei neben einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos einer wertenden Gesamtbetrachtung. Der bei Bewertung der entsprechenden Gefahren anzulegende Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Prüfung der tatsächlichen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – a.a.O.).
Gemessen daran ergibt sich für normale Zivilisten in Mo. bei wertender Gesamtbetrachtung nicht, dass sie aufgrund der bloßen Anwesenheit in der Stadt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssten, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden.
a) Eine quantitative Bewertung der Gefahrendichte erscheint mangels belastbarer aktueller Zahlen zu den Einwohnerzahlen einerseits und der Opferzahlen in Hinblick auf das Tötungs- und Verletzungsrisiko andererseits kaum verlässlich möglich (vgl. BayVGH, U.v. 27.3.2018 – 20 B 17.31663 – juris Rn. 34; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 40 ff.). Für Gesamtsomalia wird die Gefahrendichte im Rahmen einer Hochrechnung für das Jahr 2019 bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 12,3 Mio. teils auf 1:8163 geschätzt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – S., Stand 20.11.2019 – im Folgenden: BFA-Länderinformation, S. 19), was in quantitativer Hinsicht in etwa der Schwelle beachtlicher Wahrscheinlichkeit entspricht (ca. 1:800 bzw. 0,12%, vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 7; BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22 f.). Einerseits dürfte dabei die Bevölkerungszahl allerdings eher zu niedrig angesetzt sein, da andere Quellen von einer Einwohnerzahl von mind. 14,7 Mio. ausgehen (vgl. Hinweis der BFA-Länderinformation, S. 19); andererseits dürfte hinsichtlich der Opferzahlen eine nicht abschätzbare Dunkelziffer bestehen (s.u.).
Speziell für Mo. ergibt sich bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 1,65 Mio. Einwohnern (vgl. BFA-Länderinformation, S. 30; EASO, COI-Report – S. Security Situation, Stand Dez. 2017 – im Folgenden: COI-Report, S. 79) und Ansatz der im Jahr 2018 in der gesamten Region Benadir verzeichneten 780 Vorfälle mit insgesamt 976 Todesopfern (vgl. ACCORD – S., Jahr 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project – ACLED, im Folgenden: ACCORD-Kurzübersichten (Stand 25.2.2020), abrufbar unter www.ecoi.net – eine Gefahrendichte von 0,059%, was deutlich unter der o. g. Schwelle beachtlicher Wahrscheinlichkeit liegt. Gegenüber der für das Jahr 2017 erfassten Zahlen (567 Vorfälle mit 1309 Todesopfern, vgl. ACCORD-Kurzübersicht, Stand 18.6.2018) ist die Anzahl der erfassten Vorfälle im Jahr 2018 zwar gestiegen, die Zahl der erfassten Todesopfer aber zurückgegangen; allerdings gingen im Jahr 2017 immerhin 587 der erfassten Todesopfer allein auf einen verheerenden Anschlag in Mo. vom 14. Oktober 2017 zurück (vgl. Lagebericht, S. 16). Für das 1. bis 3. Quartal 2019 wurden für die gesamte Region Benadir insgesamt 555 Todesopfer erfasst (vgl. ACCORD-Kurzübersichten, Stand 19.12.2019 und 25.2.2020). Nicht erfasst werden nach den ACLED-Zahlen die Verletzten, daneben differenziert ACLED nicht zwischen getöteten Zivilpersonen und getöteten Bewaffneten. Schließlich weist ACLED selbst darauf hin, dass ein Großteil der gesammelten Daten auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen basiert und die Daten daher das Ausmaß an Vorfällen untererfassen können. Es existiert also eine nicht genau abschätzbare Dunkelziffer, sodass die Zahlen insgesamt wenig belastbar erscheinen.
b) Dessen ungeachtet stellt sich die Situation in Mo. bei wertender Gesamtbetrachtung nicht so dar, dass jede Zivilperson alleine aufgrund ihrer Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden (vgl. dazu auch BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292; U.v. 27.3.2018 – 20 B 17.31663; VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – jew. juris m.w.N).
Bis Oktober 2017 hat Mo. eine moderate Verbesserung der Sicherheitslage erlebt. Die Zahl von Attentaten und Angriffen der A. Sh. ging zurück, die Sicherheitskräfte konnten einige Angriffe erfolgreich verhindern (vgl. BFA-Länderinformation, Stand Mai 2018, S. 32). Am 14. Oktober 2017 kam es zu einem verheerenden Sprengstoffanschlag mit über 500 Todesopfern. Die A. Sh. wird hinter dem Anschlag vermutet, hat sich aber nicht offiziell dazu bekannt (vgl. Lagebericht, S. 4). In der Folgezeit hat die Zahl größerer Anschläge in und um Mo. zugenommen. Insbesondere im März und April 2019 kam es zu einem signifikanten Anstieg von Angriffen in Mo.. Es kommt regelmäßig zu Sprengstoffanschlägen oder aber gezielten Tötungen. Betroffen sind v.a. Regierungseinrichtungen, Restaurants und Hotels, die von nationalen und internationalen Offiziellen frequentiert werden. Zivilisten greift die A. Sh. nicht spezifisch an (vgl. BFA-Länderinformation, S. 29 f.). Insgesamt bleibt die Sicherheitslage in S. und der Hauptstadt Mo. volatil und unvorhersehbar (vgl. BFA-Länderinformation, S. 14). A. Sh. bleibt in Mo. wie in ganz S. die größte Quelle der Unsicherheit (vgl. BFA-Länderinformation, S. 16). Mo. bleibt unter Kontrolle von Regierung und AMISOM, nach wie vor reicht die in der Stadt gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte aber nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Dennoch gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass die A. Sh. wieder die Kontrolle über die Stadt erlangt. Es gibt in der Stadt kein Risiko mehr, von A. Sh. zwangsrekrutiert zu werden (vgl. BFA-Länderinformation, S. 29). Ebenso gibt es in Mo. kein Risiko, alleine aufgrund seiner Clanzugehörigkeit angegriffen zu werden, wenngleich Clan und Clanzugehörigkeit in Mo. nach wie vor relevant sind (vgl. BFA-Länderinformation, S. 30). Im Vergleich zu 2014 sind die Kapazitäten von A. Sh. zurückgegangen, seit 2017 ist die Miliz allerdings wieder effektiver und potenter geworden. Trotz anhaltender Luftangriffe und obwohl die Armee und AMISOM im Umland von Mo. vermehrt Operationen durchführen, konnte A. Sh. die Zahl großer Anschläge steigern (vgl. BFA-Länderinformation, S. 39). A. Sh. ist im gesamten Stadtgebiet Mo.s weiterhin (verdeckt) präsent, wenngleich in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Stadtteile, in denen Rückkehrer siedeln (u.a. IDP-Lager) sind besser vor der A. Sh. geschützt und stellen für die Miliz kein Ziel dar (vgl. BFA-Länderinformation, S. 30). Die Miliz ist in der Lage, in weiten Teilen der Stadt Anschläge durchzuführen und selbst in schwer befestigte Anlagen einzudringen (vgl. BFA-Länderinformation, S. 17). Für A. Sh. bietet die Stadt aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele; diesbezüglich ist es der Regierung bislang nicht gelungen, eine erfolgreiche Bekämpfungsstrategie umzusetzen (vgl. BFA-Länderinformation, S. 29). Hauptziele der A. Sh. sind die Regierung und die internationale Gemeinde. Dabei hat sich die Miliz in erster Linie auf die Durchführung von Sprengstoffanschlägen und gezielten Attentaten verlegt, wobei sie sowohl gegen harte (militärische) als auch weiche Ziele (z.B. Restaurants, Hotels und Märkte) vorgeht (vgl. BFA-Länderinformation, S. 16). Üblicherweise verfolgt A. Sh. zielgerichtet jene Personen, derer sie habhaft werden will. Unklar ist, für welche Ziele die Miliz bereit ist, ihre Kapazitäten tatsächlich einzusetzen (vgl. BFA-Länderinformation, S. 105). Einem erhöhten Risiko sind v.a. solche Personen ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von der Miliz als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden (vgl. BFA-Länderinformation, S. 30; zu den einzelnen Risikogruppen: S. 103 f.). „Normale“ Zivilisten greift A. Sh. nicht spezifisch an. Für die Zivilbevölkerung besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein und so zum „Kollateralschaden“ von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (vgl. BFA-Länderinformation, S. 105).
Im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtungsweise ist damit insbesondere zu berücksichtigen, dass die Gesamtzahl der zivilen Opfer zu einem nicht unerheblichen Teil Personen mit erhöhten Gefährdungspotentialen betroffen haben dürfte. Bedingt durch die von A. Sh. verfolgte Strategie der asymmetrischen Kriegsführung und der strategischen Auswahl der Anschlagsziele waren und sind bestimmte Berufsgruppen wie Regierungsmitarbeiter, Angehörige von AMISOM, Mitarbeiter internationaler Organisationen, Angehörige der Sicherheitskräfte bzw. generell mit der Regierung zusammenarbeitende Personen, Politiker, Deserteure mutmaßliche Spione und Kollaborateure in besonderer Weise betroffen. Auch wenn die A. Sh. einige Menschen in S. als „legitime Ziele“ erachtet, gilt dies für die meisten Zivilisten nicht (vgl. hierzu etwa die Entschuldigung und Beileidsbekundung der Miliz gegenüber zivilen Opfern eines verheerenden Sprengstoffanschlags in Mo. Ende 2019, www. tageschau.de/ausland/anschlag-somalia-al-shabaab-101.html). Hierin sieht das Gericht einen wesentlichen Unterschied zu anderen Terrororganisationen (so auch: BFA-Länderinformation, S. 19). Zwar besteht für Zivilisten immer das Risiko, „zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein – Opfer nimmt die A. Sh. insoweit in Kauf. Einfache Zivilisten können ihr Risiko, zufällig Opfer eines Anschlags zu werden, zwar nicht vollständig ausschließen, zumindest aber minimieren, indem sie Gebiete oder Einrichtungen meiden, die von A. Sh. bevorzugt angegriffen werden. Dazu gehören vor allem Hotels und Restaurants, in denen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder oder Mitarbeiter der Regierung oder Mitarbeiter internationaler Organisationen verkehren, Regierungseinrichtungen sowie Stellungen und Stützpunkte von Regierungskräften und AMISOM. Generell ist ein „normaler Zivilist“ (ohne Verbindung zur Regierung, zu Sicherheitskräften, zu Behörden, zu NGOs oder internationalen Organisationen) damit keinem Risiko im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt (vgl. BFA-Länderinformation, S. 103 ff m.w.N.).
Nichts anders ergibt sich unter Berücksichtigung aktuellerer Berichte über Anschläge in Mo., wie etwa einen Bombenanschlag auf ein großes Hotel in Mo. vom 28. Februar 2019, bei dem wohl 25 Menschen ums Leben kamen. Ausweislich der Medienberichte (vgl. etwa Bericht der Online-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ vom 1. März 2019, abrufbar unter: https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5588500/Mindestens-19-Tote-bei-Angriff-der-AlShabaabMiliz-in-Mo.) soll dieses Hotel von Regierungsvertretern genutzt worden sein und sich der Angriff nach einer Erklärung der A. Sh.-Miliz gegen Regierungsvertreter gerichtet haben, die in dem Hotel untergebracht gewesen seien. Entsprechendes galt bereits für den Bombenanschlag auf das Sahafi Hotel am 9. November 2018 (vgl. dazu BFA-Länderinformation, S. 19) sowie für einen Anschlag auf ein Einkaufszentrum in Mo. (vgl. Bericht der ZEIT ONLINE vom 4. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-02/somalia-mogadischu-explosion-anschlag-autobombe-terrororganisation-al-shabaab). Zu weiteren Angriffen der A. Sh., insbesondere auch einen Selbstmordanschlag im Hauptquartier der Stadtregierung im Juli 2019, bei dem u.a. der Bürgermeister der Stadt tödlich verletzt wurde (vgl. BFA-Länderinformation, S. 29; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019, a.a.O., juris Rn. 46), wird auf die ECOI-Übersicht zur Sicherheitslage in S., abrufbar unter www.ecoi.net/de/laender/somalia/themendossiers/sicherheitslage, Bezug genommen. Insgesamt bestätigen diese Berichte die bisherige Erkenntnislage, wonach „normale Zivilisten“ kein primäres Ziel der A. Sh. darstellen, sondern vielmehr Gefahr laufen, sich „zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu befinden.
Zusammengefasst ergibt sich bei wertender Gesamtbetrachtung damit, dass in Mo. weiterhin eine ausgesprochen fragile Sicherheitslage herrscht, wobei die Gefährdungssituation der Stadtteile differiert. Insbesondere der Umstand, dass A. Sh. Angriffe nicht primär gegen die Zivilbevölkerung richtet, unterscheidet die Methoden der Miliz aber von jenen anderer Terrorgruppen. Auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel und Presseberichte ist das Niveau willkürlicher Gewalt nicht so hoch, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, U.v. 27.3.2018, a.a.O, juris Rn. 36; VGH Hessen U.v. 1.8.2019, a.a.O., juris Rn. 47; EGMR, U.v. 10.9.2015 – Nr. 4601/14 [R.H./Schweden] – NVwZ 2016, 1785).
c) Bei dem Kläger liegen auch keine individuell gefahrerhöhenden Umstände vor, die dazu führen würden, dass er bei einer Rückkehr nach Mo. im Vergleich zur dort lebenden Zivilbevölkerung einem erhöhten Risiko ausgesetzt wäre, Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts zu werden.
Solche ergeben sich zunächst nicht aus der Verfolgungsgeschichte, da diese nicht glaubhaft ist (s.o.). Ferner stellt die Zugehörigkeit zu dem Minderheitenclan der Gabooye für sich gesehen in Mo. keinen gefahrerhöhenden Umstand dar (vgl. BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31660; U.v. 22.3.18 – 20 B 17.31709 – jew. juris). Zwar handelt es sich hierbei um einen Minderheitenclan, der als minderwertig angesehen wird und dessen Angehörige daher traditionell nur bestimmte Berufe ausüben. Allerdings gibt es in Mo., wie oben ausgeführt, grundsätzlich keine Clanmilizen und keine Clangewalt (mehr), sodass davon auszugehen ist, dass die Clanzugehörigkeit in Mo. zwar wohl nicht völlig irrelevant ist, im alltäglichen Leben jedoch in ihrer Bedeutung, insbesondere im Vergleich zu den übrigen Teilen Süd- und Zentralsomalia, in den Hintergrund gerückt ist. Zudem verfügen auch die Gabooye/ Midgan/ Madhibaan üblicherweise über ein ausgeprägtes Netzwerk gegenseitiger Unterstützung. Die Angaben des Klägers zur Finanzierung seiner Reise deuten jedenfalls darauf hin, dass der Kläger versucht, über seine persönlichen Verhältnisse zu täuschen. Das Gericht nimmt dem Kläger nicht ab, dass er die Kosten seiner Flucht – die mit 1.700,- USD gegenüber den in gerichtsbekannten vergleichen Verfahren deutlich höheren Schleusungskosten von über 5.000,- USD ohnehin auffällig niedrig angesetzt sind – durch eigene Arbeit und eine Sammelaktion ihm völlig fremder Mitflüchtlinge finanzieren konnte. Insofern spricht – sofern nicht die Clanzugehörigekeit des Klägers insgesamt in Frage gestellt wird – vieles dafür, dass die Familie des Klägers oder aber der Minderheitenclan willens und in der Lage waren, die Fluchtkosten des Klägers zu übernehmen.
Es gibt ferner keine verifizierten Berichte, wonach A. Sh. Rückkehrer aus dem Westen systematisch angreifen würde. Selbst wenn die A. Sh. Rückkehrer aus westlichen Ländern möglicherweise als Spione der Regierungstruppen ansieht, ergibt sich daraus in den unter der Kontrolle der Regierung stehenden Gebieten aufgrund der Tatsache, dass die A. Sh. dort nicht mehr frei agieren kann, und angesichts der großen Zahl von rückkehrenden Personen – v.a. auch Binnenvertriebenen – nicht für jeden Rückkehrer ohne weiteres eine ernsthafte Bedrohung (vgl. BayVGH, U.v. 10.7.2018 – 20 B 17.31595 – juris Rn 29 m.w.N.). Darüber hinaus gehört der Kläger nicht zu einem Kreis derjenigen Personen, welche aufgrund ihres Berufes oder ihrer prominenten Stellung im Fokus der A. Sh. stehen. Sofern im Falle einer Rückkehr überhaupt eine Kontrolle durch die A. Sh. stattfände, wären allenfalls das Verhalten des Klägers sowie dessen familiäre Verbindungen entscheidend dafür, ob der Kläger einem Risiko ausgesetzt wäre (vgl. VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 49; OVG Niedersachsen, U.v. 5.12.2017 – 4 LB 50/16 – juris Rn. 51). Der
Kläger ist jung, gesund und arbeitsfähig. In S. hat er nach seinen Angaben als Schuhputzer gearbeitet, in Deutschland arbeitet er derzeit ausweislich der im Nachgang zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Urkunden als Gartenbauer. Er verfügt damit bereits über eine gewisse Arbeitserfahrung. Selbst wenn der in Mo. lebende Onkel mütterlicherseits zwischenzeitlich verstorben sein sollte, lebt zumindest die Schwester des Klägers mit deren Familie weiterhin in Mo.. Angesichts der obigen Ausführungen zur Finanzierung der Flucht ist davon auszugehen, dass der Kläger in S. auf ein Netzwerk familiärer und/ oder jedenfalls clanbasierter Unterstützung zurückgreifen kann. Insgesamt ist das Risiko, in Mo. Opfer bürgerkriegsbedingter Gewaltakte zu werden, für den Kläger daher nicht ungleich höher als für die dort ansässige Zivilbevölkerung.
Der Kläger hat deshalb keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
3.2 Die Klage ist jedoch insoweit begründet, als der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG begehrt.
Für eine Verletzung des Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus. Art. 3 EMRK erfasst zwar auch Gefahren, die nicht vom Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgehen (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13/12 – juris Rn. 25). Aus der Menschenrechtskonvention leitet sich aber kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat ab, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23 ff.). Soweit die schlechten humanitären Bedingungen – wie in S. – nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte oder indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, ist entsprechend der Rechtsprechung des EGMR davon auszugehen, dass die Fähigkeit des Betroffenen berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft sowie seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 25; EGMR, U.v. 28.6.2011 – 8319/07 – BeckRS 2012, 08036 – Rn. 282, 283).
3.2.1 Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslagelage ist zumindest in Mo. nicht derart, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen wäre (vgl. ausführlich BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292 – juris Rn. 31 ff; VGH Baden-Württemberg U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18 – juris).
Wenngleich zuverlässige Daten kaum zu erhalten sind, stellt sich die wirtschaftliche Situation in Mo. weiterhin günstiger dar, als in anderen Regionen S.s. Die somalische Wirtschaft hat sich bis ins Jahr 2019 weiter erholt, wozu gute Regenfälle und wachsende Remisen, die Erstarkung des Agrarsektors, die Konsolidierung von Sicherheit und die Zunahme privater Investitionen sowie von Geldflüssen aus Geberländern beigetragen haben (vgl. BFA-Länderinformation, S. 115 ff.). Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Entwicklung ist die Diaspora, welche begonnen hat, in S. und vor allem in Mo. und den Hauptstädten der Bundesstaaten zu investieren. Generell hat die verbesserte Sicherheitslage in den Städten zu einem Bau-Boom geführt. Allerdings sind die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen weiterhin limitiert und regelmäßig von Familien- und Clanverbindungen abhängig.
Soweit sich die humanitäre Situation und Lebensmittelsicherheit in S. im Frühjahr 2018 zunächst entspannte, litt das Land im Frühjahr 2019 erneut unter den negativen Folgen später und ungleichmäßiger Regenfälle. Die Versorgungslage der Stadtbevölkerung Mo.s wurde bis Ende 2019 allerdings als „moderat“ bewertet (IPC 1 – und damit die niedrigste Skala der Integrated Phase Classification for Food Security), wobei Binnenflüchtlinge (IDPs) und marginalisierte Personengruppen am meisten von Not betroffen waren (vgl. BFA-Länderinformation, S. 122 ff.).
Aktuell sieht sich das Land einer dreifachen Bedrohung durch die Folgen der weltweiten COVID-19 Pandemie, Überflutungen und einer Heuschreckenplage ausgesetzt. Von der aktuellen Heuschreckenplage betroffen sind vor allem S. P. und Ga. (vgl. FAO, Desert Locust Emergency in S., Update 3, Stand 15. April 2020, abrufbar unter https://reliefweb.int/country/som). Da bereits Bekämpfungsmaßnahmen ergriffen wurden, sind etwaige mittel- und langfristigen Auswirkungen für Gesamtsomalia derzeit nicht absehbar. Die Heuschreckenschwärme im Dezember 2019 verursachten nur einen begrenzten Schaden (vgl. OCHA, Humanitarian Bulletin S., 1. Mai bis 2. Juni 2020 – im Folgenden: Humanitarian Bulletin, abrufbar unter https://reliefweb.int/country/som). Spürbare Auswirkungen auf die humanitäre Situation und Lebensmittelsicherheit in S. drohen derzeit primär durch die wirtschaftlichen Folgen der weltweiten Covid 19- Pandemie. Seit den ersten Meldungen Mitte März 2020 wurden von der somalischen Regierung bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung offiziell 3.135 COVID 19-Fälle gemeldet, von denen 1.464 Personen genesen und 93 Personen verstorben sind (Internetabruf des Gerichts des COVID-19 Dashboards der somalischen Regierung am 22.7.2020, abrufbar unter: https://moh.gov.so/en/covid19/). Die Zahl der bestätigten Fälle in S. steigt damit weiter stetig, wobei die Region Benadir besonders betroffen ist. Schon aufgrund der beschränkten Testmöglichkeiten dürfte allerdings von einer hohen Dunkelziffer auszugehen sein. Neben den gesundheitlichen Gefahren für vulnerable Personengruppen wie Alte und Vorerkrankte sind viele somalische Familien von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bedroht. S. ist stark von Importgütern abhängig, sodass sich Umstände wie der Lockdown der Hauptlieferländer (u.a. I., Th. und Af. Un.), reduzierte Importe, Grenzschließungen (v. a. zu Ät. und K.) und Beschränkungen der heimischen Transportkorridore zu Wasser, Land und Luft (v.a. Schließung der Häfen und Flughäfen für den normalen Gütertransport) auf die somalische Wirtschaft und die Lebensmittelpreise auswirken (vgl. dazu insbesondere die regelmäßig aktualisierten S. Covid-19 Impact Updates von OCHA, abrufbar unter https://reliefweb.int/country/som). Aufgrund von Störungen der Lieferkette und Panikkäufen war demnach bis Anfang Mai 2020 ein leichter Anstieg der Preise für importierte Nahrungsmittel zu verzeichnen (vgl. OCHA, S. Covid-19 Impact Update Nr. 4, S. 1). Der Preis von lokal produzierten Nahrungsmitteln blieb zunächst stabil (vgl. OCHA, S. Covid-19 Impact Update Nr. 1, S. 2). Auch soweit die Preise für heimisches Getreide und wichtige importierte Nahrungsmittel zwischenzeitlich deutlicher gestiegen sind, lässt sich bislang nicht feststellen, dass auch für nicht vulnerable Personengruppen bereits ein kritisches Ausmaß erreicht wäre. Aufgrund des Verlusts wirtschaftlicher Betätigungsmöglichkeiten innerhalb des Landes infolge der von der somalischen Regierung zur Pandemiebekämpfung verhängten Beschränkungen und der schwindenden Geldüberweisungen aus dem Ausland ist zwar der Lebensunterhalt für viele Somalis zunehmend schwierig. Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter und andere Geringverdienerhaushalte sind dabei besonders betroffen (vgl. etwa OCHA, S. Covid-19 Impact Update Nr. 3, S. 2). Insgesamt ist festzustellen, dass durch das Virus die bestehenden sozio-ökonomischen Vulnerabilitäten verschärft werden (vgl. OCHA, S. Covid-19 Impact Update Nr. 8, S. 1). Die somalische Regierung ist dabei bemüht, den sozio-ökonomischen Auswirkungen entgegenzuwirken, etwa durch Steuersenkungen. Zudem unterstützen zahlreiche Hilfsorganisationen die somalische Bevölkerung, auch wenn die Außendienst-Aktivitäten eingeschränkt wurden.
3.2.2 Allerdings ist vorliegend aufgrund der individuellen Umstände des Klägers davon auszugehen, dass er im Falle einer Abschiebung nach S. tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Der Kläger ist nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung und den im Nachgang hierzu vorgelegten Urkunden (Sorgerechtserklärung und Vaterschaftsanerkennung) Vater des am 25. Juni 2020 in Al. geborenen Kindes einer in der Bundesrepublik subsidiär Schutzberechtigten Somalierin. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht für die Gefahrenprognose auch dann in der Regel davon auszugehen, dass Eltern und ihre minderjährigen Kinder gemeinsam zurückkehren, wenn einzelne Familienmitglieder bereits einen Schutzstatus bzw. Abschiebungsschutz genießen (BVerwG, U.v. 4.Juli 2019 – 1 C 49/18 – juris; vgl. auch BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris; BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris). Nach dieser Rechtsprechung genügen zwar allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht; erforderlich ist vielmehr eine tatsächlich gelebte familiäre Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Hiervon ist vorliegend allerdings auszugehen.
Dies zugrunde gelegt ist bei der Rückkehr von Eltern mit neugeborenen Kindern unter den in S. derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen von einem sehr hohen Gefährdungsniveau auszugehen. Die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit in S. war bereits bislang sehr hoch. Für das Jahr 2019 wird die Zahl der von akuter Unterernährung betroffenen Kinder unter 5 Jahren auf mehr als 900.000 geschätzt. Eines von 7 Kindern stirbt vor dem 5. Geburtstag unter anderem aufgrund von Unterernährung, Pneumonie, Masern und Durchfallerkrankungen (vgl. BFA-Länderinformation, S. 101). Aufgrund der oben ausgeführten aktuellen Entwicklungen insbesondere im Zusammenhang mit der weltweiten Covid 19- Pandemie dürfte sich die Situation weiter verschlechtert haben. Auch unter Berücksichtigung potentieller Erwerbsmöglichkeiten des Klägers und gegebenenfalls der Kindsmutter sowie etwaiger „üblicher“ familiärer und clanbasierter Unterstützung kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass eine Familie mit einem Neugeborenen den Alltag in Mo. noch ausreichend bestehen können wird. Die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit einem Neugeborenen erscheint im Allgemeinen – und auch im vorliegenden Fall – nicht in ausreichender Weise gesichert. Dies gilt insbesondere für das Finden einer adäquaten Unterkunft, die Gewährleistung der Grundsicherung und der sonstigen elementaren Lebensbedürfnisse wie die Versorgung mit Nahrung, Wasser und Kleidung sowie den Zugang zumindest zu einer Gesundheitsgrundversorgung. Anders mag dies allenfalls bei bedeutender Unterstützung durch die (erweiterte) Familie oder den Clan sein (vgl. zu Afghanistan: BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris Rn. 20). Auch etwaige Rückkehrhilfen können zwar eine anfängliche Unterstützung bieten sind jedoch nicht ausreichend, um eine unmenschliche Behandlung in diesem Sinn auszuschließen (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017, a.a.O. – juris Rn. 24).
Zwar verfügt der Kläger – wie ausgeführt – bereits über Arbeitserfahrung und wohl auch ein im Rahmen des Üblichen durchaus tragfähiges familiäres Netzwerk bzw. Clanverbindungen. Nach Auffassung des Gerichts ist aber zumindest mit Blick auf die Versorgungssituation des neugeborenen Kindes im Falle der Rückkehr jedenfalls derzeit eine Existenzsicherung auf Mindestniveau nicht ausreichend verlässlich gewährleistet. Aufgrund dessen wäre im Falle der zu unterstellenden gemeinsamen Rückkehr mit dem neugeborenen Kind ein sehr hohes Gefährdungsniveau zu gewärtigen.
Der Abschiebung des Klägers steht daher das Verbot des § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen. Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, erscheint angesichts des Fehlens aktueller Atteste sehr zweifelhaft, bedarf aber keiner Prüfung, da es sich bei den national begründeten Abschiebungsverboten des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319).
3.3 Da der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben ist, sind auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
4. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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