Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für unter Albinismus leidenden nigerianischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  Au 7 K 17.31307

Datum:
14.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 4494
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3 Abs. 1, § 4
GG Art. 16a Abs. 1, Abs. 2 S. 1, S. 2
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Ein nigerianischer Staatsangehöriger, der unter Albinismus leidet, ist bei einer Rückkehr in sein Heimatland der allgegenwärtigen Gefahr der Diskriminierung, körperlichen Misshandlung oder sogar Tötung ausgesetzt und wird aufgrund seiner gesellschaftlichen Stigmatisierung keine Arbeit finden, mit der er sein Existenzminimum sichern kann. (Rn. 49 – 51) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Februar 2017 wird in den Ziffern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigerias vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Kostenbetrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Der Bescheid vom 20. Februar 2017 ist teilweise rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 Asylgesetz/AsylG) zwar keinen Anspruch auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Doch liegen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers vor (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
I.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 und 2 GG kann sich auf das Asylrecht nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft einreist. Dies ist bei dem Kläger der Fall. Er ist nach eigenen Angaben zunächst zurück nach Italien geflogen und von dort aus in die Bundesrepublik eingereist.
II.
Der Kläger hat ebenso keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-​) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris; HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris).
2. Der Kläger hat seine Verfolgungsgründe darauf gestützt, dass er nachdem er von Italien zurück nach Nigeria gereist sei in den Busch „entführt“ wurde. Das Gericht nimmt insofern Bezug auf die ausführliche und richtige Begründung des angefochtenen Bescheids unter Nr. „1. und 2.“, folgt ihnen und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Lediglich ergänzend wird ausgeführt, dass allein die Tatsache, dass der Kläger unter Albinismus leidet, die vorgetragene Verfolgungsgeschichte nicht glaubhaft macht, wie seine frühere Prozessbevollmächtigte vorträgt. Der Kläger ist zunächst bereits im Jahr 2005 mit 21 Jahren mit einem Arbeitsvisum für Italien aus Nigeria ausgereist. Damals verließ er sein Heimatland offenkundig nicht aufgrund einer individuellen Verfolgung, sondern vielmehr aus wirtschaftlichen Gründen. Dass er angibt, in seiner Situation froh gewesen zu sein, ein Arbeitsvisum erhalten zu haben, ändert hieran nichts. Dies wird umso deutlicher als der Kläger im Jahr 2008 nach Nigeria zurückgekehrt ist, um nach seiner Mutter zu sehen. Eine freiwillige Rückkehr nach Nigeria trotz einer konkreten Verfolgung erscheint sehr unwahrscheinlich. Zum damaligen Zeitpunkt hatte der Kläger nach seinen eigenen Angaben auch bereits einen Rückflug nach Italien gebucht, den er aufgrund des von ihm geschilderten Vorfalls zunächst verpasst haben will. Für den Kläger stand also bereits vor dem geschilderten Vorfall fest, dass er das Land wieder verlassen wird. Hinsichtlich des vom Kläger geschilderten Vorfalls im Busch ist festzuhalten, dass sich die klägerischen Darstellungen für das Gericht als nicht glaubhaft erweisen. Der Kläger konnte weder bei der Anhörung beim Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erklären, wie er in den Busch kam (vgl. Sitzungsniederschrift S. 7 f.). Auch die Darstellung über das dort Geschehene erschließt sich dem Gericht nicht aus den Schilderungen des Klägers nicht. Ganz davon abgesehen, dass der Kläger dem Grunde nach nicht von irgendwelchen Verfolgungshandlungen, sondern nur davon berichtet, dass er bei Feierlichkeiten zugegen gewesen sei und anschließend mit der Hilfe von anderen jungen Männern wieder fliehen konnte und ihm quasi nichts passiert sei – außer, dass man ihm etwas in das Gesicht geblasen habe, was dazu geführt habe, dass er nichts mehr gesehen habe.
Weiter stellt sich auch die Darstellung seiner schulischen Bildung nicht als glaubhaft dar. Der Kläger gibt im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt noch an, dass er für fünf Jahre in der Grundschule gewesen sei. In der mündlichen Verhandlung sagt er dann, ein Schulbesuch sei nicht möglich gewesen (vgl. S. 3 der Sitzungsniederschrift). Er sei ab und an dort gewesen, aber nicht regelmäßig. Er sei diskriminiert worden wegen seiner Hautfarbe und seines Aussehens. Er habe anschließend viel auf der Straße gelebt und viele verschiedene Arbeiten verrichtet wie z.B. als Schreiner oder Maler und auch als eine Art Automechaniker (vgl. S. 5 der Sitzungsniederschrift). Ganz im Gegensatz zu diesen Schilderungen stellt sich aber die gesamte Erscheinung des Klägers in der mündlichen Verhandlung dar. Er spricht sehr gutes Englisch, obwohl dies nicht seine Muttersprache ist. Mit seiner Mutter habe er nur verschiedene Dialekte unter anderem Edo gesprochen (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift). Zudem weiß sich der Kläger ausgesprochen gut zu artikulieren und auszudrücken und macht einen überaus selbstreflektierten Eindruck. Hierauf angesprochen, erklärt der Kläger, dass ihm Lernen leicht fällt. Er spreche drei Sprachen (Englisch, Italienisch und Deutsch). Er sehe Dinge und mache sie einfach, er glaube nicht an theoretisches lernen. Der Gesamteindruck den der Kläger hinterlässt spricht deutlich für eine überdurchschnittlich gute Schuldbildung. Selbst wenn dem Kläger das Lernen an sich leicht fällt, lassen sich insbesondere die hervorragenden Englischkenntnisse nicht auf eine unregelmäßige Grundschulausbildung und ein Leben auf der Straße in Nigeria und anschließend die Arbeit in Italien zurückführen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Kläger entweder in Nigeria eine sehr gute und gehobene Schulausbildung – eventuell sogar in einer Privatschule oder einem Internat – oder aber im Ausland eine solche genossen hat. Dies würde auch erklären, was der Kläger meint, dass er sehr geschützt aufgewachsen sei und seine Mutter mit ihm weggegangen sei.
Dementsprechend steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass der gesamte Vortrag des Klägers hinsichtlich seiner Geschichte vor der Ausreise und auch hinsichtlich des geschilderten Vorfalls im Busch nicht der Wahrheit entspricht. Es handelt sich dabei um eine erfundene Verfolgungsgeschichte, die der Kläger im Rahmen des Asylverfahrens nur vorbrachte, um seine Chancen zu erhöhen. Dass der Kläger unter Albinismus leidet, ändert an der Glaubhaftigkeit nichts. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass dem unverfolgt ausgereisten Kläger im Falle der Rückkehr in sein Heimatland keinerlei individuelle Verfolgungsmaßnahmen durch bestimmte Akteure drohen.
Es bestehen auch keine Erkenntnisse darüber, dass abgelehnte Asylbewerber bei einer Rückkehr nach Nigeria allein wegen der Asylantragstellung mit staatlichen Repressionen zu rechnen hätten (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Stand: September 2016 – vom 21. November 2016 – Lagebericht – Nr. IV.2).
III.
Der beantragte (unionsrechtliche) subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG bleibt ebenfalls ohne Erfolg, wofür ergänzend auf die zu § 3 AsylG erläuterten Gründe verwiesen wird.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei auch die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Die Art der Behandlung oder Bestrafung muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG).
Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Die vom Kläger unglaubhaft geltend gemachte Bedrohung kann nicht herangezogen werden, um die Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) zu begründen. Insofern gilt das bereits zu § 3 AsylG ausgeführte.
Der Kläger ist im Falle seiner Rückkehr auch nicht der erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt, § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG.
IV.
Der streitgegenständliche Bescheid ist allerdings insoweit rechtswidrig, soweit das Nichtvorliegen von (zielstaatsbezogenen) Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festgestellt wurde (Ziffer 4 des Bescheids). Vorliegend steht dem Kläger unter insoweiter Aufhebung des Bescheids vom 20. Februar 2017 ein Anspruch auf die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, zu.
Diesbezüglich ist zwar darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Lagebericht, Nr. I.2.) – und die damit zusammenhängenden Gefahren grundsätzlich nicht zu einer individuellen Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen.
Etwas anderes gilt aber in besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – Rn. 22, 36).
1. Vorliegend droht dem Kläger, wie bereits im Rahmen des § 4 AsylG festgestellt wurde, zwar keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte, Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. In Bezug auf Gefahren einer Verletzung des Art. 3 EMRK, die individuell durch einen konkret handelnden Täter drohen, ist daher keine andere Bewertung als bei der Prüfung des subsidiären Schutzes denkbar (vgl. BVerwG, U. v. 13.01.2013, 10 C 15.12).
2. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat jedoch abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dem Kläger droht im Falle einer Abschiebung in sein Herkunftsland Nigeria eine individuelle, konkrete Gefahr in diesem Sinne.
Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen den Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O. Rn. 38).
a) An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Kläger um einen besonders gelagerten Ausnahmefall dahingehend handelt, als dass er offenkundig unter Albinismus leidet. Dabei ist die Krankheit beim Kläger nicht derart ausgeprägt, dass seine Haut komplett weiß wäre. Es ist aber offensichtlich und für jeden erkennbar, dass der Kläger im Vergleich zu der in seinem Heimatland Nigeria lebenden Bevölkerung wesentlich hellere Haut hat. Haare, Augenbrauen und Bart färbt der Kläger dunkel. Bei genauer Betrachtung kann aber leicht erkannt werden, dass seine natürliche Haarfarbe weiß bis hellgelb ist. Insbesondere an seinen Wimpern, die der Kläger nicht färben kann und die daher weiß sind, kann erkannt werden, dass seine natürliche Haarfarbe als weiß bis gelblich zu beschreiben ist. Der Kläger leidet auch erkennbar an einer Sehschwäche, was für Menschen mit Albinismus typisch ist. Der Kläger ist daher besonders in seinem Heimatland, wo allein seine vergleichsweise sehr helle Hautfarbe schon auffällt, als Albino durchaus erkennbar.
b) Laut SSN (NGO Stepping Stones Nigeria) sei der Glaube, dass Albinos auf gefährliche Art und Weise verhext seien oder dass ihre Körperteile bei richtiger Verwendung zu großem Reichtum führen würden vor allem in Tansania, Burundi, in der DR Kongo und Kenia verbreitet. In Nigeria wird über Vergehen an Albinos meist im Zusammenhang mit Ritualmorden berichtet. Während laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) noch vor 10 bis 20 Jahren hauptsächlich ältere Menschen, insbesondere Frauen, der Hexerei beschuldigt worden seien, nehme die Anzahl der Hexereianschuldigungen gegen Kinder mittlerweile zu. Waisen, Straßenkinder, Albinos und Kinder mit Behinderungen würden die größte Gefahr laufen, zu Opfern von Hexereianschuldigungen zu werden. Laut UNICEF würden der Hexerei Beschuldigte verbrannt, geschlagen oder sogar getötet. Armut, Ignoranz und Angst, aber auch die Bezahlung von spiritueller Beratung und Erlösungsritualen, würden dazu führen, dass die Anzahl missbrauchter Kinder, die auf der Straße leben, im Steigen begriffen sei, berichtet die Tageszeitung Daily Independent im November 2010 (Daily Independent, 1. November 2010). Als dritte Kategorie nennt UNICEF Kinder, die aufgrund der magischen Kraft, die ihren Körperteilen zugesprochen werde, verfolgt und getötet würden. Hiervon besonders betroffen seien Albinos, deren Organen, Haaren, Haut und Gliedmaßen magische Kräfte zugesprochen würden. Laut SSN gebe es einen klaren Zusammenhang zwischen Armut und Hexereivorwürfen. Kinder aus armen, unterprivilegierten Gemeinschaften oder Familien, die mit Tod oder Trennung der Eltern konfrontiert seien, seien am schwersten von Stigmatisierungen in Zusammenhang mit Hexerei betroffen. Besonders gefährdet seien Kinder mit Behinderungen oder nicht ganz „normalen Persönlichkeitsstrukturen, was bedeute, dass Kinder, die sich ohnehin in schwierigen Lebensumständen befänden, von zusätzlicher Diskriminierung betroffen seien. Siehe hierzu ACCORD, Austrian Center for County of Origin & Asylum Resaerch and Documentation (Österreiches Rotes Kreuz) vom 17.06.2011.
In gesamt Afrika werden Menschen mit Albinismus gesellschaftlich stigmatisiert und sind häufig Gewalt bis hin zur Tötung ausgesetzt. Wegen ihrer hellen Hautfarbe fallen sie dort besonders auf und werden oft verfolgt. Teilweise besteht der Aberglaube, dass Menschen mit Albinismus übernatürliche Kräfte hätten. Sie werden getötet, um mit ihren Leichenteilen „Zaubertränke“ herzustellen, vgl. etwa bedrohte Völker-progrom (Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker), 2010 S. 82-83; Süddeutsche.de vom 17. Mai 2010, „Albinos abgeschlachtet/Aberglaube in Afrika“, http://www.sueddeutsche.de/panorama/2.220; Zeit online vom 31. Juli 2009, „Verfolgt und getötet“, http://www.zeit.de/campus/2009/04; Stern.de vom 28. Oktober 2007, „Das Schattendasein der weißen Schwarzen“, http://www.stern.de/wissen/mensch/ albinismus; Der Spiegel, „Spuck auf den Boden“, 1993 S. 202-208.
Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen sind derartige Tötungen zwar vor allem in den Ländern Tansania, Kenia, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo und Uganda verbreitet. Dennoch kommen sie auch in Nigeria vor. Menschen mit Albinismus werden auch in der nigerianischen Gesellschaft diskriminiert, sind Aberglauben und Vorurteilen ausgesetzt und werden als „Schande“ für die Familie angesehen. So machen viele Menschen einen großen Bogen um Menschen mit Albinismus, drehen sich angewidert weg, schütteln den Kopf oder bekreuzigen sich.
Das Gericht verkennt insoweit nicht, dass es Angehörigen der Gruppe von Menschen mit Albinismus auch in Afrika in Einzelfällen gelungen ist, ein Amt in der Regierung bzw. ein Staatsamt zu bekleiden oder Popstar zu werden (so etwa Salif Keita aus Mali). Nach Einschätzung des Gerichts handelt es sich jedoch insoweit zunächst lediglich um positive Ausnahmen und Ansätze, deren Umsetzung und Auswirkung auf die in der Gesellschaft verbreiteten Vorurteile und den Aberglauben abzuwarten ist.
c) Der Kläger ist als Mensch, der unter Albinismus leidet, daher Teil einer besonders schützenswerten Gruppe im Hinblick auf eine Abschiebung nach Nigeria. Es drohen ihm daher, über die der Allgemeinheit drohende hinausgehende, besondere Gefahren insbesondere aufgrund der schlechten humanitären und wirtschaftlichen Verhältnisse.
Daran ändert es auch nichts, dass der Kläger im Hinblick auf § 3 AsylG keine individuelle Verfolgungsgeschichte glaubhaft berichten konnte. Insbesondere geht das Gericht davon aus, dass der Kläger entsprechend seiner eigenen Angaben besonders geschützt aufgewachsen ist, möglicherweise sogar im Hinblick auf seine überdurchschnittliche Bildung in einer Privatschule oder einem Internat abgeschottet wurde. Bei einer Rückkehr ist der Kläger als Albino der allgegenwärtigen Gefahr der Diskriminierung, körperlicher Misshandlungen oder sogar Tötung ausgesetzt und wird aufgrund seiner gesellschaftlichen Stigmatisierung keine Arbeit finden, mit der er sich sein Existenzminimum sichern kann.
Ebenso die Tatsache, dass das Gericht den Vorfall im Jahr 2008 als der Kläger quasi „urlaubsbedingt“ nach Nigeria zurückgekehrt ist, als nicht glaubhaft bewertet, ändert nichts an der bestehenden Gefahr für den Kläger. Müsste der Kläger dauerhaft zurück in sein Heimatland, bestünden für ihn wesentlich größere Probleme und Gefahrenfelder, als während eines nur zeitweisen, kurzen Aufenthaltes. Er wäre gezwungen sich eine Unterkunft, sowie eine Arbeit und ein soziales Umfeld zu suchen. Dies sind aber genau die Bereiche in denen Menschen mit Albinismus in Nigeria nicht nur der Diskriminierung, sondern gerade auch der Gefahr der schweren körperlichen Misshandlung ausgesetzt sind. Es kann ihm daher nicht zugemutet werden in sein Heimatland zurückzukehren und sich dieser Gefahr auszusetzen.
V.
Die Gewährung von Abschiebungsschutz hat zur Folge, dass auch die entsprechende Abschiebungsandrohung des streitgegenständlichen Bescheides (Ziffer 5) (§ 34 Abs. 1 AsylG) und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG (Ziffer 6) aufzuheben war.
VI.
Die Kostenentscheidung hinsichtlich des gerichtskostenfreien Verfahrens beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG.


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