Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot hinsichtlich Armenien wegen schwerwiegender Erkrankung – kein Ausschluss wegen rechtsmissbräuchlicher Asylantragstellung

Aktenzeichen  2 B 21.30275

Datum:
17.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16410
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG enthält keine Regelung, wonach bei einer rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung die Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen sein soll (wie BayVGH, B.v. 18.5.2020 – 2 B 19.34078 – BayVBl 2020, 665).
1. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll als Rechtsfolge in der Regel von einer Abschiebung abgesehen werden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG enthält keine Formulierung, wonach bei einer rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung die Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen wäre; die Vorschrift soll kranke Ausländer schützen, unabhängig davon, ob sie Asylantragsteller sind oder nicht. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 6 K 17.35831 2020-07-09 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 9. Juli 2020 wird dahingehend abgeändert, dass die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4, 5 und 6 des Bescheids vom 20. Oktober 2017 – soweit sie die Klägerin betreffen – verpflichtet wird, bei der Klägerin das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens festzustellen.
II. In Abänderung der Kostenentscheidung des verwaltungsgerichtlichen Urteils trägt die Beklagte die Kosten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Die Beklagte trägt ebenso die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Klägerin beantragte am 22. November 2016 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Sie ist nach ihren Angaben armenische Staatsangehörige. Sie legte zahlreiche medizinische Unterlagen vor, die eine Diagnose schwerer Erkrankungen belegen.
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Oktober 2017 wurde der Asylantrag abgelehnt, die Flüchtlingseigenschaft sowie der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Klägerin wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls sie nach Armenien abgeschoben würde. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Dagegen erhob die Klägerin am 26. Oktober 2017 Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Mit Urteil des Erstgerichts vom 9. Juli 2020 wurde die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheids vom 20. Oktober 2017 verpflichtet, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG seien erfüllt. Für die Klägerin sei vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückkehr in ihr Heimatland auszugehen. Aufgrund dessen sei die Klage insoweit begründet, als die Klägerin gegen die Beklagte unter Berücksichtigung der Ausführungen des Verwaltungsgerichts einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuvorbescheidung habe. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots bestehe jedoch nicht. Insoweit bleibe das Verpflichtungsbegehren der Klägerin nur teilweise erfolgreich. Der Asylantrag sei hier allein gestellt worden, um sich so Zugang für die meist aufwendige Betreuung bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. die meist aufwendige Behandlung von Krankheiten im Gesundheits-/Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen. In einem solchen Fall des Rechtsmissbrauchs bedürfe es vor der Feststellung eines Abschiebungshindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des in atypischen Fällen eröffneten Ermessens – ggf. aufgrund ermessenslenkender Vorgaben – von Seiten der Exekutive, die das Gericht nicht ersetzen könne.
Mit Beschluss vom 1. März 2021 ließ der Verwaltungsgerichtshof die Berufung wegen Divergenz zu.
Die Klägerin ist der Meinung, die Rechtsauffassung des Erstgerichts sei weder mit dem Wortlaut des Gesetzes noch mit der ratio legis des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vereinbar.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 9. Juli 2020 den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Oktober 2017 in Ziffern 4 bis 6 aufzuheben, soweit er die Klägerin betrifft, und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
Der Senat wies die Beteiligten darauf hin, dass er der Berufung durch Beschluss stattgeben kann, wenn er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Klägerin war mit einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Eine Äußerung der Beklagten erfolgte nicht.
Hinsichtlich der übrigen Einzelheiten wird auf die Inhalte der Gerichtsakten sowie der dem Gericht vorliegenden Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Entscheidung kann nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO durch Beschluss ergehen, da der Senat die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die zulässige Berufung (§ 124 Abs. 1 VwGO) ist begründet, weil das Verwaltungsgericht die Beklagte zu Unrecht unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 20. Oktober 2017 nur verpflichtet hat, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Die Klägerin hat vielmehr einen Anspruch darauf, dass die Beklagte verpflichtet wird, ein entsprechendes Abschiebungsverbot festzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2020 – 2 B 19.34078 – BayVBl 2020, 665).
Das Erstgericht hat festgestellt, dass der Klägerin wegen der Komplexität und Schwere ihrer Erkrankung und des derzeitigen Zustands des armenischen Gesundheitssystems eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Armenien droht. Es hat die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift detailliert geprüft und als erfüllt angesehen. Der Senat hat keinen Anlass, an dieser Einschätzung zu zweifeln.
Es verletzt die Klägerin in ihren Rechten, in dieser Situation von der Feststellung eines Abschiebungsverbots zu ihren Gunsten abzusehen und die Beklagte lediglich zu verpflichten, erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll als Rechtsfolge in der Regel von einer Abschiebung abgesehen werden. Soweit das Erstgericht der Auffassung ist, dass die Bindung für den Regelfall Abweichungen in atypischen Fällen gestattet, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der automatische „Eintritt“ der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird, kann hier dahinstehen, in welchen Fällen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ein Ermessen für die Beklagte eröffnet. Jedenfalls im vorliegenden Fall ist für die Beklagte kein Ermessen eröffnet. Dies ergibt eine Auslegung des Wortlauts der Vorschrift (s. 1), eine Analyse des Gesetzeszwecks (s. 2) und der Gesetzessystematik (s. 3).
1) Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist in der Regel von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung und die mit einer Erkrankung verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat verschlimmern, ist in der Regel als am Maßstab des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfende individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10. 2006 – 1 C 18.05 – BVerwGE 127,33; B.v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – juris). Die Gesundheitsgefahr muss erheblich sein; die Verhältnisse im Abschiebezielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands, erwarten lassen. Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, dass also eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006, a.a.O.). Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist dementsprechend ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten der Klägerin festzustellen. Der Regelfall, von dem die Vorschrift ausgeht, ist dann eingetreten. Die Norm enthält insbesondere keine Formulierung, wonach bei einer rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung die Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen wäre.
2) Das Verhalten, zuvor missbräuchlich einen Asylantrag gestellt zu haben, widerspricht nicht dem Gesetzeszweck des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dabei kann zunächst offen bleiben, ob die Klägerin den Asylantrag tatsächlich rechtsmissbräuchlich gestellt hat. Denn wie der Antrag nach § 60 Abs. 1 AufenthG auch gestellt werden kann, ohne dass ein Asylantrag gestellt wird (dazu BT-Drs. 15/420 S. 91), so kann die Klägerin auch ihre Rechte aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG isoliert ohne Stellung eines Asylantrags geltend machen. Ist jedoch die Stellung eines Asylantrags weder Voraussetzung noch Bedingung für das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so ist auch nicht einsichtig, wieso ein Verhalten bei der Asylantragstellung Auswirkungen auf die Rechtsposition nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG haben soll. Die Vorschrift soll – unter den dort genannten Voraussetzungen – kranke Ausländer schützen, unabhängig davon, ob sie Asylantragsteller sind oder nicht.
3) Die systematischen Erwägungen des Erstgerichts mit Hinweis auf die Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 5 (jetzt Satz 6) AufenthG überzeugen den Senat nicht. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Bereits dem Wortlaut nach erfasst diese Vorschrift lediglich die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) durch eine politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8; BayVGH, B. v. 21.9.2016 – 10 C 16.1164 – juris Rn. 17). Außerdem wurde hier keine Gefahr geltend gemacht, der die Bevölkerung in Armenien allgemein ausgesetzt ist. Vielmehr geht es um die konkrete individuelle Erkrankung der Klägerin.
Im Übrigen ist für den Senat nicht ersichtlich, in welcher Weise die Beklagte ihr Ermessen nach Rechtsauffassung des Erstgerichts hätte ausüben und welche Gesichtspunkte sie dabei hätte einstellen sollen. Die Klägerin war zum Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung drei Jahre alt. Es ist nicht vorstellbar, dass die Beklagte zu einer Abschiebung des schwerkranken Kindes nach Armenien gelangen könnte, auch wenn dieses inzwischen sieben Jahre alt ist. Einen allgemeinen Rechtssatz, dass ein Asylsuchender sich bei rechtsmissbräuchlicher Asylantragstellung unter bestimmten Voraussetzungen seiner Rechte aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begeben kann, gibt es ebenso wenig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.


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