Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot nach Afghanistan aus medizinischen Gründen

Aktenzeichen  W 1 K 17.30044

Datum:
21.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6602
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Einem Asylsuchenden, der infolge einer depressiven Symptomatik, eines dissoziativen Anfallsleidens sowie chronischer Kopfschmerzen an erheblichen Konzentrations- und Leistungseinschränkungen leidet, ist es in Afghanistan nicht möglich, seinen Lebensunterhalt zu sichern. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Dezember 2016 verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist im noch rechtshängigen Umfang begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 27. Dezember 2016 (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zwar macht der Kläger nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern beruft sich auf die allgemein schlechte Lage in seinem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall jedoch eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (vgl. etwa BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878).
Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O., juris Rn. 16 ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19). Eine solche ist jedoch bei dem Kläger gegeben.
Die aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familienbzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Aus der Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes für Afghanistan vom 28. Juli 2017 ergibt sich insoweit nichts grundlegend Abweichendes: In fast allen Regionen werde von der Bevölkerung die Arbeitslosigkeit als das größte Problem genannt. Die Zahl der neu hinzugekommenen Binnenvertriebenen sei im ersten Halbjahr 2017 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 25% gesunken. Die afghanische Regierung habe unter Beteiligung der internationalen Geberschaft sowie internationaler Organisationen mit der Schaffung einer Koordinierungseinheit zur Reintegration der Binnenflüchtlinge und Rückkehrer reagiert. Ein Großteil der internationalen Geberschaft habe zu-dem beschlossen, die Finanzmittel für humanitäre Hilfe im Rahmen eines Hilfsappells des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Angelegenheit OCHA aufzustocken. Trotz internationaler Hilfe übersteige der derzeitige Versorgungsbedarf allerdings das vorhandene Maß an Unterstützungsmaß-nahmen seitens der Regierung.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Si-cherheitslage vom 14. September 2017, Seite 27 ff.) führt aus, dass Afgha-nistan eines der ärmsten Länder der Welt bleibe, wobei der Anteil der notlei-denden Bevölkerung im Verlaufe des Jahres 2016 um 13% angestiegen sei; 2017 benötigten 9,3 Millionen Afghanen dringend humanitäre Hilfe. Die Arbeitslosenquote sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte rasant angestiegen und inzwischen auch in städtischen Gebieten hoch. Gleichzeitig seien die Löhne in Gebieten, welche von Rückkehrströmen betroffen seien, signifikant gesunken. Nach wie vor seien die meisten Menschen in der Land- und Viehwirtschaft oder als Tagelöhner tätig. Die zunehmenden Rückkehrströme hätten zu einem enormen Anstieg an Unterkunftsbedarf geführt, weshalb sich insbesondere in der Hauptstadt Kabul die Wohnraumsituation extrem verschärft habe. Rund 68% der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu adäquaten Sanitätsinstallationen und ca. 45% keinen Zugang zu aufbereitetem Trinkwasser. Rund 40% der Bevölkerung sei von Lebensmittelunsicherheit betroffen. Die Zahl der von ernsthafter Lebensmittelunsicherheit betroffenen Menschen steige an und umfasse inzwischen 1,6 Millionen Personen. In Gebieten, die von hohen Rückkehrströmen betroffen waren, seien die Lebensmittelpreise stark angestiegen. Etwa 9 Millionen Menschen, in besonderem Maße Frauen und Kinder, hätten keinen oder nur beschränkten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, welchen es auch an angemessener Aus-stattung mangele. Im Jahr 2016 sei der Druck zur Rückkehr auf afghanische Flüchtlinge im Iran und in Pakistan dramatisch angestiegen; Kabul sowie die Provinzen im Norden, Nordosten und Osten des Landes seien in besonderem Maße betroffen gewesen. Rückkehrende fänden oft keine adäquate Unterkunft; sie lebten oft in notdürftigen Behausungen mit schlechten Sanitäranlagen. Der eingeschränkte Zugang zu Land, Nahrungsmitteln und Trinkwasser und die begrenzten Möglichkeiten zur Existenzsicherung stellten eine enorme Herausforderung für diesen Personenkreis dar. Aufgrund der äußerst schwierigen Lebensbedingungen würden Rückkehrende oft zu intern Vertriebenen, deren Zahl Ende 2016 auf etwa 1,4 Millionen Menschen geschätzt worden sei und deren Lage sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert habe. Auch für Flüchtlinge aus Europa gestalte sich eine Rückkehr schwierig. Die Bevölkerung Kabuls solle sich binnen nur sechs Jahren verdreifacht haben. Dort lebten etwa 75% der Bevölkerung in informellen und behelfsmäßigen Behausungen, die oft weder ans Wasserversorgungsnetz noch an die Kanalisation angeschlossen seien. Der Zugang zu Lebensmitteln habe sich rasant verschlechtert, was unter anderem auf die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen sei. Armut sei weit verbreitet. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung Kabuls könne sich keine medizinische Behandlung leisten. Die große Zahl der Rückkehrenden und intern Vertriebenen führe zur Überlastung der bereits äußerst stark beanspruchten Infrastruktur zur Erbringung der Grunddienstleistungen in der Hauptstadt Kabul aber auch andernorts, insbesondere in den wichtigsten Provinzstädten und Bezirken.
Dies zugrunde gelegt steht einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung im Regelfall davon ausgeht, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein Abschiebungsverbot festzustellen ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31652 – juris). Denn abweichend von den Verhältnissen im Regelfall befindet sich der hiesige Kläger nach Überzeugung des Gerichts in einer besonderen Ausnahmesituation; insbesondere stehen vorliegend behandlungsbedürftige gesundheitliche Probleme des Klägers infolge einer psychiatrischen Erkrankung einer Abschiebung entgegen.
Die besondere Situation des Klägers ist vorliegend zentral dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei dem Kläger nicht um einen gesunden jungen Mann handelt, bei dem nach überzeugender obergerichtlicher Rechtsprechung ein nationales Abschiebungsverbot nicht infrage kommt, da sich für diese Bevölkerungsgruppe aus den allgemeinen Verhältnissen noch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ergibt. Denn der Kläger leidet vorliegend nach Überzeugung des Gerichts an rezidivierenden depressiven Episoden – gegenwärtig mittelgradiger Ausprägung (ICD-10: F33.2), dissozialen Krampfanfällen (ICD-10: F44.5) – bisher therapieresistent – sowie chronischen migräneartigen Dauerkopfschmerzen – bisher therapieresistent –, wie sich übereinstimmend und nachvollziehbar aus der psychiatrischen gutachterlichen Stellungnahme des Dr. F. vom 26. Februar 2018, der fachärztlichen Stellungnahme der Dr. B. vom 27. November 2017, dem ärztlichen Attest des Dr. F. vom 28. November 2016 sowie der Stellungnahme des Universitätsklinikums Frankfurt vom 16. Dezember 2017 ergibt. In diesen (fach-) ärztlichen Unterlagen wird überzeugend geschildert, dass der Kläger in Afghanistan eine Reihe schwerwiegender Geschehnisse miterlebt habe, so etwa die Ermordung seines Onkels, die den Kläger stark belasteten. Darüber hinaus leide er aufgrund der Flucht, der fehlenden Zukunftsperspektive und dem ungeklärten Aufenthaltsstatus unter einer fehlenden Verwurzelung. Vor diesem Hintergrund leide der Kläger an den diagnostizierten rezidivierenden depressiven Episoden, die beim Kläger insbesondere zu Antriebslosigkeit, Energieverlust, Konzentrations- und Schlafstörungen, Appetitverlust mit Gewichtsabnahme sowie erheblich reduzierter emotionaler Schwingungsfähigkeit, Freudlosigkeit und Gefühlen von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit führten. Hinzu komme die erhebliche emotionale Dauerbelastung durch die sich nicht ankündigenden dissoziativen Anfälle. In defizitär verarbeiteten Stresssituationen verliere der Kläger das Bewusstsein und erleide nachfolgend einen zerebralen Krampfanfall mit Amnesie, teilweise auch unter Stürzen und Tonusverlust der Muskulatur. Die chronisch wiederkehrenden Kopfschmerzen seien entweder psychosomatisch bedingt oder aber auf eine Migräne zurückzuführen. Die vom Kläger geltend gemachten Beschwerden werden damit durch die fachärztlich erhobenen Befunde bestätigt. Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger in Übereinstimmung mit den im Gerichtsverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen glaubhaft, lebensnah und ohne erkennbare Übertreibungen geschildert, wie er immer wieder unter zum Teil starken Kopfschmerzen leide und dann, ohne dies vorhersehen zu können, mitunter in Ohnmacht falle und stationär behandelt werden müsse. Der in der mündlichen Verhandlung angehörte Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. F., der den Kläger behandelt, hat die zuvor benannten Erkrankungen des Klägers noch einmal glaubhaft, prägnant und nachvollziehbar geschildert.
Angesichts der vom Kläger angegebenen Lebensumstände in Afghanistan vor seiner Flucht, insbesondere der Ermordung des Onkels, bei dem er sich seinerzeit aufgehalten hat, sowie der durch die Flucht eingetretenen Entwurzelung des aktuell erst 19-jährigen Kläger erscheint es dem Gericht auch plausibel, dass der Kläger infolge dieser Erfahrungen tatsächlich an den diagnostizierten Erkrankungen leidet. Hierfür spricht neben den oben benannten aussagekräftigen und überzeugenden ärztlichen Berichten sowie den durch stationäre Krankenhausaufenthalte objektiv nachweisbaren dissoziativen Krampfanfällen auch der persönliche Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Dieser hat auf das Gericht einen psychisch sehr stark belasteten Eindruck gemacht, ohne dass hierbei der Eindruck entstanden wäre, dass der Kläger diese offensichtlich zu Tage tretende psychische Verfassung zielgerichtet im Hinblick auf den Ausgang des Verfahrens einsetzen würde. Für das Vorliegen der diagnostizierten Erkrankungen spricht nach Überzeugung des Gerichts im Übrigen auch, dass der Kläger bereits im Verwaltungsverfahren vor dem Bundesamt von regelmäßigen Kopfschmerzen berichtet hat. Die seinerzeit vorgelegten Berichte und Stellungnahmen belegen bereits zum damaligen Zeitpunkt die depressive Stimmungslage des Klägers sowie die Einnahme eines Antidepressivums. In der Gesamtschau ist das Gericht nach alledem davon überzeugt, dass der Kläger an den oben genannten Krankheiten und Beschwerden leidet und die geklagten Beschwerden nicht auf asyltaktischen Erwägungen beruhen.
Darüber hinaus ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zur Behandlung seiner Erkrankung auf die tägliche Einnahme der beiden Antidepressiva Citalopram sowie Amineuurin angewiesen ist. Die Notwendigkeit der Einnahme des Medikaments Citalopram wird in den jüngsten fachärztlichen Stellungnahmen des Dr. F. vom 26. Februar 2018 sowie der Dr. B. vom 22. Februar 2018 bestätigt (mit abweichender Angabe der Dosis). Der den Kläger regelmäßig behandelnde Dr. F. hat im Rahmen seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft erklärt, dass die aktuelle tägliche Dosis bei 25 mg Citalopram liege. Zusätzlich nehme der Kläger jeweils zur Nacht das Antidepressivum Amineurin. Auch der Kläger selbst hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er die verschriebenen Medikamente täglich einnehme. Darüber hinaus wurde ebenfalls fachärztlich bestätigt, dass der Kläger stabilisierend und supervidierend einer kontinuierlichen psychotherapeutischen Begleitung bedürfe. Diese finde seit März 2017 regelmäßig in 14-tägigen bis monatlichen Abständen statt. Zusätzlich sei der Kläger seit September 2017 in der kontinuierlichen sozialpsychiatrischen Behandlung bei Dr. B. ebenfalls im Abstand von 2-4 Wochen (vgl. fachärztliche Stellungnahme des Dr. F. vom 26. Februar 2018 sowie ärztliche Bescheinigung der Dr. B. vom 22. Februar 2018). Auch wenn der Kläger bezüglich der Psychotherapie angegeben hat, dass ihm diese kurzfristig noch nicht geholfen habe, so hat Dr. F. in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt, dass die psychotherapeutische Hilfe aus ärztlicher Sicht auf längere Zeit angelegt sein müsse, damit sich die Beschwerden des Klägers besserten; sie sei gleichwohl zur Behandlung medizinisch notwendig. Im Hinblick auf die Medikamenteneinnahme hat der Kläger erklärt, dass diese seinen Zustand etwas verbessert habe, was für deren Wirksamkeit spricht.
Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger in Afghanistan gelingen wird, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Denn die Erkrankung des Klägers hat nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung zur Folge, dass der Kläger infolge der depressiven Symptomatik, dem dissoziativen Anfallsleiden sowie der chronischen Kopfschmerzen insbesondere an erheblichen Konzentrations- und Leistungseinschränkungen leidet. Dies ergibt sich zunächst aus den glaubhaften diesbezüglichen Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. In diesem Zusammenhang hat der Kläger eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass seine Konzentration und Leistung in der Schule immer wieder durch seine gesundheitlichen Beschwerden beeinträchtigt werden. Er hat überdies auf das prägnante Beispiel verwiesen, dass er auch ein Praktikum als Verkäufer im Einzelhandel aufgrund der gesundheitlichen Probleme habe abbrechen müssen. Im letzten Schulhalbjahr habe er eine erhebliche Anzahl an Fehltagen gehabt, was auch durch das vorgelegte Zwischenzeugnis der Staatlichen Berufsschule Main-Spessart vom 23. Februar 2018 objektiv bestätigt wird. In Übereinstimmung mit diesen klägerischen Angaben werden auch in den fachärztlichen Stellungnahmen des Dr. F. vom 26. Februar 2018 und der Dr. B. vom 22. Februar 2018 die Konzentrations- und Leistungsminderungen des Klägers bestätigt, was Dr. F. überdies auch in der mündlichen Verhandlung noch einmal überzeugend erläutert hat. In diesem Rahmen hat er überdies auf die erhebliche Gefahr hingewiesen, die für den Kläger durch das unwillkürliche Hinfallen im Rahmen seines Anfallsleidens entstehen kann. Es ist hierbei zu beachten, dass auch die fachgerechte Behandlung des Klägers bei diesem nicht zu einer Symptomfreiheit führt, sondern lediglich zu einer Besserung der Symptome unter Fortbestehen der beschriebenen nicht unerheblichen Beschwerden und Einschränkungen. Überdies hat Dr. F. in seiner Stellungnahme vom 26. Februar 2018 nachvollziehbar die erhebliche Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung der Erkrankung im Falle einer mangelnden Weiterbehandlung herausgestellt. So sei im Falle eines Behandlungsabbruchs von einer rapiden Verschlechterung des Krankheitsbildes auszugehen sei, was letztlich auch mit lebensbedrohlichen Entwicklungen einhergehen werde. Es sei bei einer Unterbrechung der Behandlung mit einer rapiden Zunahme der Anfallsfrequenz, einer Chronifizierung der depressiven Episoden sowie sehr erwartbar auch von suizidalen Handlungen des Klägers auszugehen. Das Risiko für eine solche Entwicklung mit lebensbedrohlichen Verläufen sei aus fachpsychiatrischer Sicht als sehr hoch zu bewerten, wenn auch nur ein therapeutischer Stützpfeiler ausfalle.
Unter diesen Umständen ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei den sehr schwierigen Bedingungen des afghanischen Arbeitsmarktes in dem harten Verdrängungswettbewerb um die wenigen und häufig körperlich anstrengenden Hilfsarbeiten mit der enormen Zahl der uneingeschränkt gesunden und leistungsfähigen jungen Männer bestehen kann, wenn er unter den beschriebenen Auswirkungen seiner Erkrankung und insbesondere unter mangelnder Leistungsfähigkeit leidet. Diese Einschätzung gilt letztlich jedoch auch für jede andere Art der Tätigkeit. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sich die bereits in Deutschland manifestierten Probleme im Zusammenhang mit der beruflichen Belastbarkeit in Afghanistan unter den dort herrschenden äußerst prekären allgemeinen Lebensverhältnissen und den erheblich schwierigeren Bedingungen am Arbeitsmarkt potenzieren werden, sodass der Kläger dort am Arbeitsmarkt nicht wird Fuß fassen können und seinen Lebensunterhalt nicht wird verdienen können. Dieser Einschätzung steht auch nicht entgegen, dass der Kläger bereits früher in Afghanistan unter Kopfschmerzen gelitten hat und dort seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen hat sowie bei seinem Onkel im Lebensmittelgeschäft und als Schreiner tätig war. Denn wie der Kläger überzeugend in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, hat sich seine gesundheitliche Situation seither deutlich verschlechtert, insbesondere habe er die hier aufgetretenen Anfälle in Afghanistan noch nicht gehabt, sodass sich auch die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit gegenüber der damaligen Situation nunmehr als deutlich reduziert darstellt. Zudem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass es sich bei den angegebenen Tätigkeiten offensichtlich um Hilfstätigkeiten im familiären Umfeld gehandelt hat, bei denen sich der Kläger nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat behaupten müssen. Der Kläger verfügt über keine spezifische Berufsausbildung und hat, nachdem er bei seiner Ausreise erst 16 Jahre alt gewesen ist, in Afghanistan niemals auf eigenen Füßen gestanden, sondern bis zu seiner Ausreise stets bei seiner Familie bzw. seinem Onkel gelebt, sodass er über keinerlei Erfahrungen verfügt, wie er in Afghanistan sein Überleben unter den dort herrschenden oben skizzierten sehr schwierigen Bedingungen selbständig sicherstellen kann.
Weiterhin ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger die erforderliche Behandlung, welche die Auswirkungen seiner Erkrankung abmildert, in Afghanistan nicht wird finanzieren können, falls diese dort überhaupt erhältlich sein sollte (vgl. zur fehlenden Behandlungsmöglichkeit: BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064; u.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007, jeweils juris); die Erhältlichkeit der Medikamente Citalopram und Amineurin hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 25. April 2017 gerade nicht dargetan. Das Gericht geht davon aus, dass es dem Kläger weder möglich sein wird, die erforderlichen Antidepressiva, aktuell Citalopram und Amineurin, noch die ebenfalls erforderliche Psychotherapie, und schon gar nicht beide Behandlungsansätze in Kombination, zusätzlich zu den erforderlichen Geldmitteln zur Bestreitung des gewöhnlichen allgemeinen Lebensunterhalts – insbesondere angesichts der beschriebenen Einschränkungen der beruflichen Belastbarkeit – zu finanzieren; dies auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Medikamente in Afghanistan regelmäßig günstiger zu beziehen sind als in Deutschland. Zwar hat jeder Bürger nach der afghanischen Verfassung ein Anrecht auf freie medizinische Versorgung, allerdings gilt dies nur für die staatlichen Krankenhäuser und Einrichtungen, welche die kostenlose Versorgung stets nur im Rahmen der momentanen Verfügbarkeit anbieten können. So ist oftmals die medikamentöse Versorgung in diesen Einrichtungen stark eingeschränkt; die Krankenhausapotheken halten nur eine sehr limitierte Auswahl und Anzahl an Medikamenten kostenfrei vor. Aus diesem Grund muss in der täglichen Praxis oftmals der behandelnde Krankenhausarzt ein Rezept ausstellen, das in privaten Apotheken kostenpflichtig eingelöst werden muss. Überdies existieren etwa in Kabul nur zwei öffentliche Krankenhäuser, die psychiatrische Behandlungen anbieten. Diese beiden Spitäler können den Bedarf an psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen bei weitem nicht abdecken (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft in Kabul vom 29.4.2009; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung vom 5.4.2017, S. 4). Aufgrund dieser Erkenntnismittellage geht das Gericht davon aus, dass der Kläger die erforderlichen Medikamente sowie die ergänzende Psychotherapie in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht kostenfrei erhalten wird.
Darüber hinaus ist das Gericht davon überzeugt, dass Familienmitglieder den Kläger bei der Finanzierung der erforderlichen medizinischen Behandlung nicht werden unterstützen können. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang im Schriftsatz vom 3. März 2018 sowie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, dass seine Familie (Eltern, jüngerer Bruder, Schwester) nicht mehr im Heimatort lebe, sondern aufgrund des militärischen Vordringens der Taliban und deren Machtübernahme nunmehr in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nachbarprovinz Faryab unter wirtschaftlich sehr schlechten Verhältnissen. Für die Richtigkeit dieser Angaben spricht auch, dass der Kläger insoweit bereits beim Bundesamt angegeben hat, dass er seit zehn Monaten keinen Kontakt mehr zu den Eltern gehabt habe, was sich mit der nunmehr geschilderten internen Flucht in Afghanistan, welche ihm im November 2017 bekannt geworden sei, erklären lässt. Überdies ist das Phänomen der Binnenvertreibung infolge des Wiedererstarkens der Taliban in Afghanistan hinlänglich gerichtsbekannt. Der Vater des Klägers sei vor der internen Flucht Landwirt gewesen; Haus und Landwirtschaft hätten zurückgelassen werden müssen und es sei ihm nicht bekannt, was hieraus geworden sei. Der Kläger habe sogar einen Teil seiner eigenen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz an die Eltern in Afghanistan gesendet, um diese dort zu unterstützen. Ein älterer Bruder lebe mittlerweile im Iran und sei dort als Bauarbeiter tätig. Ein weiterer Onkel väterlicherseits lebe in Afghanistan; zu diesem bestehe allerdings kein Kontakt. Angesichts dieser vorstehend skizzierten Umstände, erscheint es nicht realistisch möglich, dass der Kläger zur Finanzierung seiner notwendigen medizinischen Behandlung auf Unterstützung durch seine Familie wird zurückgreifen können. Die Tatsache, dass der Kläger berichtet hat, dass ihm vor seiner Flucht das Schmerzmittel Paracetamol durch den Bruder bzw. den Onkel finanziert wurde, steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Denn zum einen bedarf der Kläger nunmehr spezifischerer und teurerer Antidepressiva sowie zusätzlich einer Psychotherapie, sodass gegenüber der seinerzeitigen Situation von höheren zu finanzierenden Kosten auszugehen ist. Überdies hat sich die familiäre Situation – wie oben geschildert – seither massiv verschlechtert, sodass von einer Unterstützungsmöglichkeit durch Familienmitglieder – wie geschildert – nicht mehr auszugehen ist. Zu berücksichtigen ist auch, dass ein Bruder des Klägers und der Onkel seither verstorben sind.
Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit vorliegend ernsthaft zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG war daher unter Abänderung des Bescheides des Bundesamts vom 27. Dezember 2016 festzustellen.
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 08.09.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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