Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbote von Tschetschenen nach Russland nicht grundsätzlich klärungsbedürftig

Aktenzeichen  11 ZB 17.31950

Datum:
3.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 512
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2, § 77 Abs. 2, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
AufentG § 60 Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Die Frage, ob Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit, denen von den russischen Sicherheitskräften eine Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Dschochar Mussajewitsch Dudajew beziehungsweise eine Unterstützung der tschetschenischen Rebellen vorgeworfen wird, Verfolgung iSd § 3 Abs. 1 AsylG oder ernsthafte Schäden gem. § 4 Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 2 AsylG drohen, war für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ob für tschetschenische Volkszugehörige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Russland vorliegen, ist nicht grundsätzlich klärungsbedürftig. Abschiebungsverbote hängen regelmäßig von den individuellen Gegebenheiten ab. Aus der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung für Tschetschenien lassen sich keine Rückschlüsse auf eine erhebliche individuelle Gefährdung bei einer Rückkehr in die Herkunftsregion ziehen (BVerwG BeckRS 2013, 52985). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 9 K 17.31848 2017-11-03 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da kein Zulassungsgrund hinreichend dargelegt ist (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist. Ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, a.a.O. § 124a Rn. 72). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 1.6.2017 – 11 ZB 17.30602 – juris Rn. 2; OVG NW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/ 17.A). Ist die angegriffene Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, setzt die Zulassung der Berufung voraus, dass für jeden dieser Gründe die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sind (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 124a Rn. 7).
Diese Voraussetzungen erfüllt der Zulassungsantrag nicht. Die Kläger halten für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit, denen von den russischen Sicherheitskräften eine Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Dschochar Mussajewitsch Dudajew beziehungsweise eine Unterstützung der tschetschenischen Rebellen vorgeworfen wird, Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG oder ernsthafte Schäden gemäß § 4 Abs. 1 S.1, 2 Nr. 2 AsylG drohen und ob für diese Personen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufentG besteht. Das Verwaltungsgericht ist in seinem Urteil unter Bezugnahme auf den Gerichtsbescheid vom 21. September 2017 (§ 84 Abs. 4 VwGO) und auf den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. März 2017 (§ 77 Abs. 2 AsylG) jedoch davon ausgegangen, dass der Vortrag der Kläger nicht glaubhaft sei und es sich deshalb nicht davon überzeugen konnte, dass die Kläger von russischen Sicherheitskräften der Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Dudajew bzw. der Rebellen bezichtigt werden. Die von den Klägern formulierte Frage war daher für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich.
Soweit das Verwaltungsgericht darüber hinaus hilfsweise angenommen hat, den Klägern stehe auch eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, kommt es darauf nicht entscheidungserheblich an. Es kann daher offen bleiben, ob besondere Umstände vorliegen, die einen Verweis auf eine inländische Fluchtalternative zumutbar machen würden, selbst wenn eine Verfolgung von staatlichen Stellen ausgehen würde (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2017 – 11 ZB 17.30904 – juris Rn. 3 ff. m.w.N.).
Soweit die Kläger darüber hinaus für grundsätzlich klärungsbedürftig halten, ob für tschetschenische Volkszugehörige unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Russland vorliegen, kann auch dies nicht zur Zulassung der Berufung führen. Zum einen hängen Abschiebungsverbote regelmäßig von den individuellen Gegebenheiten ab, z.B. möglicher staatlicher Unterstützung (vgl. dazu International Organization for Migration [IOM], Länderinformationsblatt „Russische Föderation“ 2017), familiärer Rückhalt im Heimatland, berufliche Perspektiven, gesundheitliche Situation und sind einer grundsätzlichen Klärung nur bedingt zugänglich. Zum anderen nennen die Kläger auch keine aktuellen Erkenntnismittel, aus denen sich ergibt, dass für alle tschetschenischen Volkszugehörigen Abschiebungshindernisse vorliegen könnten. Der genannte „7. Bericht der Bundesregierung über die Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen“ bezieht sich nach seiner Vorbemerkung auf den Zeitraum 1. April 2002 bis 28. Februar 2005 und ist damit nicht mehr aktuell. Aus der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung für Tschetschenien lassen sich keine Rückschlüsse auf eine erhebliche individuelle Gefährdung der Kläger bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion ziehen (vgl. BVerwG, B.v. 27.6.2013 – 10 B 11/13 – juris Rn. 6: keine Indizwirkung für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1, 3 AufenthG). Auch aus dem im Zulassungsverfahren bezeichneten undatierten Informationsblatt über Tschetschenien auf der Homepage der Gemeinde Gauting, das ohne Angabe eines Datums allgemeine Informationen über Tschetschenien enthält, lassen sich keine Rückschlüsse auf eine Gefährdung der Kläger ziehen. Die Kläger setzen sie sich auch weder mit den der gerichtlichen Einschätzung zugrunde liegenden, im angefochtenen Bescheid benannten Auskünften noch mit den rechtlichen Maßstäben bei der Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, insbesondere dem erforderlichen Grad einer individuellen Gefährdung, auseinander (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 – juris Rn. 13 ff.; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – NVwZ 2012, 454 = juris Rn. 14 ff.; U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 = juris Rn. 21 ff. m.w.N.).
Gemäß dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 22. Juli 2017 haben sich die Lebensbedingungen in der Russischen Föderation gegenüber 2012 zwar verschlechtert und die medizinische Versorgung ist nur auf einfachem Niveau gesichert. Zugleich haben sich aber die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Angesichts dieser Auskunftslage ist nicht ersichtlich, dass die Gesamtsituation in der Russischen Föderation zu Abschiebungsverboten für alle tschetschenischen Volkszugehörigen führen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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