Verwaltungsrecht

Äthiopischer Staatsangehöriger, volljährig, Volkszugehörigkeit: Ogadeni;, Vorfluchttatbestand;, Zeitraum: 2015, Akteur: Äthiopische Sicherheitskräfte, Vorwurf: Unterstützung ONLF;, Inhaftierung;, Flucht aus Haft;, mangelnde Glaubhaftigkeit;, Veränderte Lage;, Interner Schutz;, Keine gesundheitlichen Probleme geltend / glaubhaft gemacht, keine Unterhaltslast;, familiäres Netzwerk vorhanden.

Aktenzeichen  M 13 K 17.45785

Datum:
14.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13701
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AsylG § 3e
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 7
§ 77 Abs. 2 AsylG.

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. 
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 14. Januar 2022 über die Verwaltungsstreitsache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Folge ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.
II.
Die Klage ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 6. Juli 2017 ist – in dem zur Entscheidung des Gerichts gestellten Umfang – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
Der Kläger hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) – weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) – hierzu sogleich unter Ziffer 1 und 2.
Darüber hinaus hat das Bundesamt zu Recht festgestellt, dass keine zielstaatsbezogenen nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG zu Gunsten des Klägers bestehen – hierzu sogleich unter Ziffer 3.
Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtmäßig – hierzu sogleich unter Ziffer 4.
Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AslyG zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a) AsylG) und keiner der Ausschlussgründe der § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt.
Weitere Einzelheiten regeln die §§ 3a – d AsylG in Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 20. Dezember 2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie). Erforderlich ist demnach eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, 2 AsylG, die an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG anknüpft und von einem Akteur i.S.v. § 3c AsylG ausgeht. Weiter muss es an einem effektiven Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat fehlen (§§ 3d, 3e AsylG). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere dieser Verfolgungsgründe zu treffen. Ob eine Verfolgungshandlung „wegen“ eines der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen. Die Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein (BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – NVwZ 2018, 1408, juris Rn. 13). Für die „Verknüpfung“ reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Gerade mit Blick auf nicht selten komplexe und multikausale Sachverhalte ist nicht zu verlangen, dass ein bestimmter Verfolgungsgrund die zentrale Motivation oder die alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme ist. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG nicht (BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Zur Beurteilung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen ist, muss das Gericht eine Verfolgungsprognose unter zusammenfassender Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts anstellen. Maßgeblich ist hierbei der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32). Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32; VGH BW, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn. 31 ff; BayVGH, U.v. 14.2.2017 – 21 B 16.31001 – juris Rn. 21).
Grundsätzlich obliegt es dem Asylsuchenden bzw. dem um Flüchtlingsschutz Nachsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass er bei verständiger Würdigung einer Verfolgung im oben genannten Sinne ausgesetzt war bzw. eine solche im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden (vgl. OVG Münster, Urt. v. 14.2.2014 – 1 A 1139/13.A – juris Rn. 35 m.w.N.).
Von den in die eigene Sphäre des Asylsuchenden fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, zu unterscheiden sind die in den allgemeinen Verhältnissen des Herkunftslandes liegenden Umstände, die eine begründete Furcht vor Verfolgung rechtfertigen sollen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.1 983 – 9 C 68.81 – Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44 / juris Rn. 5). Hinsichtlich dieser Verhältnisse reicht es wegen seiner zumeist auf einen engeren Lebenskreis beschränkten Erfahrungen und Kenntnisse aus, wenn er Tatsachen vorträgt, aus denen sich – ihre Wahrheit unterstellt – hinreichende Anhaltspunkte für eine nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland ergeben (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.1983 – 9 C 6 8.81 – juris Rn. 5). Hier ist es Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen, die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine von Rationalität und Plausibilität getragene Prognose zu treffen (OVG Hamburg, Urt. v. 18.1.2018 – 1 Bf 81/17.A – juris Rn. 43 m.w.N.).
In Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsland sind die Gerichte dabei regelmäßig darauf angewiesen, sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Erkenntnismittel gleichsam mosaikartig ein Bild zu machen und die Prognose, ob bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu treffen (vgl. zum Vorstehenden OVG Hamburg, U.v. 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A – juris Rn. 31-39).
Gemessen daran lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien sowie den eigenen Angaben des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt und derjenigen in der mündlichen Verhandlung nicht zur Überzeugung des Gerichts feststellen, dass dem Kläger im Falle seiner hypothetischen Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.
a. Insbesondere ergibt sich eine solche Bedrohung nach Überzeugung des Gerichts nicht aus dem seitens des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Vorfluchttatbestand, wonach er nach Verhaftung, Inhaftierung und Folter wegen vermeintlicher Unterstützung der OLF durch äthiopische Sicherheitskräfte im Jahr 2014 nach etwa einem Jahr Haft im Juni 2015 während eines nächtlichen Transports zum außerhalb des Gefängnis gelegenen Ort der Folter bei einem Angriff von Widerstandskämpfern auf den Gefangenenkonvoi habe entkommen und zu seiner Tante nach Jigjiga fliehen und sich dort zunächst verstecken, sich der anschließenden Fahndung jedoch nur durch Ausreise habe entziehen können und im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien daher (immer noch) befürchten müsse, wegen seiner Flucht aus der Haft mit dem Tode bestraft zu werden.
Die Tatsache, dass ein Asylsuchender bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 – 1 C 29/17 – NVwZ 2018, 1408, juris Rn. 15). Die den früheren Handlungen oder Bedrohungen zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (EuGH, Urt. v. 2.3.2010, C-175/08 u.a., NVwZ 2010, 505 / juris Rn. 94). Fehlt es an einer entsprechenden Verknüpfung, so greift die Beweiserleichterung nicht ein (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 – 1 C 29.17, NVwZ 2018, 1408 / juris Rn. 15). Die widerlegliche Vermutung entlastet den Vorverfolgten von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 – 1 C 29/17 – NVwZ 2018, 1408 / juris Rn. 15).
(1) Jedoch ist der vom Kläger dargelegte Vorfluchttatbestand nach Überzeugung des Gerichts bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht glaubhaft. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass der Kläger Äthiopien nicht vorverfolgt verlassen hat.
Insbesondere ist es dem Kläger im Rahmen seiner informatorischen Anhörung durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung am 14. Januar 2022 – auch auf entsprechende Nachfragen des Gerichts hin – nicht gelungen, entscheidende Widersprüche seines bisherigen Vortrags auszuräumen, so dass das Gericht hinsichtlich dieser Punkte der Begründung des angefochtenen Bescheids folgt und von einer weiteren Darstellung der Gründe absieht, § 77 Abs. 2 AsylG.
Vielmehr hat sich der Kläger mit Teilen seines ergänzenden Vortrags zusätzlich zu den bereits bestehenden Widersprüchen in weiteren Widerspruch zu seinen bisherigen Angaben vor dem Bundesamt gesetzt, ohne eine stichhaltige Erklärung zu liefern, weshalb er bezüglich der betreffenden Umstände bei seinen beiden Anhörungen vor dem Bundesamt noch andere Angaben gemacht hat:
So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Umstände seiner Flucht aus der Haft während des Angriffs auf den Konvoi auf explizite Frage des Gerichts hin angegeben, er sei nicht gefesselt gewesen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er noch angegeben, seine Augen seien verbunden gewesen und seine Hände vor dem Bauch gefesselt (was eine Flucht oder auch das Erfassen der Situation (Augen verbunden!) viel schwieriger und unglaubhafter machte).
Außerdem hatte der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt noch angegeben, die Suche nach der Tante habe mehr Tage in Anspruch genommen. Erstmals in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger angegeben, sein mit ihm geflohener Mithäftling habe gewusst, wo die Tante wohnt und ihn sofort nach ihrer Ankunft in Jigjiga dorthin gebracht.
Davon abgesehen zeigen sich – auch nach der informatorischen Anhörung des Klägers – weiterhin zentrale Geschehensabläufe des geltend gemachten Vorfluchttatbestandes derart unrealistisch, als dass davon ausgegangen werden kann, dass sie sich – vor allem derart summiert – so ereignet haben.
Neben den Umständen der Flucht aus der Haft während des Angriffs auf dem Konvoi und seinem Weg zur Tante in Jigjiga (zufällig Angriff auf den Konvoi / Entkommen u.a. trotz monatelanger täglicher Folter und schlechtem Gesundheitszustand und Kugelhagel, Dunkelheit und unbekanntem Gebiet / fünf Tage Fußmarsch trotz schlechter körperlicher Verfassung / selbstlose Unterstützung durch Mitgefangenen ohne Rücksicht auf dessen eigenen Sicherheitsinteressen) sowie den Umständen seiner Flucht vor den anrückenden Sicherheitskräften vom Haus seiner Tante (Tante sieht die Straße heraufkommende Polizisten noch rechtzeitig, Kläger kann durch den Hinterausgang und mit Hilfe eines sofort zur Verfügung stehenden Motorradtaxis entkommen) ist dies insbesondere auch der angeblich wenige Stunden vor Anrücken der Sicherheitskräfte bei der Tante des Klägers in Jigjiga ergangene „Drohanruf“. Sollten der Kläger tatsächlich inhaftiert und aus der Haft entkommen und die Sicherheitskräfte darauf aus gewesen sein, den Kläger wieder zu ergreifen, wäre ein solcher (in diesem Fall dann eher Vorwarndenn Droh-)Anruf völlig kontraproduktiv. Dass sich die Sicherheitskräfte derart dilettantisch verhalten haben sollen (wo doch zugleich der Kläger an anderer Stelle wiederum suggeriert, diese würden ihn überall in Äthiopien aufspüren können), überzeugt das Gericht vorliegend nicht.
Das Gericht folgt deshalb auch hinsichtlich der soeben genannten Punkte der Begründung des angefochtenen Bescheids und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Gründe ab, § 77 Abs. 2 AsylG.
(2) Unabhängig davon haben sich ganz allgemein gesehen die Verhältnisse im Bundesstaat Somali – was die Art der vom Kläger geltend gemachten Verfolgung betrifft – grundlegend verändert.
Von 1994 bis August 2018 herrschte im Regionalstaat Somali eine von der Zentralregierung nur unzureichend kontrollierte Regional-Diktatur unter Regionalpräsident Abdi Mohammed Omar, auch bekannt als Abdi Iley (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 4).
Die unmittelbar der Regionalregierung unterstehende (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020), paramilitärisch aufgebaute (AA, Lagebericht v. 4.3.2015, S. 8) Liyu-Police entstand zwischen 2007 und 2009 (Landinfo, Oslo, Ethiopia: Spesialpolitiet (Liyiu Police) i Somaliregionen, 3.6.2016, S. 2). Der Bestand der regulären Polizei hingegen wurde seit Gründung der Liyu-Police auf nahezu null reduziert (AA, Lagebericht v. 4.3.2015, S. 8).
Hauptzweck der Liyu-Police war die Bekämpfung der Ogaden National Liberation Front (ONLF) (Landinfo, Oslo, Ethiopia: Spesialpolitiet (Liyiu Police) i Somaliregionen, 3.6.2016, S. 2), einer 1984 gegründeten Organisation mit dem Ziel der Selbstbestimmung für die Volksgruppe der Ogadeni, eines somalischen Clans, in dem von ihm bewohnten bzw. beanspruchten Gebiet Ogaden, welches größtenteils auf dem Gebiet des Regionalstaates Somali liegt (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 10). Die ONLF hatte zunächst nach dem Sturz der Regierung Mengistu durch die EPRDF zwischen 1992 und 1994 mit dem Placet der EPRDF das Gebiet des heutigen Regionalstaates Somali verwaltet. Als die ONLF 1994 eine Volksabstimmung über die Selbstbestimmung von Ogaden forcierte und ihr daraufhin die Regierungsverantwortung wieder entzogen wurde, ging sie als Rebellenarmee in den Untergrund (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 10) und wurde daraufhin von der Regierung als als terroristische Vereinigung eingestuft (AA, Lagebericht v. 4.3.2015, S. 4).
Die Liyu-Police wird für einen Großteil der in dieser Zeit (2007 bis Mitte 2018) im Regionalstaat Somali begangenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7).
So ging die Liyu-Police – sowie zu deren Unterstützung eingesetzte lokale Milizen (AA, Lagebricht v. 4.3.2015, S. 6) – in ihrem Kampf gegen die ONLF nicht nur hart, oftmals auch mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen tatsächliche oder auch nur vermutliche Unterstützer und Angehörige der ONLF, vor (AA, Lagebericht v. 4.3.2015, S. 5) – so existieren zahlreiche Berichte von Folter und Misshandlung, insbesondere während der Untersuchungshaft und von Häftlingen, die unter Verdacht stehen, mit Terrororganisationen in Verbindung zu stehen (AA, Lagebericht v. 4.3.2015, S. 5).
Auch politisch völlig unauffällige Zivilsten wurden oftmals Opfer willkürlicher Übergriffe und Verhaftungen durch Liyu-Polizisten (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7).
Die äthiopische Zentralregierung konnte im Laufe der Jahre immer weniger direkten Einfluss auf die Liyu-Police und auf deren Befehlshaber, Regionalpräsident Abdi Iley ausüben (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020).
Der 2018 erfolgte Machtwechsel auf Ebene der Bundesregierung brachte jedoch mit zeitlicher Verzögerung auch für die Somali-Region einen tiefen Einschnitt (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 4).
Die amtierende Regionaldiktatur von Abdi Iley wurde entmachtet, Abdi Iley und weitere Mitglieder der alten Regierung verhaftet und wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 3-4). Im August 2018 wurde mit Mustafa Omer ein vormaliger Menschenrechtsaktivist an die Spitze der Regionalregierung Somalis gestellt (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 3).
Die ONLF ist seit dem 5. Juli 2018 nicht mehr als terroristische Organisation eingestuft (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 5), Ende 2018 kehrten die Parteiführer der ONLF und eine große Zahl Parteimitglieder und ehemaliger Kämpfer aus dem Exil zurück bzw. wurden aus dem im September 2018 geschlossenen Regionalgefängnis Jail Ogaden freigelassen (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 3 und 5).
Auch auf Ebene der regionalen Sicherheitskräfte, insbesondere der Liyu-Police, führte der Machtwechsel zu tiefgreifenden Veränderungen:
Während des gewaltsamen Machtwechsels 2018 hatte die Bundesarmee ihren Vormachtsanspruch durchgesetzt und einen Großteil der Liyu-Police entwaffnet (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 8).
Die führenden Kommandanten der Liyu-Police mussten sich einem zweimonatigen Beurteilungsverfahren in der Regionalhauptstadt Jigjiga unterziehen. Einige wurden daraufhin entlassen, andere erhielten eine Unterweisung über Menschenrechte und über die Verfassung und blieben im Amt (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7).
Zwar blieben die unteren Ränge der Liyu-Police vom Führungswechsel weitgehend unangetastet, ehemalige Täter damit teils auch weiter im Dienst (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7). Jedoch ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass ca. 70 Prozent der Liyu-Polizisten ursprünglich ONLF-Mitglieder waren, welche entweder durch Zwang oder wirtschaftliche Anreize der Liyu-Police beitraten, die Zugehörigkeit zu dieser Einheit somit oftmals mehr äußeren Umständen geschuldet den Ausdruck des eigenen ideologischen Standpunktes war (SEM, Lageentwicklung im Regionstaat Somali, 28.2.2020, S. 8).
Seither hat sich das Auftreten der Liyu-Police grundlegen verändert (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020).
Berichte von willkürlichen Übergriffen und Verhaftungen durch Liyu-Polizisten, auch gegenüber politisch unauffälligen Zivilsten, gibt es seitdem kaum noch (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7). Die Polizisten sind in der Regel nicht mehr mit Feuerwaffen bewaffnet (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7) und verhalten sich in der Regel diszipliniert und höflich (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 7). Auch das Ende der Behördenwillkür hat positiven Einfluss auf die Sicherheitslage im Regionalstaat Somali (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 9).
ONLF-Mitglieder sind keinen systematischen staatlichen Repressalien wegen ihrer politischen Ausrichtung mehr ausgesetzt, weder im Regionalstaat Somali, noch in Addis Abeba (SEM, Lageentwicklung im Regionalstaat Somali, 28.2.2020, S. 5 / 6).
Auch den aktuellen Erkenntnismitteln über den Staat Äthiopien aus den Jahren 2020, 2021 und 2022 (siehe etwa AA, Lagebericht v. 18.1.2022; USDOS, Human Rights Report v. 30.3.2021; AI, Amnesty Report Äthiopien v. 7.4.2021; HRW, Lagebericht v. 1.1.2021) ist nicht zu entnehmen, dass sich – bezogen auf den Regionalstaat Somali bzw. die ONLF – diesbezüglich zwischenzeitlich die Lage wieder grundlegend zum Schlechteren verändert hat, auch nicht infolge des seit Ende 2020 bestehenden bewaffneten Konflikts zwischen Bundesregierung und TPLF im Norden des Landes und den damit auf Seiten der Zentralregierung und der Sicherheitskräfte einhergehenden repressiven Tendenzen.
Vielmehr ist die derzeitige Sicherheitslage im Bundesstaat Somali relativ stabil – verglichen mit nördlicher gelegenen Landesteilen, wie etwa den Bundesstaaten Tigray, Afar und Amhara, aber auch Teilen Oromias (etwa Wolega Region), in denen es im Zuge der Kämpfe zwischen TPLF und verbündeten Milizen / Widerstandsgruppen einerseits und den äthiopischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten andererseits immer wieder (von beiden Seiten) auch zu willkürlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und Menschenrechtsverletzungen kommt – (siehe ACCORD, Armed Conflict Location & Event Data Project – 3. Quartal 2021).
Insbesondere gibt es derzeit keine Berichte, dass die ONLF ihren bewaffneten Kampf gegen den äthiopischen Staat und dessen Sicherheitskräfte wieder aufgenommen hat (siehe AA, Lagebericht v. 18.1.2022). Auch wurde die ONLF, anders als etwa die gegen die Zentralregierung kämpfende (oromische) OLF, nicht wieder als Terrororganisation eingestuft.
Auch gibt es keine aktuellen Berichte über willkürliche Verhaftungen / Tötungen im Bundesstaat Somali (vgl. USDOS, Human Rights Report v. 30.3.2021; AI, Amnesty Report Äthiopien v. 7.4.2021; HRW, Lagebericht v. 1.1.2021).
Vor diesem Hintergrund (Machtwechsel 2018 / Umbau der Sicherheitskräfte / Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage) und angesichts der Tatsache, dass seit den vom Kläger geltend gemachten Ereignissen (angebliche Flucht aus der Haft erfolgte im Juni 2015) über sechseinhalb Jahre verstrichen sind, ist es bereits ganz allgemein nicht hinreichend wahrscheinlich, dass Betroffenen, die im Zeitraum von 2010 bzw. 2014 / 2015 unter dem (oftmals auch nur pauschalen) Vorwurf (vermeintlicher) ONLF-Unterstützung – Verfolgung seitens der Sicherheitskräfte, insbesondere der Liyu-Police ausgesetzt waren, im Falle einer Rückkehr im Jahr 2022 immer noch bzw. erneut Verfolgung seitens der äthiopischen Sicherheitsbehörden droht.
(3) Unabhängig davon bestand bezüglich dem vom Kläger geltend gemachten Vorfluchttatbestand bereits 2015 die Möglichkeit internen Schutzes durch Verlagerung des Wohnsitzes in einen anderen Landesteil, welche sich durch die oben beschriebenen geänderten Machtverhältnisse und der damit einhergehenden Umstrukturierung der Sicherheitskräfte sowie der Entkriminalisierung der ONLF nochmals deutlich vereinfacht hat.
Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).
Bei der Zumutbarkeit sind in einer umfassenden wertenden Gesamtbetrachtung die allgemeinen sowie individuellen Verhältnisse am Ort der Niederlassung in den Blick zu nehmen. Dies betrifft insbesondere die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums. Maßstab für eine Zumutbarkeit ist, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zu besorgen ist (vgl. BVerwG, U. v. 18.2.2021 – 1 C 4.20 – juris Rn. 27).
Bei der vom Kläger geltend gemachte Verfolgung durch die Sicherheitskräfte des Regionalstaates Somali 2014 / 2015 handelte es sich bereits bei seiner Ausreise 2015 um eine lediglich regionale, räumlich auf den Bundesstaat Somali und die Gebiete mit erhöhter ONLF-Aktivität begrenzte Bedrohung.
Wie bereits oben ausgeführt, unterstand die Liyu-Police im vorliegend relevanten Zeitraum (2010 und v.a. 2014 / 2015) allein der damaligen, diktatorisch regierenden Regionalregierung des Bundesstaates Somali, deren Machterhalt sie zugleich schützte. Wie ebenfalls oben ausgeführt, hatte die Zentralregierung kaum bis keinen Einfluss auf die Geschehnisse in Somali.
Vor diesem Hintergrund war es Betroffenen, insbesondere unpolitischen Zivilisten oder einfachen Unterstützern jenseits der zentralen Führungsriege der ONLF bereits zu diesem Zeitpunkt möglich, einer Verfolgung durch die Liyu-Police aufgrund (vermeintlicher) Unterstützung der ONLF durch Verlagerung ihres Wohnsitzes in einen anderen Bundesstaat (und damit außerhalb des Herrschaftsbereiches der Regionalregierung) in Gebiete, in denen die ONLF nicht aktiv ist und damit kein Bedarf einer pauschalen und rigorosen Bekämpfung seitens staatlicher Akteur besteht, zu entgehen (AA, Lagebericht v. 4.3.2015, S. 15).
Auch der vom Kläger vorgebrachte Umstand, dass er (unter dem Vorwurf, Unterstützer der ONLF zu sein) inhaftiert und sich dieser Haft (illegal) entzog, stand und steht dem nicht entgegen, da Äthiopien bis heute über kein zentrales Straf- und Fahndungsregister verfügt (siehe hierzu AA, Lagebericht v. 18.1.2022, S. 25), auf Grundlage dessen die Gefahr bestand und noch besteht, dass Behörden anderer Bundesstaaten eine etwaige Flucht des Klägers aus einer im Bundesstaat Somali verordneten Haft verfolgen oder den Kläger an die Regionalbehörden Somalis übergeben würden.
Durch den Machtwechsel und die in diesem Zusammenhang erfolgte Entkriminalisierung der ONLF sowie Umstrukturierung und Neuausrichtung der Liyu-Police (s.o.) ist ein Ausweichen sogar noch einfacher möglich. Denn selbst wenn die konkreten Täter aus der Vergangenheit – wie oben angeführt – weiterhin Teil der (lokalen) Sicherheitskräfte sein sollten und entgegen der neuen Vorgaben ihrer Vorgesetzten und der grundsätzlich gewandelten „Kultur“ in ihrer Einheit lokal eine Verfolgung einzelner Betroffener / Opfer von damals wieder aufnehmen sollten, besteht vorliegend nun auch die Möglichkeit, innerhalb des Bundesstaates Somali und damit innerhalb des bekannten sprachlichen und kulturellen Raums sich der Bedrohung durch Verlagerung des Wohnsitzes in einen anderen Teil des Bundesstaates zu entziehen.
Unter Berücksichtigung der aus den vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien hervorgehenden allgemeine Lage sowie der individuellen Situation des Klägers ist davon auszugehen, dass es dem Kläger auch in einem anderen Landesteil gelingen wird, für sich eine existenzsichernde Lebensgrundlage zu schaffen – siehe hierzu die Ausführungen im Rahmen der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK unter Ziffer 3. a. (1).
b. Sonstige, eine begründete Furcht vor Verfolgung i.S.d. §§ 3 ff AsylG begründende Umstände sind weder von Klägerseite – auch auf entsprechende Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung -vorgetragen worden noch anderweitig ersichtlich.
2. Der Kläger hat über dies auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
a. (1) Davon, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien infolge des geltend gemachten Vorfluchttatbestandes oder seiner angeblichen exilpolitischen Betätigung ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr.2 AsylG (Todesstrafe / Folter / unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) droht, hat der Kläger das Gericht, wie bereits soeben im Rahmen der §§ 3 ff AsylG dargelegt, nicht überzeugen können.
(2) Auch finden die Regelungen über den Internen Schutz nach § 3e AsylG über § 4 Abs. 3 AsylG auch im Rahmen des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG Anwendung, so dass auch insoweit auf die zur Flüchtlingseigenschaft gemachten Ausführungen verwiesen werden kann.
b. Auch mit Blick auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und den Konflikt zwischen TPLF und Bundesregierung im Norden Äthiopiens, in den Bundesstaaten Tigray sowie in Teilen der Bundesstaaten Afar und Amhara ist keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers im Falle seiner Rückkehr beachtlich wahrscheinlich. Bei einer Einreise des Klägers über den Internationalen Flughafen von Addis Abeba und einer Weiterreise von dort in den Bundesstaat Somali wird der Kläger mit dem Kampfgebiet nicht in räumlichen Kontakt kommen.
3. Des Weiteren bestehen zu Gunsten des Klägers auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Da das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid allein eine Abschiebung nach Äthiopien angedroht hat, kommt es für die Feststellung von Abschiebungsverboten ausschließlich auf die Situation in Bezug auf Äthiopien an.
Einer Abschiebung des Klägers nach Äthiopien stehen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Insbesondere besteht vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, nach seiner Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken – sogleich unter a. sowie b. jeweils unter (1).
a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
(1) Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (sowie von Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht, vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (siehe § 3c AsylG), fehlt, wenn die humanitären Gründe mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Hygiene und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12 m.v.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41 738/10, Paposhvili/Belgien – NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/1, C. .a. – NVwZ, 691, Rn. 68). Dieses Mindestmaß kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden menschenunwürdigen Verelendung setzt dabei keine „Extremgefahr“ voraus, die für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG notwendig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, 1 B 25.18 – juris Rn. 13). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung (EuGH, Urteile v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim – JZ 2019, 999, Rn. 89 ff., und C-163/17, Jawo, InfAuslR 201 9, 236, Rn. 90 ff.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 21.1 .2 0 1 1, 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 252 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12; OVG Hamburg, U.v. 18.12.2019 – 1 Bf 132/17.A – juris, Rn. 39).
Gemessen an diesen Grundsätzen besteht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien sowie den eigenen Angaben des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung am 14. Januar 2022 nach Überzeugung des Gerichts vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein wird, sein Existenzminimum zu decken.
Auch bei Berücksichtigung von Umständen, die erst nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetreten sind, wie etwa die sich durch Heuschreckenplage, Dürrekatastrophe, Tigray-Konflikt und COVID-19-Pandemie / in diesem Zusammenhang national wie international ergriffener Maßnahmen ergebenden Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage, Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Äthiopien geht das Gericht davon aus, dass es dem Kläger weiterhin möglich sein wird, für sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls mit zusätzlicher Unterstützung seiner Familie decken zu können.
Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 14. Januar 2022 angegeben, dass seine Mutter, seine Schwestern und die früher in Jigjiga lebende Tante (alle jetzt Kenia) sowie seine beiden Brüder (beide zuletzt: Libyen) sich nicht mehr in Äthiopien befinden würden. Jedoch verfügt er weiterhin über Familienangehörige in Äthiopien (Onkel und Tante), auf deren Unterstützung er gegebenenfalls zurückgreifen kann.
Auch hat der Kläger die letzten Jahre über in der Bundesrepublik als Lagerarbeiter gearbeitet. Physische oder psychische Beeinträchtigungen, die seine Arbeitsfähigkeit relevant einschränken und/oder nennenswerte zusätzliche finanzielle Belastungen (für Medikamente oder ärztliche Behandlung) mit sich bringen, wurden weder glaubhaft gemacht noch sind diese anderweitig ersichtlich. Der Kläger ist damit arbeitsfähig und arbeitswillig.
Darüber hinaus kann er seine während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik erworbenen Deutschkenntnisse im Falle einer Rückkehr gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt einsetzen, etwa in der Tourismusindustrie oder als Dolmetscher / Mitarbeiter für westliche Hilfsorganisationen oder die deutsche Auslandsvertretung.
Zudem ist der ledige und kinderlose Kläger keinerlei Unterhaltslasten gegenüber Dritten ausgesetzt.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Kläger im Falle einer freiwilligen Rückkehr zudem auf umfangreiche Leistungen diverser Rückkehrerprogramme zurückgreifen kann (https://www.returningformgermany.de/de/programmes; abgerufen am 14.2.2022):
Neben einer einmaligen finanziellen Starthilfe von 1.000 EUR pro Person sowie der Übernahme der Reisekosten im Rahmen des Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany (REAG) sowie des Government Assisted Repatriation Programme (GARP) sind dies u.a.:
Im Vorfeld, noch vor seiner Rückkehr nach Äthiopien: Rückkehrvorbereitende Maßnahmen (RkVM) wie etwa Coachings und Workshops in entsprechender Sprache zur Existenzgründung im Zielstaat.
Nach Ankunft in Äthiopien: Reintegrationsunterstützungen, zum einen in Form von nicht-monetären Unterstützungsleistungen wie etwa (neben der In-Empfangnahme am Flughafen u.a. auch) die Unterstützung beim Aufbau eines kleinen Unternehmens oder bei der Jobsuche sowie die Unterstützung bei der Suche nach Kontaktpersonen im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien, sowie ggf. auch weitere finanzielle Unterstützung wie etwa die sog. 2. Starthilfe nach sechs bis acht Monaten im Rahmen des sog. StarthilfePlus-Programms.
b. Ebenso wenig besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
(1) Liegen – wie hier – die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes wegen schlechter humanitärer Bedingungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Bad.-Württ., U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris Rn. 282).
(2) Auch in Äthiopien derzeit bestehende allgemeine Gesundheitsgefahren begründen vorliegend kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Ansteckung mit dem auch in Äthiopien grassierenden Sars-Cov-2-Virus und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung.
Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine (hier: Gesundheits) Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wie etwa die sämtliche Menschen in Äthiopien treffende Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-Cov-2-Virus und einer daran anschließenden COVID-19-Erkrankung, wird Abschiebungsschutz grundsätzlich ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1AufenthG gewährt.
Allerdings kann ein Ausländer in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Fehlen einer solchen generellen Regelung ausnahmsweise dann individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der im Zielstaat herrschenden allgemeinen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn in diesem Fall gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
Zwar besteht auch für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien, wie für jeden anderen Menschen in Äthiopien auch, die Gefahr, sich dort mit SARS-CoV-2 anzustecken und infolge dessen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Jedoch ist die Gefahr hinsichtlich des Klägers nicht derart extrem, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien „sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgesetzt würde (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 -, juris Rn. 16) und deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entfällt.
So kann eine COVID-19-Erkrankung zwar bei schwerem Verlauf zum Tod führen oder zumindest schwere, dauerhafte bzw. lange andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Auch hängt der Grad der Gefahr, im Falle eines schweren Verlaufes zu sterben, neben individuellen Faktoren wie etwa der gesundheitlichen Disposition des Erkrankten sowie der bei Ansteckung ausgesetzten Virusmenge u.a. auch von allgemeinen Umständen wie Qualität und Kapazitäten der vor Ort vorhandenen medizinischen Behandlung (Personal / Intensivbetten / Sauerstoff etc.) sowie den vor Ort ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen ab. Jedoch ist der Kläger jung, gesund und ohne Vorerkrankungen und weist auch im Übrigen keinen Risikofaktor für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion auf.
(3) Aktuelle (!) individuelle gesundheitliche Gründe in der Person des Klägers, die einer Abschiebung nach Äthiopien entgegenstehen könnten, wurden vorliegend nicht durch ein aktuelles, den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechendes qualifiziertes ärztliches Attest nachgewiesen
4. Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbotes begegnen keinerlei rechtlichen Bedenken.
Klarzustellen ist hierbei, dass die nach § 11 Abs. 1 AufenthG a. F. getroffene Entscheidung über die Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes unter Geltung des am 21.08.2019 in Kraft getretenen § 11 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl I, Satz 1294) als behördliche Anordnung eines solchen Verbots auszulegen ist (vgl. zur zuvor erfolgten Auslegung in Übereinstimmung mit der RL 2008/115/EG – Rückführungsrichtlinie – BVerwG, B.v. 13.07.2017 – 1 VR 3/17 – juris).
Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass das Bundesamt insoweit nicht (mehr) i. S. d. § 114 Satz 1 VwGO pflichtgemäß von dem ihm nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffneten Ermessen bezüglich der Länge der Frist Gebrauch gemacht hätte.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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