Verwaltungsrecht

Afghanistan: Regelmäßig nationales Abschiebungsverbot für Familien mit minderjährigen Kindern

Aktenzeichen  13a B 20.30347

Datum:
29.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32707
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 6
EMRK Art. 3, Art. 8
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Schlechte humanitäre Bedingungen können eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Dies ist bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern unter den in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen der Fall, so dass für sie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht (Fortführung der bisherigen Rechtsprechung).

Verfahrensgang

Au 5 K 16.31285 2018-10-30 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. Oktober 2018 wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juli 2016 hinsichtlich der Nummern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans festzustellen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Von den Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger ¾ und die Beklagte ¼ zu tragen.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Über die Berufung konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten im Hinblick auf die SARS-CoV-2-Pandemie hierauf übereinstimmend verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO; allg. zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auch BVerwG, B.v. 8.6.2020 – 1 B 27.20 – juris Rn. 15).
Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 128 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt ist nach der zum Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) verpflichtet, festzustellen, dass bei dem Kläger das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 = juris Rn. 16 und 17). Das gilt auch mit Blick auf den Verfolgungsvortrag des Klägers im Zusammenhang mit den Kuchis, den er schon im Klageverfahren nicht mehr weiterverfolgt hat. Nachdem er die Klage, soweit sie auch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gerichtet war, zurückgenommen hatte, beschränkte er sein Vorbringen auf seine familiäre Situation und verwies darauf, dass über die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote für ihn nur unter Berücksichtigung seiner Ehefrau und des im Februar 2019 erwarteten, gemeinsamen Kindes entschieden werden könne. Für eine Familie mit Kleinkind sei ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen der humanitären Lage in Afghanistan festzustellen (SP S. 4 f.). In seiner Berufungsbegründung hat sich der Kläger ebenfalls allein auf seine familiäre Situation gestützt. Unter Zugrundelegung einer gemeinsamen Rückkehr der Familie sei unter Beachtung der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorlägen, weil Familien mit minderjährigen Kindern Gefahr liefen, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
1. Zunächst ist festzuhalten, dass bei der Prüfung der Anforderungen aus § 60 Abs. 5 AufenthG nicht von einer Rückkehr des Klägers als Einzelperson auszugehen ist. Vielmehr gilt, dass die unstreitig mit dem Kläger in Deutschland zusammenlebende Ehefrau des Klägers und das gemeinsame Kind im Rahmen der gebotenen Gefahrenprognose bei Rückkehr ins Heimatland zu berücksichtigen sind. Das hat das Bundesverwaltungsgericht nach Erlass des hier angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg entschieden (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 – juris Rn. 15 ff.) und wird von der Beklagten im Berufungsverfahren auch nicht mehr in Abrede gestellt. Hiernach ist für die Prognose, welche Gefahren dem einzelnen Ausländer bei Rückkehr in das Herkunftsland drohen, bei im Bundesgebiet „gelebter“ Kernfamilie nicht die Situation des jeweiligen Ausländers bei individueller Prüfung, sondern allein die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen. Hierbei sei von einer – zwar notwendig hypothetischen, aber doch – realitätsnahen Rückkehrsituation auszugehen. Lebe der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, sei für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewähre zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthalte aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern habe, und gebiete die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation sei daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt werde. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes würden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setze eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)bestehe und infolgedessen die Prognose rechtfertige, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr sei auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden sei. Näherer Betrachtung mögen bei tatsachengestütztem Missbrauchsverdacht auch Fälle bedürfen, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft nicht schon im Herkunftsland bestanden habe, sondern erst nach der Einreise begründet worden sei, oder es sich nicht um leibliche Kinder zumindest eines der Ehegatten handle. Seine entgegenstehende Rechtsprechung (BVerwG, U.v. 27.7.2000 – 9 C 9.00 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 39 S. 63 f.; U.v. 23.5.2000 – 9 C 2.00 – juris Rn. 2; U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – BVerwGE 109, 305), die das Verwaltungsgericht vorliegend noch zugrunde gelegt hat, hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich aufgegeben.
2. Gemessen an diesen Grundsätzen ist für die Prognose, welche Gefahren dem Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan drohen, nicht eine Rückkehr des Klägers alleine, sondern eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen. Unter dieser Prämisse sind im Fall des Klägers die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben.
a) Ob der Ehefrau des Klägers bereits ein Abschiebungsverbot zuerkannt wurde, die Voraussetzungen hierfür durch die Heirat mit dem Kläger zwischenzeitlich wieder entfallen sind und ob ein Widerrufsverfahren initiiert wurde, wie die Beklagte vorträgt, bleibt ohne Relevanz. Denn nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Regelfall eine gemeinsame Rückkehr zugrunde zu legen, unabhängig davon, ob einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 – juris Rn. 19 ff.).
b) Vorliegend handelt es sich um eine „im Bundesgebiet gelebte Kernfamilie“. Der Kläger hat bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht die (religiöse) Heiratsurkunde, die Urkunde über die Vaterschaftsanerkennung und im Zulassungsverfahren auch die Geburtsurkunde seines Sohnes vorgelegt. Insoweit besteht auch Einigkeit zwischen den Beteiligten. Insbesondere hat die Beklagte im Berufungsverfahren mitgeteilt, dass es sich bei der jetzigen Ehefrau des Klägers wegen der Heirat mit diesem nicht mehr um eine besonders schutzbedürftige alleinstehende Frau handle und deshalb ein Widerrufsverfahren initiiert worden sei (Schreiben v. 13.3.2020). Dass die familiäre Gemeinschaft nicht schon im Heimatland bestanden hat, sondern erst im Bundesgebiet begründet wurde, ändert an diesem Ergebnis nichts. Die Beklagte hat insoweit auch keine Bedenken geäußert. Bei der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 4.7.2019 a.a.O.) spielte diese Problematik keine Rolle, da die dortige Familie bereits gemeinsam Afghanistan verlassen hat und in das Bundesgebiet eingereist ist. Deshalb befasst sich das Bundesverwaltungsgericht hiermit nicht explizit. Dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich entnehmen, dass maßgeblich allein darauf abzustellen ist, ob eine im Bundesgebiet „gelebte“ Kernfamilie besteht. Bereits die einleitende Beschreibung der Thematik lautet (Rn. 15) nur „bei im Bundesgebiet,gelebter‘ Kernfamilie“ und lässt die Situation im Heimatland außen vor. Auch wenn es sodann unter Randnummer 17 heißt „Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft…“, kann diese Formulierung nur dahin verstanden werden, dass eine familiäre Gemeinschaft allein in Afghanistan nicht ausreichend ist. Sie muss vielmehr in Deutschland ebenfalls gelebt werden. Das ergibt sich aus Randnummer 18, in der als Voraussetzung für die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr eine familiäre Gemeinschaft gefordert wird, „die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden“. Der Klammerzusatz „(fort-)“ zeigt, dass maßgeblich nicht auf die Situation in Afghanistan, sondern im Bundesgebiet abgestellt werden muss. Das wird dadurch bestätigt, dass das Bundesverwaltungsgericht lediglich bei einem Missbrauchsverdacht eine nähere Betrachtung in den Fällen fordert, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft erst nach der Einreise begründet worden sei (Rn. 23). Wenn nur im Missbrauchsfall eine nähere Betrachtung geboten ist, bedeutet das im Umkehrschluss, dass im Regelfall – wie hier – gegen eine erst im Bundesgebiet entstandene familiäre Lebensgemeinschaft nichts einzuwenden ist.
c) Auch der Umstand, dass der Kläger und seine Ehefrau keine standesamtliche Eheschließungsurkunde vorgelegt und nach eigenen Angaben lediglich nach religiösem Ritus geheiratet haben, vermag eine getrennte Rückkehrprognose nicht zu rechtfertigen. Insoweit besteht zwischen dem Kläger, seiner Ehefrau bzw. Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind eine familiäre Beziehung, die sich auch in der tatsächlichen Lebensgemeinschaft ausdrückt und damit als Familie ebenfalls unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK steht (siehe BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris). Hinsichtlich des Kindes ist weder bestritten noch sind Zweifel ersichtlich, dass es ein gemeinschaftliches Kind des Klägers und seiner Ehefrau ist, zumal die Vaterschaftsanerkennung vorgelegt wurde.
3. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 – juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8 juris Rn. 25; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 – Rn. 278 ff.; BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris m.w.N.).
a) Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11) bzw. sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – NVwZ 2019, 785 – juris Rn. 89 ff. und C-163/17 – NVwZ 2019, 712 – juris Rn. 90 ff.; siehe auch BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 – juris Rn. 12). Die genannte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris m.w.N.).
Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 – juris Rn. 26).
b) Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen in Afghanistan weisen eine Intensität auf, bei der auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist, wenn der Kläger mit seiner Familie nach Afghanistan zurückkehren müsste. Dass bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern unter den in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen eine solche Gefahrenlage anzunehmen ist und in der Folge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mit Urteilen vom 21. November 2014 entschieden (13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197 = juris und 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212 = juris) und dies mit Urteilen vom 23. März 2017 (13a B 17.30030 – AuAS 2017, 175 = juris Rn. 14) sowie vom 21. November 2018 (13a B 18.30632 – juris) bestätigt. Daran hat sich auch unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse nichts geändert.
Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts (Lagebericht Afghanistan v. 16.7.2020, S. 17 ff. – Lagebericht 2020) ist zu entnehmen, dass Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt sei. Auch die Weltbank prognostiziere einen weiteren Anstieg der Armutsrate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert werde. Zusätzlich belaste die Covid-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gebe es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Die Grundversorgung sei für große Teile der afghanischen Bevölkerung – insbesondere Rückkehrer – weiterhin eine tägliche Herausforderung. UNOCHA erwarte, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u.a. Unterkunft, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung) angewiesen sein würden. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen, verschärft durch die Dürre 2018, hätten dazu geführt, dass ca. zwei Mio. afghanische Kinder unter fünf Jahren als akut unterernährt gelten würden. Jedoch habe die afghanische Regierung 2017 mit der Umsetzung eines Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Seit 2002 habe sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibe sie im regionalen Vergleich zurück. Die Zahlen der Rückkehrer aus dem Iran seien auf einem hohen Stand (2019: 485.000; 2018: 775.000), während ein deutliches Nachlassen an Rückkehrern aus Pakistan zu verzeichnen sei (2019: 19.900; 2018: 46.000). Für Rückkehrer leisteten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Das Fehlen sozialer oder familiärer Netzwerke könne Rückkehrern die Reintegration stark erschweren, da von diesen etwa der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich abhänge (siehe zum Ganzen: Lagebericht 2020, S. 22-25).
Laut dem Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO, Country Guidance: Afghanistan, S. 132-135) vom 1. Juni 2019 habe die Dürre im Jahr 2018 mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung betroffen; die Einkommen seien halbiert worden. Laut einem Hungersnotfrühwarnsystem sei die Versorgungslage in Kabul und Mazar-e-Sharif im Dezember 2018 angespannt gewesen. Herat sei in die Kategorie „Krise“ eingestuft worden. Der Hauptfaktor hinsichtlich des Zugangs zu Nahrungsmitteln sei die Fähigkeit einer Person, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten; dies könne bei Vertriebenen besonders schwierig sein. 72% der afghanischen städtischen Bevölkerung lebe in Slums oder unzureichenden Unterkünften. Etwa 70% der Bevölkerung Kabuls lebe in informellen Siedlungen. Die afghanischen Großstädte böten jedoch gerade für Alleinstehende die Option relativ billigen Wohnens in sog. „Teehäusern“. Unter Berufung auf eine Untersuchung der Zentralen Statistikbehörde Afghanistans (Afghanistan Living Conditions Survey – ALCS) wird ausgeführt, der Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen habe sich bedeutend verbessert. Jedoch bleibe der Zugang zu Trinkwasser für viele Afghanen ein Problem, die sanitären Anlagen seien weiterhin schlecht. Laut dem afghanischen Gesundheitsministerium hätten im April 2018 60% der Bevölkerung Zugang zu medizinischer Versorgung gehabt. Nach ALCS habe 2016/17 die Arbeitslosenquote 23,9% betragen, zu diesem Zeitpunkt hätten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze gelebt. Für Rückkehrer sei das erweiterte familiäre Netzwerk überaus wichtig, um Zugang zu Arbeit und Unterkunft zu erhalten. Selbst mit einem solchen Netzwerk blieben jedoch unbegleitete Minderjährige, alleinstehende Frauen bzw. Haushalte mit Frauen als Haushaltsvorstand besonders vulnerabel. Viele Rückkehrer ohne familiäre Netzwerke würden sich in den Großstädten in der Annahme niederlassen, dass die Sicherheitslage und die Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu bestreiten, dort besser seien. Zum Teil würden nach Afghanistan abgeschobene Personen in der Anfangsphase auch Reintegrationshilfen erhalten. Angesichts der allgemeinen Lage sei es generell – vorbehaltlich individueller Umstände – zwar nicht unzumutbar, sich in den Großstädten Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif niederzulassen. In diesem Zusammenhang sei jedoch der Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk oder finanziellen Mitteln von besonderer Bedeutung.
Ausweislich des Länderinformationsblatts Afghanistan des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 13. November 2019 (BFA, S. 328 ff.) sei Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Armutsrate habe sich auf 55% (2016) verschlechtert. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gebe es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Die afghanische Wirtschaft sei stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig und stütze sich hauptsächlich auf den informellen Sektor. Schätzungen zufolge seien 1,9 Mio. Afghanen arbeitslos, wobei Frauen und Jugendliche am meisten mit der Krise auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen hätten. Bei der Arbeitsplatzsuche spielten Fähigkeiten, die sich Rückkehrende im Ausland angeeignet haben, sowie persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Bei Arbeitslosigkeit werde lediglich beratende Unterstützung angeboten, zu der auch rückkehrende afghanische Staatsangehörige Zugang hätten. Rund 45% oder 13 Mio. Menschen seien in Afghanistan von anhaltender oder vorübergehender Lebensmittelunsicherheit betroffen. Der Anteil an armen Menschen sei gestiegen. Das im Jahr 2016 ins Leben gerufene Citizens‘ Charter Afghanistan Projekt (CCAP) ziele darauf ab, die Armut zu reduzieren und den Lebensstandard zu verbessern. Rückkehrer hätten zu Beginn meist positive Reintegrationserfahrungen, insbesondere durch die Wiedervereinigung mit der Familie, jedoch sei der Reintegrationsprozess oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Neben der Familie kämen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basierten auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder beruflichen sowie politischen Netzwerken. Fehlten lokale Netzwerke oder sei der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt, könne dies die Reintegration stark erschweren. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Rückkehrer erhielten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehrten, und internationalen Organisationen (z.B. IOM, UNHCR) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrende sähen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollten Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Regierung Afghanistans bemühe sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrende zu vergeben. Mehrere Studien hätten jedoch Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess gefunden. IOM biete im Bereich Rückkehr verschiedene Programme zur Unterstützung und Reintegration von Rückkehrern an.
Nach den aktualisierten UNHCR-Richtlinien (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.8.2018, S. 36 f., 125 f.) sind die humanitären Indikatoren in Afghanistan auf einem kritisch niedrigen Niveau. Ende 2017 sei bezüglich 3,3 Mio. Afghanen ein akuter Bedarf an humanitärer Hilfe festgestellt worden; nunmehr kämen weitere 8,7 Mio. Afghanen hinzu, die langfristiger humanitärer Hilfe bedürften. Über 1,6 Mio. Kinder litten Berichten zufolge an akuter Mangelernährung, wobei die Kindersterblichkeitsrate mit 70 auf 1.000 Geburten zu den höchsten in der Welt zähle. Ferner habe sich der Anteil der Bevölkerung, die laut Berichten unterhalb der Armutsgrenze lebe, auf 55% (2016/17) erhöht, von zuvor 33,7% (2007/08) bzw. 38,3% (2011/12). 1,9 Mio. Afghanen seien von ernsthafter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Geschätzte 45% der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu Trinkwasser, 4,5 Mio. Menschen hätten keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. In den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans herrsche die seit Jahrzehnten schlimmste Dürre, weshalb die Landwirtschaft als Folge des kumulativen Effekts jahrelanger geringer Niederschlagsmengen zusammenbreche. 54% der Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons – IDPs) hielten sich in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöhe und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärke; die bereits an ihre Grenze gelangten Aufnahmekapazitäten der Provinz- und Distriktszentren seien extrem belastet. Dies gelte gerade in der durch Rückkehrer und Flüchtlinge rapide wachsenden Hauptstadt Kabul (Anfang 2016: geschätzt 3 Mio. Einwohner). Flüchtlinge seien zu negativen Bewältigungsstrategien gezwungen wie etwa Kinderarbeit, früher Verheiratung sowie weniger und schlechtere Nahrung. Laut einer Erhebung aus 2016/17 lebten 72,4% der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unzulänglichen Wohnverhältnissen. Im Januar 2017 sei berichtet worden, dass 55% der Haushalte in den informellen Siedlungen Kabuls mit ungesicherter Nahrungsmittelversorgung konfrontiert gewesen seien.
Auch laut einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile – Update, 12.9.2019, S. 20-23) werden Rückkehrer in der Regel de facto zu Binnenvertriebenen, da sie aufgrund der bewaffneten Konflikte und fehlender Netzwerke meist nicht in ihre afghanischen Herkunftsorte zurückkehren könnten. Rückkehrer wie Binnenvertriebene lebten meist in informellen Siedlungen und notdürftigen Unterkünften. Der Zugang zu Grunddienstleistungen sei für die gesamte afghanische Bevölkerung eingeschränkt, Rückkehrer und Binnenvertriebene seien jedoch noch stärker betroffen. So hätten rückkehrende Familien einen nur eingeschränkten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen. Rückkehrer und Binnenvertriebene benötigen meist langfristige Unterstützung, um sich lokal integrieren zu können. Insbesondere alleinstehende Frauen, ältere Menschen, unbegleitete Minderjährige und andere verletzliche Personengruppen seien auf spezielle Unterstützung angewiesen. Der Mangel an Grunddienstleistungen wie Wasser, adäquate sanitäre Einrichtungen, Unterkunft und Lebensmittel beeinträchtige den Gesundheitszustand der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer. Die Suche nach Unterkünften gehöre zu den absoluten Prioritäten sowohl der Binnenvertriebenen als auch der Rückkehrer. Durch die Dürre habe sich die Lage zusätzlich zugespitzt. Der Zugang zu Lebensmitteln und Wasser bilde in Kabul (geschätzte Einwohnerzahl: 3,5 – 5,5 Mio. Menschen) eine der größten Herausforderungen. Gemäß einer Studie von Oxfam seien die meisten Rückkehrer bezüglich Unterkunft und Unterstützung von ihren Verwandten abhängig. Die hohe Zahl an Rückkehrer und intern Vertriebenen verstärke die Nachfrage nach Dienstleistungen, sozialer Infrastruktur und beeinträchtige die Aufnahmefähigkeit des Landes.
Letztlich gehen auch die aktualisierten UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 weiterhin (vgl. bereits UNHCR, Richtlinien v. 19.4.2016, S. 99) davon aus, dass alleinstehende leistungsfähige afghanische Männer sowie verheiratete Paare in erwerbsfähigem Alter als Rückkehrer grundsätzlich auch ohne ein Unterstützungsnetzwerk ihren zumutbaren Lebensunterhalt in Afghanistan sicherstellen könnten, soweit im Einzelfall keine besonderen Gefährdungsfaktoren gegeben seien. Diese Personen könnten unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung böten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stünden (siehe zum Ganzen: UNHCR, a.a.O., S. 125; BayVGH, B.v. 2.10.2020 – 13a ZB 18.30862 – juris; U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris; vgl. auch OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 282 ff.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 113; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 422 f.). Zum selben Ergebnis gelangt auch das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen in seinem Bericht vom 1. Juni 2019 (EASO, a.a.O., S. 137).
c) Zusammenfassend lässt sich den Berichten und Auskünften nicht entnehmen, dass seit dem Jahr 2014 von einer Verbesserung der Situation ausgegangen werden könnte. Wie schon damals ausgeführt, ist unter den dargestellten Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit minderjährigen Kindern im Allgemeinen nicht möglich. Im Fall des Klägers wäre zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Ehefrau bzw. Mutter die Betreuung für das gemeinsame Kind gewährleisten muss und zum Lebensunterhalt nicht beitragen kann. Angesichts der enorm hohen Arbeitslosigkeit wird es an Arbeitsmöglichkeiten für den Kläger fehlen, vor allem aber an einem Verdienst, der für den Lebensunterhalt seiner Familie ausreicht.
Der Einwand der Beklagten, bei dem Kläger und seiner Familie lägen besonders begünstigende Umstände vor, weil er auf Unterstützungsmöglichkeiten zurückgreifen könne, greift nicht durch. Etwaige besondere Umstände, die den Kläger und seine Familie von dem der Rechtsprechung des Senats zugrundeliegenden Regelfall unterscheiden und eine andere Beurteilung rechtfertigten, sind weder zu erkennen noch zeigt die Beklagte solche hinreichend deutlich auf. Allein die Tatsache, dass in Afghanistan – wovon im Regelfall auszugehen sein dürfte – noch Familienangehörige leben, ist für eine abweichende Beurteilung noch nicht ausreichend. Vielmehr müsste hierfür im Einzelfall festgestellt werden können, dass die Familienangehörigen etwa aufgrund überdurchschnittlicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse zur Unterstützung in der Lage sind. Insoweit stellt die Beklagte vorliegend nur in den Raum, dass der Kläger ausnahmsweise auf einen tragfähigen Familienverband in Afghanistan zugreifen könnte, führt aber nicht näher aus, weshalb dies im Einzelnen der Fall sein sollte. Das wäre schon deshalb geboten gewesen, weil sich aus den Angaben des Klägers gerade nicht ergibt, dass ihm eine unterstützungsfähige Großfamilie zur Verfügung stünde. Soweit die Beklagte unterstellt, in Afghanistan lebten zwei Brüder, zwei Schwestern und zwei Onkel mit ihren jeweiligen Familien, beruht dies allein auf den Angaben des Klägers bei der Anhörung vor dem Bundesamt. Mit dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung setzt sich die Beklagte in keiner Weise auseinander. Dort hat der Kläger nämlich ausgeführt, dass nunmehr lediglich sein Onkel mütterlicherseits noch in Kabul lebe. Seine Mutter und Geschwister lebten im Iran, zur Verwandtschaft väterlicherseits habe er keinen Kontakt mehr. Wegen des Krieges habe sich die (Groß-)Familie zerstreut, die Verwandten hielten sich teilweise im Iran, teilweise in Pakistan auf. Dies wird von der Beklagten nicht berücksichtigt. Ebenso wenig wird in die Beurteilung mit einbezogen, dass der einzig noch in Kabul verbleibende Onkel mütterlicherseits kaum in der Lage sein dürfte, die Familie des Klägers zu unterstützen, weil er – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – selbst nur als Tagelöhner arbeitet. Diese Angaben des Klägers werden weder von der Beklagten angezweifelt noch liegen entsprechende Anhaltspunkte dafür vor, dass sie nicht zutreffend wären. In der Gesamtschau lassen sich damit keinerlei begünstigende Umstände erkennen, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten. Vielmehr wäre der Kläger gezwungen, für sich und seine Familie eine neue Existenz aufzubauen, ohne dass ihm hierbei entsprechende Hilfen zur Verfügung stünden.
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dies gelingen kann. Ohne Hilfe würde sich die Familie weder ernähren können noch wären die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Es kann nicht angenommen werden, dass die Familie eine adäquate Unterkunft finden würde, in der auch minderjährige Kinder angemessen leben können, insbesondere weil der afghanische Staat schon jetzt kaum mehr in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Durch den enormen Bevölkerungszuwachs – etwa eine Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation – gerät er zusätzlich unter Druck (Lagebericht 2020, S. 22). Das Fehlen einer effizienten Städtepolitik und wirksamer Regelwerke sowie eine schwache und ineffektive Regierungsführung haben den UNHCR-Richtlinien 2018 zufolge zu einem Anstieg der Armut und Ungleichheit in städtischen Gebieten geführt; demnach befindet sich ein großer Anteil der städtischen Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen Berichten zufolge in informellen Siedlungen in schlechter Lage und mit mangelnder Anbindung an Versorgungsdienste (UNHCR-Richtlinien 2018 S. 39). Nach einer vom UNHCR wiedergegebenen Umfrage zu den Lebensbedingungen in Afghanistan für 2016/2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder anderweitig unter unzumutbaren Wohnverhältnissen (UNHCR-Richtlinien 2018 S. 39). Erschwerend kommen die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie hinzu. Auch wenn der Senat im Fall von alleinstehenden männlichen arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen entschieden hat, dass sich aus den zum Entscheidungszeitpunkt vorhandenen Erkenntnismitteln keine Erkenntnisse für eine relevante Gefährdung durch die Auswirkungen der Pandemie ergäben (BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris), trifft das für Familien mit minderjährigen Kindern nicht zu. Wenn für diese nach ständiger Rechtsprechung schon vor Ausbruch der Pandemie eine menschenwürdige Existenz nicht gewährleistet war, ist das im Hinblick auf die Pandemie vielmehr erst recht nicht der Fall.
Der Senat hat bereits mit Urteil vom 21. November 2014 und zuletzt mit Urteil vom 21. November 2018 festgestellt, dass mögliche Unterstützungsleistungen zwar für die erste Zeit nach der Rückkehr einen vorübergehenden Ausgleich zu schaffen vermögen, aber nicht dazu geeignet sind, auf Dauer eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten (BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197 = juris Rn. 29; vgl. auch VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 486). Neuere und anderslautende Erkenntnisse hierzu sind weder ersichtlich noch hat solche die Beklagte vorgetragen.
In der Gesamtschau kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass einer Familie mit minderjährigen Kindern unter den dargestellten Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung, die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage im Allgemeinen möglich ist. Vielmehr liegt bei den geschilderten Verhältnissen ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Für den Kläger mit seiner Familie besteht nach wie vor die ernsthafte Gefahr, dass sie keine adäquate Lebensgrundlage finden würden und keine Unterkunft sowie Zugang zu sanitären Einrichtungen hätten. Es steht zu erwarten, dass ihnen die zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse erforderlichen finanziellen Mittel fehlen würden. Ohne Hilfe würden sie sich weder ernähren können noch wären die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Da auch keine Aussicht auf Verbesserung der Lage besteht, ist davon auszugehen, dass der Kläger mit seiner Ehefrau und einem minderjährigen Kind nach wie vor Gefahr liefen, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die einen Mangel an Respekt für ihre Würde offenbart (siehe EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413).
d) Hiermit übereinstimmend kommt das Sächsische Oberverwaltungsgericht (U.v. 16.8.2019 – 1 A 342/18.A – juris) ebenfalls zum Ergebnis, dass die Sicherung des Lebensunterhalts auch auf einfachstem Niveau am Rande des Existenzminimums für Familien mit minderjährigen Kindern nicht zu bewältigen wäre. Kinder hätten bekanntermaßen besondere Bedürfnisse und reagierten auf das Fehlen bestimmter Voraussetzungen etwa bei der Unterkunft, den hygienischen Verhältnissen und der Versorgung mit Lebensmitteln deutlich empfindlicher als ein Erwachsener in der gleichen Situation. Eine längere Phase der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten beim Aufbau einer neuen Lebensgrundlage, die einem Erwachsenen noch zugemutet werden könnte, sei für minderjährige Kinder nicht hinnehmbar. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg gelangt zur Einschätzung, dass in ganz Afghanistan kein Ort ersichtlich sei, an dem eine Familie in mit Art. 3 EMRK vereinbaren Verhältnissen leben könnte, wenn nicht auf Grund der individuellen Situation – etwa wegen besonderer persönlicher oder sonstiger (Ver-)Bindungen oder eines Netzwerks am betreffenden Ort – die Existenzsicherung dort gewährleistet wäre (VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 492). Zwar hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (U.v. 18.6.2019 – 13 A 3741/18.A – juris) im Fall einer Familie mit zwei minderjährigen Kindern das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG verneint. Dem dortigen Fall lag jedoch die besondere Konstellation zugrunde, dass der Familienvater – ein sehr erfolgreicher Bauleiter bzw. Ingenieur – bereits große berufliche Erfahrung hatte und über fortbestehende Kontakte verfügte. Zudem gab es familiäre Bindungen, insbesondere zu einem erwachsenen Sohn mit abgeschlossenem Studium an der amerikanischen Universität in Kabul.
Die Beklagte war deshalb unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. Oktober 2018 und Aufhebung von Nummern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts vom 20. Juli 2016 zu verpflichten, festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO sind nicht gegeben.


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