Verwaltungsrecht

Alleinstehende Frau ohne schutzbereite männliche Familienangehörige, Irak, Bestimmte soziale Gruppe

Aktenzeichen  B 3 K 20.30075

Datum:
18.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 33616
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 3 b Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 17.01.2020 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, weshalb die entsprechende Verpflichtung nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO auszusprechen war.
1. Die Klägerin ist ohne schutzbereite männliche Familienangehörige auf sich alleingestellt und gehört deshalb zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG, weshalb ihr die Flüchtlingseigenschaft zusteht (VG Bayreuth; U.v. 16.3.2021 – 3 K 19.30866; ders. U.v. 17.6.2020 – B 3 K 18.31815; ders. U.v. 21.11.2019 – B 3 K 19.31176; VG Stade, U.v. 23.7.2019 – 2 A 19/17, Rn. 46; VG Aachen, U.v. 17.5.2019 – 4 K 1634/17.A; VG Weimar, U.v. 17.4.2019 – 6 K 20181/17 We; VG Hannover, U.v. 10.4.2019 – 6 A 2689/17; U.v. 26.2.2018 – 6 A 6292/16, VG Karlsruhe, U.v. 21.2.2019 – A 10 K 4198/17, VG Münster, U.v. 2.10.2019 – 6a K 3033/18.A und U.v. 2.10.2018 – 6a K 5132/16.A – bis auf VG Bayreuth jeweils juris).
Als alleinstehende Frau ohne männlichen Schutz hat die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG zu befürchten. Nach der derzeitigen Auskunftslage sind alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im gesamten Staatsgebiet geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG ausgesetzt. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 03.03.2021 (im Folgenden: BFA, Länderinformation), S. 85 ff., Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22.01.2021 (im Folgenden: AA, Lagebericht), S. 13 f.; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175 ff, S. 185 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zu Frauenhäusern in Kirkuk vom 05.02.2018, Frage 3). Schutzbereite und – willige Akteure i.S.d. § 3c Nr. 1 und 2 AsylG sind auch nicht ersichtlich. Der Staat geht trotz der generellen Zielsetzung in der Verfassung bislang nicht gegen Übergriffe und Diskriminierungen vor, d.h. er setzt weder die in der Verfassung garantierte Gleichstellung von Frauen und Männern in einfaches Recht um noch ist in der Praxis eine Verbesserung zu verzeichnen (BFA, Länderinformation, S. 85 f.; AA, Lagebericht, S. 13 f.; vgl. auch VG Weimar, U.v. 17.4.2019 – 6 K 20181/17 We – juris).
Die Klägerin schilderte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ihre Fluchtgeschichte und den Bruch mit ihrem Onkel. Für das Gericht steht aufgrund ihrer Aussage fest, dass ihre Ausreise wie von ihr vorgetragen stattgefunden hat und dass sie im Irak keine schutzbereiten männlichen Verwandten hat.
Die Klägerin konnte ihre Fluchtgeschichte ausführlich und in sich stimmig selbst bei umfangreichen und kritischem Nachfragen schildern. Widersprüchliche Angaben in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Aufenthaltes bei dem Onkel der Klägerin konnte diese aufklären. Die Klägerin gab in der mündlichen Verhandlung in nachvollziehbarer Weise an, dass ihre Mutter dauerhaft bei ihrem Onkel gelebt hatte und die Klägerin wegen ihrer damaligen Tätigkeit teilweise dort übernachtete, sodass das Gericht von der Wahrheit des von der Klägerin vorgetragenen Sachverhalts überzeugt ist.
Nach diesem Sachverhalt, drohen der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen, da sie im gesamten irakischen Staatsgebiet als alleinstehende Frau ohne schutzbereite männliche Familienangehörige einer geschlechterspezifischen Verfolgungshandlung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre. Neben ihrem Onkel sind keine weiteren Familienangehörigen im Irak vorhanden von denen die Klägerin einen männlichen Schutz erlangen könnte. Die Brüder der Klägerin befinden sich seit 2008/2009 und 2014 in Deutschland, ebenso wie eine Schwester. Der Vater der Klägerin ist am 11.05.2014 getötet worden. Die Mutter der Klägerin und die anderen Schwestern der Klägerin befinden sich zudem in der Türkei.
Die Klägerin führt in glaubwürdiger Art und Weise aus, dass sie im Falle einer Rückkehr nicht mit einer Unterstützung von Seiten ihres Onkels rechnen kann. Die Klägerin hat aufgrund ihrer Flucht vor dem Onkel mit diesem gebrochen. Sie hat überzeugend geschildert, dass sie wegen der – unter anderem auch finanziell – schlechten Situation mit dem Onkel die Schule nicht abschließen konnte. In der Folge ist sie einer Tätigkeit als Laborassistenz nachgegangen, die der Onkel nur widerwillig akzeptierte, weil die Klägerin so auch ihre Mutter finanziell unterstützen konnte. Dennoch wollte der Onkel weiterhin, dass die Klägerin heiratet. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargestellt, dass der Onkel sie „verkaufen“ wollte. Es ist damit zu rechnen, dass dieser auch bei einer Rückkehr der Klägerin versuchen wird, sie gegen ihren Willen zu verheiraten. Selbst wenn die Klägerin finanzielle Unterstützung beispielsweise durch Verlobten erhielt, ist davon auszugehen, dass der Onkel die Klägerin zu einer Heirat zwingen wird. Der Onkel strebte eine Heirat der Klägerin selbst dann noch an, als sie aufgrund ihrer Tätigkeit ein eigenes Einkommen hatte. Es ist zu erwarten, dass der Onkel die in Deutschland erfolgte Verlobung der Klägerin nicht akzeptieren würde. Zwar ist die Klägerin mit einem ursprünglich aus dem Irak stammenden Mann verlobt. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass der Verlobte mit ihr zurück in den Irak gehen wird, weil er seit 2017 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und mit der Klägerin im Moment auch nicht in einem gemeinsamen Hausstand lebt.
Auch ist nicht absehbar, dass die Klägerin Unterstützung von ihrer verheirateten noch im Irak lebenden Schwester erhalten würde. Die Klägerin schilderte nachvollziehbar, dass sie in dieser Familie nur eine Belastung darstellen würde, so dass mit einer dauerhaften Unterstützung nicht zu rechnen ist. Ein Indiz hierfür ist auch, dass die Klägerin nach ihrer Flucht vor ihrem Onkel nicht bei der verheirateten Schwester unterkommen konnte, sondern in einem Flüchtlingslager auf kurdischem Gebiet lebte.
Auch wenn die Klägerin zwischen ihrer Flucht vor dem Onkel und der Flucht nach Deutschland in einem Flüchtlingslager gelebt hatte und dort unmittelbar keiner Verfolgungshandlung ausgesetzt war, so ist dennoch bei einer Rückkehr auch in ein entsprechendes Flüchtlingslager auf kurdischem Gebiet kein hinreichender Schutz der Klägerin gewährleistet. Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Minderjährige Frauen werden vermehrt in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen. Dies geschieht, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder die Familien finanziell zu unterstützen (BFA, Länderinformation, S. 90.; AA, Lagebericht, S. 14). Die Klägerin ist zwar nicht minderjährig, dennoch ist sie als alleinstehende junge Frau, die bei einer Rückkehr nunmehr ohne ihre Schwestern und Mutter alleine in einem Lager leben müsste, besonderes schutzbedürftig.
Im Hinblick darauf, dass das Gericht in Asylverfahren in Bezug auf die entscheidungserheblichen Vorfälle im Herkunftsland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris = BVerwGE 71, 180), ist das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass die Klägerin über keinen hinreichenden männlichen Familienanschluss im Irak mehr verfügt. Mithin drohen der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen, da sie im gesamten irakischen Staatsgebiet als alleinstehende Frau ohne schutzbereite männliche Familienangehörige einer geschlechterspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre.
Der dieser Entscheidung entgegenstehende Bescheid vom war somit aufzuheben. Da die Klägerin bereits im Hauptantrag Erfolg haben, waren die Ziffern 1 bis 3 des Bescheids aufzuheben. Die Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtswidrig, weil mit der Flüchtlingsanerkennung die Voraussetzung des § 34 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entfallen ist. Die Befristungsentscheidung war damit ebenfalls aufzuheben (vgl. § 11 AufenthG). Über die hilfsweise gestellten Verpflichtungsanträge musste angesichts des Erfolgs des Hauptantrags nicht mehr entschieden werden.
2. Die Kostenentscheidung des nach § 83 b AsylG kostenfreien Verfahrens folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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