Verwaltungsrecht

Anerkennung als Asylberechtigter

Aktenzeichen  Au 4 K 19.31736

Datum:
18.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 18404
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2019 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist bereits im Hauptantrag zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gem. Art. 16a GG. Der Ablehnungsbescheid vom 4. Dezember 2019 ist daher rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Gem. Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor.
Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG ist grundsätzlich staatliche Verfolgung und sie ist politisch, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Allgemein liegt dem Asylgrundrecht die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, dass kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen (asylerhebliche Merkmale); von dieser Rechtsüberzeugung ist das grundgesetzliche Asylrecht maßgeblich bestimmt. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, dass sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also – im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung – einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist, sowie wegen des asylerheblichen Merkmals erfolgt (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 38 f., 44).
Auch eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann grundsätzlich politische Verfolgung sein, und zwar auch dann, wenn der Staat hierdurch das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt. Es bedarf einer besonderen Begründung, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen zu lassen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 52 f.).
Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist die effektive Gebietsgewalt des Staates im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Verfolgungsmaßnahmen Dritter sind dem Staat daher zuzurechnen, wenn er schutzfähig, aber er nicht bereit oder nicht in der Lage ist, mit den ihm verfügbaren Mitteln Schutz zu gewähren (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 46). Ist politische Verfolgung hiernach grundsätzlich staatliche Verfolgung, so steht dem nicht entgegen, dass die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dem Staat solche staatsähnlichen Organisationen gleichstellt, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 40 a.E.).
Daher fehlt es an der Möglichkeit politischer Verfolgung, solange der Staat bei offenem Bürgerkrieg im umkämpften Gebiet faktisch nur mehr die Rolle einer militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei einnimmt, als übergreifende effektive Ordnungsmacht aber nicht mehr besteht. Gleiches gilt in bestimmten Krisensituationen eines Guerilla-Bürgerkriegs. In allen diesen Fällen ist politische Verfolgung allerdings gegeben, wenn die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise führen, die auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, vollends wenn ihre Handlungen in die gezielte physische Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität eines nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 56 ff.).
Wer von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann (inländische Fluchtalternative). Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 61 f., 66).
Das Asylrecht des Art. 16a GG beruht auf dem Zufluchtgedanken, mithin auf dem Kausalzusammenhang Verfolgung – Flucht – Asyl. Nach dem hierdurch geprägten normativen Leitbild dieses Grundrechts ist typischerweise asylberechtigt, wer aufgrund politischer Verfolgung gezwungen ist, sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen, und deswegen in die Bundesrepublik Deutschland kommt. Dementsprechend gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe, je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist.
Steht fest, dass der Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist ist und dass ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates im beschriebenen Sinne unzumutbar war, so ist er gemäß Art. 16a Abs. 1 GG asylberechtigt, es sei denn, er kann in seinem eigenen Staat wieder Schutz finden. Daher muss sein Asylantrag Erfolg haben, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Ist die Verfolgungsgefahr zwischenzeitlich beendet, kommt es darauf an, ob mit ihrem Wiederaufleben zu rechnen ist; eine Anerkennung als Asylberechtigter ist nicht geboten, wenn der Asylsuchende vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein kann (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff. – juris Rn. 67 ff.).
Als vorverfolgt in dem vorstehend beschriebenen Sinne gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, wer seinen Heimatstaat entweder vor eingetretener oder vor unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat. Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen. Als vorverfolgt gilt somit auch derjenige, dem bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohte, was stets dann anzunehmen ist, wenn bei „qualifizierender“ Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.1993 – 4 C 45.92 – juris Rn. 8 f. m.w.N.).
Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt – wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Nach diesen Maßstäben ist die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO), die sich auf den gesamten Akteninhalt sowie die in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse stützt, einschließlich des persönlichen Eindrucks, den das Gericht von der Klägerin gewonnen hat, vorverfolgt aus der Türkei ausgereist. Die fluchtbegründenden Umstände bestehen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ohne wesentliche Änderung fort, so dass sie Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gem. Art. 16a Abs. 1 GG hat. Der Ausschlusstatbestand des Art. 16a Abs. 2 GG ist vorliegend wegen der direkten Einreise der Klägerin auf dem Luftweg nicht erfüllt; die Türkei ist auch kein sicherer Herkunftsstaat nach Art. 16a Abs. 3 GG.
Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. – im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7, 22; Lagebericht ebenda S. 7). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt Ankara an die Opposition, ebenso die Großstädte Adana, Antalya und Mersin sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Istanbul, wo Staatspräsident Erdoğan einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdoğan mehrmals erklärt, wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts bereits im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine individuelle, politische Verfolgung wegen ihrer Zurechnung zur Gülen-Bewegung zu befürchten.
Die vom islamistischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs-Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte im Rahmen ihrer Bemühungen, die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als der Bewegung zugerechnete Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („Fethullahistische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“; dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 11 ff.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die Gülen-Bewegung als sunnitisch-islamische Gruppierung bestimmte Anforderungen an die Volkszugehörigkeit ihrer Anhänger stellte (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 6).
Es liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f. – im Folgenden: Lagebericht). Grundsätzlich wird jede Person, die in irgendeiner Weise Kontakt zur Gülen-Bewegung hatte, von den türkischen Ermittlungsbehörden überprüft; Strafverfahren werden insbesondere gegen in Gülennahen Einrichtungen und Vereinen aktive oder gar in leitender Position tätige Personen sowie Inhaber eines Kontos bei der Bank Asya eingeleitet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 5). Türkische Behörden und Gerichte können eine Person nicht erst dann als „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält. Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch der Person oder eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Geldanlagen nach dem Aufruf von Fetullah Gülen ab 25. Dezember 2013 bei der Bank Asya, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; der Abonnementvertrieb (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 11) und das Abonnieren der (vormaligen) Gülen-Zeitung „Zaman“ oder „Bügün“ oder der Nachrichtenagentur Cihan oder der Besitz von Gülens Büchern sowie Kontakte zu der Gülen-Bewegung zugeordneten Einrichtungen. Nutzer der Smartphone-Anwendung „ByLock“ stehen ebenfalls in Verdacht und ist mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu rechnen (Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 13), 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 13 ff.).
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Ob bereits eine vermutete Gülen-Anhängerschaft ausreicht, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36), hängt vom Einzelfall und den plausibel geltend gemachten Ansatzpunkten ab, die aus Sicht des türkischen Staats eine solche Zurechnung tragen würden. Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; das Strafmaß für eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation beträgt nach § 314 Abs. 2 tStGB (türkisches Strafgesetzbuch) i.V.m. Art. 5 tStGB (Erhöhung um die Hälfte bei Terrorstraftaten) 7,5-15 Jahre Freiheitsstrafe, die aber häufig wegen guter Führung nach Art. 62 tStGB auf ein regelmäßig zu erwartendes Strafmaß von 6 Jahren und drei Monaten gemindert wird (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1d). Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet. Ob eine „Sippenhaft“ gegen Familienangehörige von Gülenverdächtigen Personen stattfindet, ist nicht sicher: Zwar wird unter Nennung von Quellen aus dem Jahr 2016 behauptet, staatliche Behörden gingen mit Entlassungen oder Verhaftungen gegen Familienangehörige vor, um Druck auf die eigentlich gesuchten Personen auszuüben (SFH, Türkei: Gefährdungsprofile vom 19.5.2017, S. 6). Allerdings sind dem Verwaltungsgericht bislang nur Fälle bekannt geworden, in denen Familienangehörige selbst wegen des Verdachts der Gülen-Mitgliedschaft z.B. auf Grund ihrer eigenen Lehrtätigkeit in einer Gülennahen Einrichtung strafrechtlich belangt wurden (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.11.2019 – Au 6 K 17.34204).
Personalausweise und sogar Reisepässe werden Gülen-Verdächtigen ausgestellt, sofern keine Ausreisesperre gegen sie besteht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14; näher zu Ausreisesperren unten). Auch ein Ermittlungsverfahren hindert die Ausstellung eines Personalausweises nicht. Solange nur ein Ermittlungsverfahren offen ist, aber keine Haft vollstreckt wird, ist die Reisefreiheit nicht beschränkt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Gezielte Annullierungen oder Nichtverlängerungen von türkischen Pässen hingegen scheinen verbreitet gegen Gülen-Anhänger und auch gegen Familienangehörige stattzufinden.
Insgesamt sollen rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet und ihre Verbindung untersucht, ca. 31.000 Personen inhaftiert und über 19.000 Personen verurteilt worden sein. Zudem sollen direkt wegen des Putschversuchs 3.838 Personen verurteilt worden sein, 2.327 Personen davon zu lebenslanger Haft und weitere 1.511 Personen zu Freiheitsstrafen von 14 Monaten bis 20 Jahre (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12).
Laut offiziellen türkischen Angaben seien seit dem gescheiterten Putschversuch über 100 türkische Staatsbürger im Ausland festgenommen und in die Türkei verschleppt worden, so aus Aserbaidschan, Gabun, Kasachstan, dem Kosovo, Malaysia, Moldawien, Myanmar, Pakistan und der Ukraine (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 14). Auslieferungen von Gülen-Anhängern aus Drittstaaten an die Türkei sind aber aus Albanien und aus Kasachstan nicht bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.1.2019 an das BAMF zu Frage 1; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.5.2019 an das BAMF zu Frage 2). Ebenso wenig gibt es Hinweise auf eine Verfolgung von Gülen-Anhängern in Nigeria durch den türkischen Staat, auf deren Auslieferung durch Nigeria oder auf eine Schließung von seitens der Türkei der Gülen-Bewegung zugerechneten Schulen dort (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 19.9.2019, S. 1 f.). Hingegen entließ die aserbaidschanische Regierung auf Bitten der Türkei rund 50 Lehrer und Dozenten als Anhänger Fethullah Gülens, schloss einen TV-Sender (ANS) und „säuberte“ die ehemals (bis 2013) der Gülen-Organisation Hizmet nahestehende Universität Qafqaz. Auch eine Reihe von Personen, die der säkularen politischen Opposition angehören, wurde unter dem Vorwurf des „Gülenismus“ verhaftet und teilweise an die Türkei ausgeliefert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 11).
Daraus ergibt sich derzeit noch kein so konkretes und vom türkischen Staat auch konsequent angewandtes Profil einer Einstufung einer Person als Gülen-Anhänger und ihrer Zurechnung zur Gülen-Bewegung, dass dieses den Rückschluss zuließe, dass jede Person, die dieses Profil erfüllt, bereits in das Risiko einer landesweiten Verfolgung geriete. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass eine nicht näher objektivierbare Gewichtung von einzelnen Anhaltspunkten seitens des türkischen Staats vorgenommen wird, ohne dass im Einzelfall von außen immer nachvollziehbar ist, ob und warum eine Person zugerechnet wird oder nicht.
Unter Berücksichtigung dieser Sachlage drohte der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts im Zeitpunkt des Verlassens der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG wegen einer Zugehörigkeit und Zurechnung zur Gülen-Bewegung. Die Klägerin hat für das Gericht glaubhaft angegeben, praktisch seit dem Jugendalter (achte Klasse) Anhängerin der Gülen-Bewegung gewesen zu sein; sie hat ab diesem Zeitpunkt Nachhilfeinstitutionen der Gülen-Bewegung besucht (Anhörungsniederschrift Bundesamt, S. 6). So dann ergibt sich aus ihrer für das Gericht glaubhaften schriftlichen und mündlichen Darstellung ihrer Biographie als durchgängiger „roter Faden“ eine Tätigkeit für gülen-nahe Bildungs- bzw. Nachhilfeinrichtungen; zunächst während ihres Studiums in Aserbaidschan 2009 bis 2014 („Araz-Kurse“ der Bildungseinrichtung Cag Egitim Isletmeleri, vgl. Sitzungsprotokoll S. 3 sowie hierzu Auskunft Auswärtiges Amt an VG Augsburg vom 3.3.2020, S. 2), und sodann nach ihrer Rückkehr für das Oguz Egitim Körfez Nachhilfeinstitut sowie ab 2015 ehrenamtlich für die Organisation Prizma (vgl. hierzu Äußerungen in Anlage K10 zum Schriftsatz vom 2.6.2020, S. 1, Sitzungsprotokoll, S. 4 sowie insgesamt bereits Anhörungsniederschrift Bundesamt, S. 5 und 6). Die Klägerin ist zur Überzeugung des Gerichts also über etliche Jahre in durchaus verantwortlicher und für diese Einrichtungen prominenter Funktion nach außen klar dokumentiert für die Gülen-Bewegung tätig geworden, und zwar in deren Kernbetätigungsfeld der Bildungsarbeit. Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen und Organisationen – inkl. abhängige Beschäftigung – ist eines der Kriterien für das türkische Regime, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 14.6.2019, S. 9). Dieses Kriterium schlägt hier umso mehr und entscheidend zu Buche, als die Klägerin über viele Jahre bei Gülennahen Einrichtungen im Bildungsbereich tätig war und diese Prägung durch die und die Zuordnung zur Gülen-Bewegung insgesamt betrachtet das Leben der Klägerin bestimmt hat, zumal die Klägerin, wie sich aus einer Gesamtschau ergibt, diese Beschäftigungen stets aktiv gesucht hat und etwa auch ehrenamtlich für Prizma gearbeitet hat, weil dieses Institut die entsprechenden finanziellen Mittel gehabt hat (vgl. Sitzungsprotokoll, S. 4).
Ferner hat sie ein Abonnement der Zeitung „Zaman“ bezogen (vgl. Anlage K3 zum Schriftsatz vom 2.6.2020; übergeben bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt, vgl. Anhörungsniederschrift, S. 4 sowie Bundesamtsakte, Bl. 117). Die Zeitung Zaman wurde vom türkischen Staat der Gülen-Bewegung zugeordnet und geschlossen. Zwar gilt der Besitz von Zeitung- und Zeitschriftenabonnements als solcher dort nicht als Beweis für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Allerdings fügt sich dieses Abonnement ins Bild einer durchgehenden und auch ganz maßgeblich nach außen dokumentierten Unterstützung der Gülen-Bewegung durch die Klägerin. In Rechnung zu stellen ist dabei auch, selbst wenn dies nicht für die Klägerin unmittelbar gilt, dass gegen Personen, die Gülennahe Zeitungen weitervermittelt haben und für Abonnements geworben haben, juristisch vorgegangen wird (Auswärtiges Amt vom 8.8.2020 [richtig wohl: 8.1.2020] an VG Augsburg, zu Frage 11).
Zwar hat die Klägerin von keinen ihr unmittelbar drohenden Verfolgungshandlungen vor der Ausreise berichtet. Jedoch hat sie glaubhaft angegeben, seit dem Putsch Angst vor Razzien und einer Ingewahrsamnahme gehabt zu haben, wie diese auch vielen anderen passiert sei. Es erscheint schlüssig, dass sich nach der Festnahme ihres Ehemannes Ende Juni 2019 in Folge seiner Bezichtigung der Anhängerschaft zur Gülen-Bewegung und dessen – naheliegender – Befragung auch über die Klägerin (vgl. Anhörungsniederschrift Bundesamt, S. 6) die Gefahr einer individuellen Betroffenheit von staatlichen Maßnahmen wegen ihrer Gülen-Anhängerschaft so soweit verdichtet hatte, dass sich die Klägerin zur Ausreise veranlasst sah. Zwar ist es der Klägerin offenbar ohne größere Schwierigkeiten gelungen, unter Verwendung ihres Reisepasses und eines Visums legal auszureisen. Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass sie dabei durchaus wegen nicht bekannter Wiedereinreisepläne Verdacht erweckt hat, und nur unter Vortäuschung einer Rückkehrabsicht letztlich die Ausreise gelungen ist (vgl. Sitzungsprotokoll, S. 3). Insgesamt betrachtet fallen die Umstände der Ausreise der Klägerin mittels ihres Passes vorliegend nicht so sehr ins Gewicht, dass dies wesentlich gegen die Annahme einer Vorverfolgung – im Sinne einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung – spräche.
Das gesamte schriftliche und mündliche Vorbringen der Klägerin hält das Gericht für hinreichend schlüssig und daher überzeugend. Auch der streitgegenständliche Bescheid hat die Ablehnung des Asylantrags nicht auf eine fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin gestützt. Der Niederschrift über die Anhörung der Klägerin vor dem Bundesamt lässt sich ebenfalls nicht entnehmen, dass die Beklagte näheren Anlass gesehen hat, das Vorbringen der Klägerin kritisch zu hinterfragen. Das Vorbringen der Klägerin vor dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren ist in sich konsistent. Die Klägerin hat bereits vor dem Bundesamt von sich aus die Kernelemente vorgebracht, auf die sie ihren Asylantrag stützt (insbesondere Tätigkeit für Gülennahe Bildungseinrichtungen über etliche Jahre; Zuspitzung der Situation auf Grund der Festnahme ihres Mannes). Auch hat sie dem Bundesamt bereits zahlreiche Dokumente zum Beleg ihres Vorbringens vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Nachfragen des Gerichts spontan und präzise beantworten können. Ungenauigkeiten in ihrem Vortrag hat sie von sich aus korrigiert bzw. hierfür schlüssige Erklärungen geliefert.
Das Gericht hat zwar erwogen, ob das Vorbringen der Klägerin nicht gleichsam einen zu hinterfragenden „Idealfall“ in dem Sinne darstellt, dass zielgenau die Umstände vorgebracht wurden, die eine Vorverfolgung wegen Gülen-Anhängerschaft begründen können. Jedoch steht dies der Überzeugungsbildung des Gerichts letztlich nicht entscheidend entgegen. In Asylstreitigkeiten dürfen keine unerfüllbaren Beweisanforderungen gestellt und darf keine unumstößliche Gewissheit verlangt werden, sondern es genügt in tatsächlich zweifelhaften Fällen ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; OVG NRW, B.v. 6.8.2012 – 13 A 1118/12.A – juris). Solche durchgreifenden Zweifel hat das Gericht hier in Bezug auf das Klägervorbringen nicht.
Da die fluchtbegründenden Umstände für die Klägerin im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ohne wesentliche Änderung fortbestehen, muss ihr Asylantrag nach den oben dargestellten Grundsätzen Erfolg haben.
Darüber hinaus gilt folgendes:
Die Klägerin kann im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, so dass gegen sie bereits eingeleitete oder noch eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung („FETÖ“).
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsverordnungen und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 14 f. – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 21 f.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 14; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 21). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 14; auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12 ff.).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK sowie Fälle mit Gülen-Bezug häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsverordnungen vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert und wird mittlerweile wieder zeitlich unbeschränkt gewährleistet (vgl. Lagebericht ebenda S. 15; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12).
Grundsätzliche Probleme werfen die Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte auf, die wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen „Terrorismus“-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 14 ff.). Gegen der Gülen-Bewegung nahestehende Rechtsanwälte, denen z.T. auch Stellungnahmen zu laufenden Asylverfahren in Deutschland zugeschrieben werden, wurden Haftbefehle erlassen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 zu Frage 5). Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt, 599 Anwälte festgenommen und 321 Anwälte wegen einer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 24).
Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht – etwa durch Abwesenheit – nicht wenigstens einmal gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).
Dies zusammen genommen hat die Klägerin wegen eines Terrorverdachts („FETÖ“) – anders als vielleicht allgemeiner Kriminalität Tatverdächtige – nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen, da einerseits die Unabhängigkeit der Justiz durch die Entlassungswellen massiv gemindert wurde, andererseits die Chance, auf vertretungsbereite Anwälte als Strafverteidiger zu treffen, wegen der Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte für Gülen-Anhänger ebenfalls nicht mehr gewährleistet ist. Dies trifft angesichts der o.g. Merkmale, die eine solche Strafverfolgung seitens des türkischen Staats auslösen können, auch auf die Klägerin zu, selbst wenn bei ihr noch kein eigenes Ermittlungsverfahren wegen Terror-Verdachts anhängig sein sollte.
Die Klägerin hat daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Anknüpfung an ihre politische oder religiöse Überzeugung als Verfolgungsmerkmal zu befürchten. Wie bereits ausgeführt, erfüllt die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts das Risikoprofil für Gülen-Anhänger seitens des türkischen Staats, weil sie sich langjährig und aktiv an Gülennahen Bildungseinrichtungen betätigt hat, sie zu den Abonnenten einer mittlerweile verbotenen Zeitung gehörte und sich insgesamt betrachtet die Prägung durch die und die Unterstützung der Gülen-Bewegung wie ein „roter Faden“ durch ihre Biographie zieht.
Der Klägerin steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da als „FETÖ“-Anhänger verdächtigte Personen bereits im Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und im vorliegenden Einzelfall angesichts des Gesamtzusammenhangs mit ihrer Tätigkeit von einem nicht nur lokalen oder regionalen sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen ist.
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 28 f.). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Angesichts der offiziellen Denunziationsaufrufe amtlicher türkischer Stellen auch in Deutschland in Tageszeitungen und DITIB-Moscheen ist aber damit zu rechnen, dass türkische Staatsangehörige in der Türkei und auch in Deutschland ihren Heimatbehörden Personen gemeldet haben, denen sie eine Nähe zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachsagen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 25 ff.; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 1; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen (vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 17.10.2016, S. 2). Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den Amnestiebestimmungen der Jahre 1991 oder 2000 profitieren kann oder ob Verjährung eingetreten ist, dann wird der Festgenommene freigelassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 29; zur Verjährungsprüfung auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 20.5.2016, S. 1 f. zu Aktivist für „ATIF“, „Partizan“ und TKP-ML; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2).
Da die Klage bereits im Hauptantrag zulässig und begründet ist, braucht über die hilfsweise geltend gemachten Ansprüche nach § 3 AsylG, nach § 4 AsylG und nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Da der Bescheid angesichts des Anspruchs der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigten die Klägerin insgesamt beschwert, war er jedoch in Gänze aufzuheben.
Der Klage war damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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