Verwaltungsrecht

Anforderungen an eine Gefahrenprognose bei subsidiärem Schutz

Aktenzeichen  21 ZB 16.30180

Datum:
21.11.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 55035
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Nr. 2, § 4 Abs. 3 S. 2, § 78 Abs. 3 Nr. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Bei der Gefahrenprognose, einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt zu werden, kommt es anders als beim Flüchtlingsschutz ausschließlich auf den nach objektiven Grundsätzen zu ermittelnden ernsthaften Schaden und nicht auf eine begründete Furcht vor einer derartigen Gefahr an (§ 4 Abs. 3 S. 2 AsylG). (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Gewährung subsidiären Schutzes kommt nur in Betracht, wenn dem Betroffenen konkret individuell die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Handlung droht. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

23 K 14.31056 2016-05-18 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I. Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens und der Volksgruppe der Hazara zugehörig, stellte im April 2012 Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 23. September 2014 als offensichtlich unbegründet ab. Auf die hiergegen gerichtete Klage des Klägers hin verpflichtete das Verwaltungsgericht München die Beklagte mit Urteil vom 18. Mai 2016 unter teilweiser Bescheidsaufhebung, dem Kläger subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen und wies die Klage im Übrigen ab.
Die Beklagte hat im Umfang der Klagestattgabe die Zulassung der Berufung beantragt.
II. 1. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) wurde entgegen § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht hinreichend dargelegt bzw. liegt nicht vor.
Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache hat der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage zu formulieren und auszuführen, weshalb die Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist, weshalb sie klärungsbedürftig ist und inwiefern der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72).
Die Beklagte hält im Hinblick auf den dem Kläger zuerkannten subsidiären Schutzstatus die „Tatsachenfrage“ für grundsätzlich bedeutsam, „ob die den schiitischen Hazara in Pakistan geltenden Diskriminierungen und Verfolgungen bereits ein Ausmaß erreichen, das für sie die konkrete Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung begründet.“
Der aufgeworfenen Frage fehlt die Entscheidungserheblichkeit und sie würde sich auch nicht offensichtlich in einem Berufungsverfahren stellen (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 37). Das Verwaltungsgericht hat sein Urteil im Rahmen der Ausführungen zum subsidiären Schutzstatus nicht tragend darauf gestützt, dass für die gesamte Gruppe der schiitischen Hazara in Pakistan – darauf zielt die aufgeworfene Frage ab – die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 i. V. m. Art. 3 EMRK vorliegen.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt u. a. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Nach Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl Nr. L 337/9, Qualifikationsrichtlinie) setzt der Begriff „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ voraus, dass der Anspruchsteller stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Der in dem Begriff „tatsächlich Gefahr liefe“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab (vgl. auch Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004, ABl Nr. L 304/12) orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, vgl. EGMR, U. v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi/Italien – NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.). Bei der Gefahrenprognose kommt es anders als beim Flüchtlingsschutz ausschließlich auf den nach objektiven Grundsätzen zu ermittelnden ernsthaften Schaden und nicht auf eine begründete Furcht vor einer derartigen Gefahr an (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Bei der Entscheidung darüber, ob die Gefahr von Misshandlungen besteht, sind die absehbaren Folgen einer Abschiebung im Zielstaat unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Lage und der besonderen Umstände des Betroffenen zu prüfen (EGMR, U. v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi/Italien – NVwZ 2008, 1330, Rn. 130f.). Das ernsthafte und individualisierbare Risiko, einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt zu werden, wird zum Gegenstand der Gefahrenprognose (Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 4 Rn. 41).
Das Verwaltungsgericht ist in seiner Entscheidung (UA S. 15) im Wesentlichen von diesen Grundsätzen ausgegangen, ist dann jedoch unter Darlegung der Verschlechterung der Situation der schiitischen Hazara in Quetta (Anschläge der radikal-sunnitischen Gruppierung Laskhar-e Jhangvi) zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Fall einer zwangsweisen Rückführung eine menschenunwürdige Behandlung konkret drohe und hiergegen weder staatlicher Schutz noch eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stünden. Die vom Verwaltungsgericht vorliegend getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die allgemein auf gegenüber schiitischen Hazara verübte Gewalt durch radikal sunnitische Gruppierungen abstellen, sind zwar im konkreten Fall nicht zur Begründung einer individualisierten Gefahrenprognose für den Kläger geeignet, Fehler in der Rechtsanwendung der vorinstanzlichen Entscheidung begründen jedoch keine grundsätzliche Bedeutung. Zum einen steht bei einer Anknüpfung einer unmenschlichen Behandlung an Verfolgungsgründe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3 b AsylG die vorrangige Flüchtlingsanerkennung in Rede (vgl. zur Ablehnung der Verfolgungsdichte wegen Gruppenverfolgung schiitischer Hazara UA S. 12ff.). Die Gewährung subsidiären Schutzes kommt weiter nur in Betracht, wenn dem Betroffenen konkret individuell die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Handlung droht. Die Alternativen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG setzen stets – wie es der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 17. Februar 2009 betont hat – einen „klaren Individualisierungsgrad“ voraus (EuGH, U. v. 17.2.2009 – C-465/07 – Elgafaji, BeckRS 2009, 70181, Rn. 38). Ob für die Feststellung des Kriteriums der „Gefahrendichte“ ähnliche Kriterien gelten wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung kann offen bleiben (vgl. BVerwG, U. v. 24.6.2008 – 10 C 43/07, Rn. 35).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 83b AsylG. Da die Beklagte als unterliegende Partei die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen hat, bedurfte es keiner Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 18. Mai 2016 rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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