Verwaltungsrecht

Angriff auf Vollstreckungsbeamte ist keine Katalogtat iSd § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG

Aktenzeichen  M 11 S 19.33111

Datum:
25.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7953
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 75 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 80 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3
StGB § 114

 

Leitsatz

Der Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) ist keine Katalogtat im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG. (Rn. 22 – 28)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Juli 2019 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Widerruf seiner Flüchtlingseigenschaft wegen Straffälligkeit.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger und 1995 in Mogadischu geboren, stellte am 10. September 2014 einen Asylantrag in Deutschland. Mit Bescheid vom 20. April 2017 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zu.
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 29. August 2018 (Az.: 821 Ds 255 Js 156955/18) wurde der Antragsteller wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht hielt für die versuchte gefährliche Körperverletzung eine Einzelstrafe von 9 Monaten und für den tätlichen Angriff eine Einzelstrafe von 6 Monaten für tat- und schuldangemessen.
Mit Bescheid vom 16. Juli 2019, zugestellt am 29. Juli 2019, widerrief das Bundesamt nach vorheriger Anhörung des Antragstellers die mit Bescheid vom 20. April 2017 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Nr. 3). Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG widerrufen werden könne, weil der Antragsteller wegen im Gesetz aufgeführter Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden sei. Von einer Wiederholungsgefahr sei angesichts der Vorstrafen auszugehen. Das Ermessen werde dahingehend ausgeübt, das öffentliche Interesse, die Allgemeinheit vor straffälligen Ausländern zu schützen, höher zu bewerten als das Bleibeinteresse des Antragstellers, der sich nicht integrationswillig gezeigt habe.
Der Antragsteller hat am 12. August 2019 Klage erhoben. Am 28. August 2019 beantragt er zudem,
hinsichtlich der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen,
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, bis zur Entscheidung von Abschiebemaßnahmen abzusehen.
Zur Begründung wird vorgetragen, dass im Hinblick auf die Gesamtumstände, die bei einer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen seien, das kompromisslose Vorgehen des Bundesamtes unverhältnismäßig erscheine. Entgegen der Ansicht des Bundesamtes bestünde keine konkrete Wiederholungsgefahr aufgrund der Vorverurteilungen. Bei diesen handle es sich jeweils um Geldstrafen wegen einfacher Körperverletzung oder Störung der Totenruhe, nachdem der Antragsteller mit Freunden vor einem Denkmal alkoholisiert herumgegrölt habe. Die Verurteilung, die zum Widerruf geführt habe, gehe auch auf eine Alkoholisierung des Antragstellers zurück. Das Amtsgericht habe festgestellt, dass er unter Alkoholeinfluss zu Aggressionen neige. Daher sei ihm die Weisung erteilt worden, sich jeglichen Konsums alkoholischer Getränke und/oder Betäubungsmittel zu enthalten. Zu einem Bewährungswiderruf sei es inzwischen nicht gekommen. Der Antragsteller halte die Weisungen und Auflagen ein. Außerdem sei die Vorgeschichte des Antragstellers unberücksichtigt geblieben. Er habe seine Mutter bereits im Alter von zwei Jahren verloren und habe in Somalia keine Verwandten mehr, was ihm bei einer Rückführung wenig Chancen lasse, seinen Lebensunterhalt in der Heimat zu verdienen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird vorgetragen, dass der Antrag unzulässig sei, weil die fristgerecht erhobene Klage bereits aufschiebende Wirkung entfalte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakte in diesem sowie im zugehörigen Klageverfahren M 11 K 19.32926 Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Er ist bei sachgerechter Auslegung zulässig.
Der Antrag ist zwar wörtlich darauf gerichtet, die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzuordnen. Dies ergibt jedoch keinen Sinn, weil die Feststellung von Abschiebungsverboten ein begünstigender Verwaltungsakt und statthafte Klageart folglich die Verpflichtungsklage ist. Demgegenüber ist der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ein belastender Verwaltungsakt, sodass statthafte Klageart die Anfechtungsklage ist (vgl. Bender in Johlen/Oerder, MAH Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2017, § 24 Rn. 224). Eine solche Anfechtungsklage hat der Antragsteller in der Klageschrift vom 12. August 2019 im Hauptantrag richtigerweise erhoben. Der Eilantrag ist demnach bei sachgerechter Auslegung des Antragsbegehrens (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) darauf gerichtet, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft anzuordnen.
Ein so verstandener Antrag ist entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht unzulässig. Es ist zwar richtig, dass eine Klage gegen den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 75 Abs. 1 AsylG grundsätzlich aufschiebende Wirkung hat. Die Klage gegen Entscheidungen des Bundesamtes, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerrufen worden ist, hat jedoch gemäß § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung, wenn das Bundesamt – wie hier – nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat. In diesen Fällen ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO statthaft.
Er ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Antrag nicht verfristet, weil nach der zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung:die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG gilt, so dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO grundsätzlich unbefristet zulässig ist.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Der Bescheid des Bundesamts vom 16. Juli 2019 erweist sich bei der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass das öffentliche Interesse an der Vollziehbarkeit des Widerrufsbescheides hinter dem Interesse des Antragstellers am vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet zurückzustehen hat.
Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn dem Ausländer infolge der Änderung der maßgeblichen Verhältnisse im Herkunftsstaat keine Verfolgung mehr droht, sondern auch, wenn inzwischen von ihm nach Maßgabe von § 60 Abs. 8 AufenthG eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder für die Allgemeinheit ausgeht (vgl. bereits BVerwG, U.v. 1.11.2005 – 1 C 21/04 – BVerwGE 124, 276 = juris Rn. 32). Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nämlich nicht zuerkannt, wenn er die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt oder das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absieht. Nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG liegen jedoch nicht vor.
a) Dabei kann offenbleiben, ob Voraussetzung ist, dass die geforderte Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr mindestens durch eine der ihr zugrunde liegenden Einzelstrafen erreicht wird (so etwa VG Freiburg i. Breisgau, B.v. 8.8.2019 – A 14 K 2915/19 – juris Rn. 2; Göbel-Zimmermann/Masuch/Hruschka in Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 86; wohl auch Koch in BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 56). Das Bundesverwaltungsgericht hat zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entschieden, dass ein Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung wegen einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe nur in Betracht komme, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe sei (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17/12 – BVerwGE 146, 31 = juris Rn. 12 ff.). Allerdings spricht § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG anders als § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG von einer Verurteilung wegen „einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten“ (vgl. zum Wortlautargument bereits BVerwG, a.a.O., Rn. 13). Möglicherweise gebietet aber eine völker- und europarechtskonforme Auslegung von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, dass die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitstrafe durch eine Einzelstrafe erreicht werden muss (hierzu ausf. VG Freiburg i. Breisgau, B.v. 8.8.2019 – A 14 K 2915/19 – juris Rn. 3 ff.). Folgt man dieser Ansicht, so erfüllt keine der beiden Einzelstrafen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von mindestens einem Jahr Freiheitstrafe. Das Amtsgericht hielt ausweislich der Urteilsbegründung für die versuchte gefährliche Körperverletzung eine Einzelstrafe von 9 Monaten und für den tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte eine Einzelstrafe von 6 Monaten für tat- und schuldangemessen.
b) Darüber hinaus ist vorliegend zu berücksichtigen, dass der Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) jedenfalls derzeit nicht unter die in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Straftaten fällt.
aa) Der Wortlaut von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG spricht nur von „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. Dies ist die amtliche Überschrift von § 113 StGB. Der tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte, der in § 114 StGB geregelt ist und dessentwegen der Antragsteller vorliegend verurteilt worden ist, wird dagegen in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht ausdrücklich genannt.
bb) Auch die systematische Auslegung spricht dafür, dass der tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte keine Katalogtat im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist. Die Norm verweist unter anderem auf Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung und verwendet damit amtliche Abschnittsüberschriften des Strafgesetzbuchs. „Straftaten gegen das Leben“ ist die amtliche Überschrift des 16. Abschnitts des Strafgesetzbuchs und umfasst die §§ 211 bis 222 StGB. „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ ist die amtliche Überschrift des 17. Abschnitts des Strafgesetzbuchs und umfasst die §§ 223 bis 231 StGB. „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ ist die amtliche Überschrift des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs und umfasst die §§ 174 bis 184j StGB. Die amtliche Überschrift des 6. Abschnitts des Strafgesetzbuchs, in dem sich § 113 StGB und § 114 StGB finden, lautet dagegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Schon wegen des unterschiedlichen Wortlauts ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG mit dem Terminus „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ pauschal auf den gesamten 6. Abschnitt des Strafgesetzbuchs verweisen wollte.
cc) Auch die Gesetzgebungsgeschichte spricht dagegen. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist durch das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl. I S. 394) angefügt worden. Zu diesem Zeitpunkt enthielt § 113 StGB den Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und § 114 StGB den Tatbestand des Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen. Der Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte ist dagegen erst 2017 eingeführt worden. Hierzu hat der Gesetzgeber § 114 StGB durch das 52. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs (Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften) vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1226) neu gefasst. § 115 StGB enthält seitdem den Straftatbestand des Widerstands gegen oder tätlichen Angriffs auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Kommentarliteratur zu sehen, nach der unter „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG die „§§ 113- 114 StGB“ (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60 AufenthG Rn. 62) bzw. „§ 113 f. StGB“ (vgl. Koch in BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 56) zu verstehen seien. Hierbei handelt es sich wohl um einen Verweis auf die alte Rechtslage. Im Kommentar wird nämlich beispielsweise auch darauf verwiesen, dass die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung „in den §§ 174 -184h StGB aufgelistet“ seien (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60 AufenthG Rn. 62). Allerdings sind durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460) inzwischen die §§ 184i und 184j StGB eingeführt worden.
Als jedenfalls der Gesetzgeber im Jahr 2017 den Tatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in § 114 StGB schuf, sah er in Art. 2 des 52. Strafrechtsänderungsgesetzes auch redaktionelle Folgeänderungen vor. So wurden etwa in § 34a Abs. 1 Satz 4 Nr. 4 Buchst. b GewO die Wörter „des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“ durch die Wörter „des Widerstands gegen oder des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte oder gegen oder auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen“ ersetzt. In § 41 Abs. 1 Nr. 2 BJagdG wurde die Angabe „§§ 113, 114“ StGB durch die Angabe „§§ 113 bis 115“ StGB ersetzt. Wenn der Gesetzgeber demnach in bestimmten außerstrafrechtlichen Gesetzen einen Bedarf gesehen hat, den bisherigen Verweis auf den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu erweitern, dies aber hinsichtlich des Aufenthaltsgesetzes unterlassen hat, so folgt daraus, dass eine Ausweitung in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG vom Gesetzgeber offenbar nicht gewollt war.
dd) Hierfür spricht schließlich auch eine teleologische Auslegung. Es mag zwar auf den ersten Blick naheliegend erscheinen, unter „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG auch den durchaus ähnlichen Tatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte fassen zu wollen. Auch in der strafrechtlichen Literatur ist das Verhältnis zwischen § 113 StGB und § 114 StGB umstritten (vgl. etwa Dallmeyer in BeckOK StGB, § 114 Rn. 3, Rn. 7; Heger in Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 114 Rn. 5; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 114 Rn. 12). Allerdings wollte der Gesetzgeber § 114 StGB ausdrücklich als selbständigen Straftatbestand ausgestalten (vgl. BT-Drs. 18/11161, S. 9). Daher unterscheiden sich § 113 StGB und § 114 StGB sowohl hinsichtlich des Tatbestands als auch hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter. Beides spricht gegen ein Qualifikationsverhältnis (vgl. Busch/Singelnstein, NStZ 2018, 510/513). Tatbestandlich setzt § 113 StGB ein Widerstandleisten bei einer Vollstreckungshandlung voraus, wohingegen § 114 StGB einen tätlichen Angriff bei jeglicher Diensthandlung pönalisiert. Bei dem Widerstandleisten des § 113 StGB geht es primär um den Schutz staatlicher Vollstreckungshandlungen und nur mittelbar auch um den Individualschutz der betroffenen Personen, während bei den tätlichen Angriffen des § 114 StGB der Individualschutz im Vordergrund steht, wobei dies mittelbar jedenfalls auch den staatlichen Vollstreckungsinteressen zugutekommt (vgl. Eser in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 114 Rn. 1). Deswegen ist § 114 StGB auch gegenüber den Körperverletzungsdelikten ein eigenständiger Straftatbestand, weil sonst der zumindest sekundäre staatliche Schutzzweck des § 114 StGB unberücksichtigt bliebe (vgl. Eser in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 114 Rn. 12). Der Gesetzgeber hat mit dem neuen § 114 StGB somit einen Tatbestand sui generis geschaffen (Busch/Singelnstein, NStZ 2018, 510/513).
Letztlich dürfen solche strafrechtsdogmatischen Feinheiten aber nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann nicht ohne weiteres dahingehend verstanden werden, dass der eigenständige Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte unter die in der Norm genannten Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit oder den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte fällt. Es darf nämlich einerseits nicht übersehen werden, dass § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, der auf Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 L 167 S. 58 – Qualifikationsrichtlinie) und Art. 33 Abs. 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559 – Genfer Flüchtlingskonvention) basiert, unions- und völkerrechtskonform restriktiv auszulegen ist (vgl. VG Berlin, U.v. 2.5.2019 – 34 K 74.19 A – juris Rn. 39 m.w.N.; Thym, NVwZ 2016, 409/415). Zudem hat § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG auch dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG zu genügen. Da die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG letztlich dazu führen kann, dass ein zuerkannter Flüchtlingsstatus entzogen wird, muss der Rechtsunterworfene klar erkennen können, welche seiner Handlungen zu dieser Rechtsfolge führen. Dies ist nicht mehr gewahrt, wenn über den Wortlaut „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ hinaus auch der neue Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG hineingelesen wird, ohne dass der Gesetzgeber dies ausdrücklich klargestellt hätte. Dem Gesetzgeber ist es freilich unbenommen, § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG entsprechend zu ergänzen und in Zukunft ausdrücklich auch auf § 114 StGB zu verweisen, wie er dies beispielsweise durch die Änderung des § 41 Abs. 1 Nr. 2 BJagdG getan hat. Es ist aber kein Grund ersichtlich, warum bei der Aberkennung des Flüchtlingsstatus geringere rechtsstaatliche Anforderungen gelten sollten, als bei der Entziehung eines Jagdscheins.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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