Verwaltungsrecht

Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsanordnung

Aktenzeichen  W 8 S 17.50760

Datum:
27.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK EMRK Art. 3, Art. 8
AsylG AsylG § 34a Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Bei der Abschiebung einer besonders schutzbedürftige Person bedarf es der Einholung einer konkreten und einzelfallbezogene Garantie des Aufnahmestaates, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung erfolgt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 8. November 2017 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller sind armenische Staatsangehörige. Sie reisten angeblich am 24. Juli 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 23. August 2017 Asylanträge.
Da nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vorlagen, wurde am 28. August 2017 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Italien gerichtet, das unbeantwortet blieb.
Mit Bescheid vom 8. November 2017 lehnte die Antragsgegnerin die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Mit Schriftsatz vom 14. November 2017, bei Gericht eingegangen am 16. November 2017 ließen die Antragsteller im Verfahren W 8 K 17.50755 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage gegen die Abschiebungsandrohung der Beklagten vom 8. November 2017, Az. …, anzuordnen.
Zur Begründung ließen die Antragsteller im Wesentlichen vorbringen: Die Antragstellerin zu 2) sei schwanger und befindet sich ca. im dritten Schwangerschaftsmonat. Sie sei noch im Risikobereich und habe eine kompliziere Risikoschwangerschaft. Es sei davon auszugehen, dass die Schwangere die notwendige Medikation und Versorgung in Italien nicht erhalten werde.
Mit Schriftsatz vom 23. November 2017 ließen die Antragsteller noch eine ärztliche Bescheinigung der Frauenärzte K* … vom 20. November 2017 vorlegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 17.50755) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens der Antragsteller ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 8. November 2017 begehren.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides – ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. November 2017 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtswidrig und verletzt die Antragsteller in ihren Rechten, so dass das private Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Italien ist nach Art. 12 Abs. 4 und Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedsstaat für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller.
Wird ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt, hat das Bundesamt gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG weiter festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dabei sind sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu berücksichtigen. Dies gilt auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen oder Duldungsgründen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – Asylmagazin 2014, 341).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine Überstellung eines Asylbewerbers an einen anderen Mitgliedsstaat nur dann zu unterlassen, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Bedingungen für Asylsuchende im zuständigen Mitgliedsstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des (rück-)überstellten Asylsuchenden im Sinne von Art. 4 Grundrechte-Charta zur Folge hätte (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C 411/10 u.a. – juris). Diese Rechtsprechung hat ihren Niederschlag in Art. 3 Abs. 2 UA 2 der Dublin III-VO gefunden.
Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass in Italien derzeit keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Asylpraxis vorliegen (so z.B. OVG NW, U.v. 6.7.2016 – 13 A 1476/15.A – juris; NdsOVG, U.v. 25.6.2015 – 11 LB 248/14 – juris).
Allerdings besteht gleichwohl ein Abschiebungshindernis. Denn die Antragsteller sind nicht nur eine Familie mit zwei Kleinkindern (6 bzw. 7 Jahre alt), sondern die Antragstellerin zu 2) hat darüber hinaus nachgewiesen, dass sie schwanger ist. Damit gehören die Antragsteller, insbesondere die Antragstellerin zu 2), zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie). Die Mitgliedsstaaten müssen nach dieser Vorschrift in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie z.B. Schwangeren berücksichtigen.
In seiner Entscheidung vom 4. November 2014 (Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127) hat der EGMR ausgeführt, dass die Anzahl und die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen Italiens Befürchtungen zulassen, dass im Einzelfall Asylsuchende ohne Unterkunft bleiben bzw. in überfüllten Einrichtungen untergebracht werden, auch wenn die Struktur und die Gesamtsituation des Aufnahmesystems in Italien nicht mit der Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen (Rn. 114, 115). Vor der Abschiebung einer Familie mit Kindern als besonders Schutzbedürftige seien daher individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die dem Alter der Kinder angemessen seien, und dass sie als Familie zusammenbleiben könnten (Rn. 120, 122). Weder an der Zahl der Flüchtlinge noch an den Aufnahmebedingungen in Italien haben sich nach Kenntnis des Gerichts gegenüber dem Zeitpunkt der Tarakhel-Entscheidung wesentliche Änderungen ergeben.
Das Gericht geht im Hinblick auf diese Ausführungen davon aus, dass bei den Antragstellern als besonders schutzbedürftige Personen eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien, also konkrete und einzelfallbezogene Garantien (siehe BVerfG, B.v. 27.5.2015 – 2 BvR 3024/14 – BayVBl. 2015, 744), eingeholt würden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind. An solchen Garantien fehlt es zum jetzigen maßglichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. auch VG Düsseldorf, B.v. 30.6.2017 – 8 L 203/17.A – juris).
Ergänzend ist zu den Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid noch anzumerken, dass die Antragsteller zu 3) und 4) mit 6 bzw. 7 Jahren zwar keine Kleinstkinder mehr sind, allerdings Kleinkinder. Jedoch fällt die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2) gravierend ins Gewicht. Nach der Entbindung wird die Familie nicht nur zwei Kleinkinder, sondern zusätzlich noch ein Kleinstkind, konkret einen Säugling, haben. Vor diesem Hintergrund war die Anordnung auch nicht zu befristen.
Nach alledem war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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