Verwaltungsrecht

Anspruch auf Durchführung eines Asylerstverfahrens

Aktenzeichen  M 32 K 16.35487

Datum:
15.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 55696
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a
AsylG § 10 Abs. 2 S. 4

 

Leitsatz

1. Die Anfechtungsklage ist erfolgreich. Der Kläger hat einen Anspruch auf Durchführung des Asylerstverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.    (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es kann nicht von einem in einem Drittstaat, hier Ungarn, abgeschlossenen Asylverfahren ausgegangen werden. Sichere Erkenntnisse, insbesondere zu einer negativen Sachentscheidung oder einer endgültigen Entscheidung, liegen nicht vor.  (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 28. November 2016 wird aufgehoben. 
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage kann nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 VwGO).
Gem. §§ 86 Abs. 3, 88 VwGO war die zur Niederschrift erhobene Klage des nicht anwaltlich vertretenen Klägers nach seinem Rechtsschutzbegehren dahingehend einschränkend auszulegen, dass nur die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids begehrt wird, weil nach Aufhebung des Bescheids eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens durch das Bundesamt auch ohne gerichtliche Entscheidung erfolgt.
Die so ausgelegte Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart, wenn – wie hier – Streit darüber besteht, ob die Voraussetzungen des § 71a AsylG für eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig vorliegen (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 12 ff).
Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich das erkennende Gericht anschließt, stellt sich die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71a Abs. 1 AsylG nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes der Sache nach als Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Mit dem Integrationsgesetz hat der Gesetzgeber zur besseren Übersichtlichkeit und Vereinfachung der Rechtsanwendung in § 29 Abs. 1 AsylG die möglichen Gründe für die Unzulässigkeit eines Asylantrags in einem Katalog zusammengefasst (BT-Drs. 18/8615 S. 51). Hierzu zählt gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG nunmehr auch der – materiell-rechtlich unverändert geregelte – Fall, dass im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Jedenfalls seit Inkrafttreten dieser Neuregelung ist die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, mit der Anfechtungsklage anzugreifen. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG stellt einen der Bestandskraft fähigen, anfechtbaren Verwaltungsakt dar. Sie verschlechtert die Rechtsstellung des Klägers, weil damit ohne inhaltliche Prüfung festgestellt wird, dass sein Asylvorbringen nicht zur Schutzgewährung führt. Ferner erlischt mit der nach § 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 Abs. 1 und 3 AsylG regelmäßig zu erlassenden, sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung auch die Aufenthaltsgestattung (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG). Der Asylsuchende muss die Aufhebung des Bescheids, mit dem die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt wird, erreichen, wenn er eine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten will. Die Anfechtungsklage ist dabei nicht wegen des Vorrangs einer Verpflichtungsklage im Hinblick darauf unzulässig, dass für das vom Kläger endgültig verfolgte Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist. Anknüpfend an die stärkere Betonung des behördlichen Asylverfahrens, der hierfür in der für die EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Verfahrensrichtlinie enthaltenen speziellen Verfahrensgarantien sowie der dort vorgesehenen eigenen Kategorie unzulässiger Asylanträge hat der Gesetzgeber mit der zusammenfassenden Regelung verschiedener Unzulässigkeitstatbestände in § 29 Abs. 1 AsylG das Verfahren strukturiert und dem Bundesamt nicht nur eine Entscheidungsform eröffnet, sondern eine mehrstufige Prüfung vorgegeben. Erweist sich ein Asylantrag schon als unzulässig, ist eine eigenständig geregelte Unzulässigkeitsentscheidung zu treffen. Zugleich hat das Bundesamt über das Bestehen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
Die Klage ist auch nicht wegen Versäumung der gesetzlich vorgesehenen Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG verfristet.
Gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist eine Klage innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu erheben. Gem. § 10 Abs. 1 AsylG hat der Kläger während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn u.a. Mitteilungen des Bundesamtes stets erreichen können und muss insbesondere jeden Wechsel seiner Anschrift dem Bundesamt unverzüglich anzeigen; gem. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss er u.a. Zustellungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Wenn die Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden kann, gilt die Zustellung nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt.
Vorliegend ist in der Niederschrift vom 26. September 2016 zum Asylantrag als Anschrift des nicht von einem Bevollmächtigten vertretenen und ohne Empfangsberechtigten handelnden Klägers nicht seine tatsächliche Anschrift in einer Gemeinschaftsunterkunft in der O … …Str. …, E … angegeben, sondern „O …Str. 1, E …“. Bis zum Bescheid vom 28. November 2016 gingen dem Kläger zwar wiederholt Schreiben des Bundesamts zu, die an letztere Anschrift gerichtet waren. Die Zustellung des Bescheids vom 28. November 2016 unter dieser Anschrift schlug jedoch fehl, weil der Adressat laut Postzustellungsurkunde vom 2. Dezember 2016 „unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ war. Dennoch muss der Kläger diesen Zustellversuch aus mehreren Gründen nicht nach § 10 Abs. 2 Satz 4 Asyl gegen sich gelten lassen. Zum einen dürfte die Anwendbarkeit des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG wegen Fehlerhaftigkeit des Zustellversuchs ausgeschlossen sein. Angesichts des Absenders der zuzustellenden Sendung, des Empfängernamens und der örtlichen Gegebenheiten (lt. Süddeutscher Zeitung vom 13. Januar 2016 und 30. August 2016 befindet sich in der O …Str. …, E … eine Gemeinschaftsunterkunft für bis zu 300 Flüchtlinge auf drei Etagen im Gewerbegebiet) ist es offensichtlich, dass die Sendung für einen Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft in der O …Str. …, E … und nicht für eine auf dem Nachbargrundstück befindliche Firma in der O …Str., E … bestimmt ist. Der Zustellversuch hätte daher aufgrund der offenkundigen Umstände des Einzelfalls unter der Anschrift O …Str. … und nicht unter Nr. … erfolgen müssen. Zum anderen müsste der Kläger den Zustellversuch auch bei Bejahung dessen Rechtmäßigkeit nicht nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG gegen sich gelten lassen, weil er ansonsten in einer mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Garantie effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbaren Weise um die Durchsetzbarkeit seiner Rechte gebracht würde (vgl. BVerfG, B.v. 16.10.2007 – 2 BvR 51/05 – juris Rn. 12). Der Kläger, der zumindest seit seiner Asylantragstellung unverändert unter derselben Anschrift wohnte, hat damals gegen keine Mitteilungsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 AsylG verstoßen, weil er sich ausweislich der Niederschrift über seine Anhörung zum Asylantrag zum Beginn der Anhörung mit seiner Aufenthaltsgestattung ausgewiesen hat, in der seine Anschrift eingetragen ist. Wird diese Anschrift bei der Ausstellung der Aufenthaltsgestattung fehlerhaft eingetragen oder vom anhörenden Entscheider bzw. von der anhörenden Entscheiderin des Bundesamts nicht richtig in die Niederschrift übernommen, so kann dies nicht dem Kläger angelastet werden. Infolgedessen gilt die Zustellung nicht mit der Aufgabe zur Post als bewirkt.
Wann der Kläger tatsächlich Kenntnis vom Bescheid erhalten hat, ergibt sich aus den Akten nicht. Deshalb ist die Klage nicht verfristet.
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 28. November 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf Durchführung eines Asylerstverfahrens. Die Voraussetzungen für die Annahme eines Zweitantrags i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG liegen nicht vor.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Die Annahme eines erfolglosen Abschlusses des in einem sicheren Drittstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Wenn das (Erst-)verfahren noch wiedereröffnet werden kann, ist eine Einstellung nicht in diesem Sinne endgültig. Ob eine solche Wiedereröffnung bzw. Wiederaufnahme möglich ist, ist nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 29; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff; VG M, U.v. 28.3.2018 – M 1 K 17.43568 – juris Rn. 11). Der vorangegangene endgültige erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat muss entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Beklagten durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren für den Asylbewerber endgültig erfolglos abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Das Bundesamt muss damit Kenntnis von der verfahrensbeendenden Entscheidung und deren Unanfechtbarkeit bzw. Unrevidierbarkeit haben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 33; VG M, U.v. 30.8.2017 – M 1 K 16.35575 – juris Rn. 11f).
Nach diesen Maßstäben durfte das Bundesamt nicht vom Vorliegen eines im Drittstaat erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens ausgehen. Hinreichend sichere Erkenntnisse zum Asylverfahren in Ungarn, insbesondere zu einer negativen Sachentscheidung oder einer endgültigen Entscheidung, liegen nicht vor. Der Kläger, der gem. § 25 Abs. 1 Satz 2 AsylG zur Frage früherer Asylverfahren angabepflichtig ist, bestreitet eine Asylantragstellung in einem anderen Mitgliedstaat. In den vorgelegten Behördenakten ist zwar ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 (internationaler Schutz beantragt) dokumentiert, offen bleibt jedoch, ob in Ungarn ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 25) durchgeführt wurde bzw. ob das Asylverfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Die fehlende Aufklärung geht zu Lasten der Beklagten, die die Feststellungslast hierfür trägt (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41; siehe auch Bruns in Hofmann, Ausländerrecht 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Die Beklagte ist insoweit ihrer Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Der Vorhalt der Beklagten, dass der Kläger seinen Asylantrag in Ungarn nicht erwähnt und dazu nichts vorgetragen habe, verkehrt diese Aufklärungspflichten; darüber hinaus ist der Kläger in der Regel nicht in der Lage, den Verfahrensablauf zu durchschauen und darüber verlässliche Angaben zu machen (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22).
Der Anwendungsbereich des § 71a AsylG ist somit nicht eröffnet. Da die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts auch auf der Grundlage eines anderen, auf gleicher Stufe stehenden Unzulässigkeitstatbestandes nicht aufrechterhalten werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21 und 41), ist die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Nr. 1 des Bescheids) aufzuheben. Dies hat zur Folge, dass auch die auf § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 AsylG und § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung (Nr. 2 des Bescheids) nicht ergehen durfte und deshalb aufzuheben war. Gleiches gilt für die Feststellung, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, da sie jedenfalls verfrüht ergangen ist (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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