Verwaltungsrecht

Anspruch auf Familienasyl bei divergierender Staatsangehörigkeit des minderjährigen ledigen Kindes

Aktenzeichen  AN 10 K 21.30332

Datum:
10.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 35013
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 26 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes vom 25. März 2021 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. 
2. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen. 
Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
3. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG gegenüber der Beklagten, was zur Folge hat, dass der dem entgegenstehende Bescheid vom 25. März 2021 aufzuheben war und die Beklagte zu verpflichten war, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylG gemäß den Vorschriften des Familienasyls nach § 26 Abs. 2 AsylG. Danach wird ein im Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten auf seinen Antrag hin als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Berechtigten unanfechtbar ist und weder zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Gemäß § 26 Abs. 4 AsylG dürfen dabei die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 bzw. Satz 3 AufenthG oder die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AsylG nicht erfüllt sein und der Asylberechtigte darf nicht selbst nach § 26 Abs. 2 oder Abs. 3 AsylG anerkannt sein. Des Weiteren darf gemäß § 26 Abs. 6 AsylG die geltend gemachte Verfolgung im Sinne von § 2 Abs. 1 oder der Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG nicht vom Berechtigten ausgehen.
Unter Beachtung dieser Maßgaben steht der Klägerin Familienasyl im Sinne von § 26 Abs. 2 AsylG zu. Die in … am … 2020 geborene Klägerin war zum Zeitpunkt ihres Antrags am 9. Dezember 2020 minderjährig und ledig. Der Vater der Klägerin, ein syrischer Staatsangehöriger wurde nach Mitteilung des Bundesamtes selbst mit Bescheid vom 12. November 2015 als Flüchtling anerkannt. Diese Anerkennung ist seit dem bestandskräftig geworden, der Vater der Klägerin verfügt über eine durch die Stadt … ausgestellte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Es ist weder erkennbar noch vorgetragen, dass dessen Flüchtlingszuerkennung zurückzunehmen oder zu widerrufen wäre, noch, dass die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 und Abs. 6 vorliegen würden.
Unerheblich ist des Weiteren, dass die Klägerin keine eigenen Asylgründe vorgetragen hat. Zum einen ist noch ungeklärt, welche Staatsangehörigkeit die Klägerin überhaupt besitzt, wenn auch die Annahme einer tunesischen Staatsangehörigkeit überwiegend wahrscheinlich ist. Da die Klägerin selbst in Deutschland geboren ist, konnte sie keine sie persönlich betreffenden Vorfluchtgründe geltend machen. Aber auch individuelle Verfolgungsgefahren, die mit einer möglichen Einreise nach Tunesien zusammenhängen, sind nicht ersichtlich, zumal der Asylantrag der Mutter der Klägerin als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde und die dagegen gerichtete Klage zurückgenommen worden war. Auf den Beschluss des Gerichts im Eilverfahren AN 10 S 16.30671 der Mutter der Klägerin vom 29. Juni 2016 wird in einzelnen Bezug genommen.
Anders als beim Familienasyl des Ehegatten oder Lebenspartners nach § 26 Abs. 1 AsylG ist es für das Familienasyl des minderjährigen ledigen Kindes nicht erforderlich, dass die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Verfolgerstaat bestanden hatte oder noch besteht. Im vorliegenden Fall ist allerdings vorgetragen, dass im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die familiäre Lebensgemeinschaft der Klägerin sowohl mit Vater als auch mit Mutter weiterbesteht. Sollte die Klägerin die tunesische Staatsangehörigkeit besitzen, wovon, wie dargelegt, das Gericht ausgeht, so liegt es auf der Hand, dass die eheliche Lebensgemeinschaft dort in Tunesien nicht bestanden hatte. Darauf hat das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid vom 25. März 2021 allerdings auch nicht abgestellt.
Die Gewährung eines Familienasyls nach § 26 Abs. 2 AsylG wurde durch das Bundesamt (allein) deshalb versagt, weil die Klägerin und ihr Vater nicht die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen. Das Bundesamt geht davon aus, dass es eine Grundannahme des Gesetzgebers gäbe, der eine „Verfolgungsgemeinschaft“ erschaffen wolle, was zwingend zur Voraussetzung habe, dass sowohl der Asylberechtigte als auch das minderjährige ledige Kind dieselbe Staatsangehörigkeit haben müssten.
Diese Schlussfolgerung ergibt sich allerdings aus der Rechtsgrundlage des § 26 Abs. 2 AsylG gerade nicht. Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Norm wird für minderjährige ledige Kinder eines Schutzberechtigten dann Familienschutz gewährt, wenn die dortigen Voraussetzungen gegeben sind. § 26 Abs. 2 AsylG ist als Anspruch normiert.
Es besteht auch kein Anlass dazu, § 26 Abs. 2 AsylG erweiternd dahingehend auszulegen, dass als weitere – hier also ungeschriebene – Voraussetzung zu prüfen wäre, ob eine „Verfolgungsgemeinschaft“ im Herkunftsland besteht, wie es beispielsweise in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder auch in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG anklingt. Eine entsprechende Regelung für minderjährige ledige Kinder eines Asylberechtigten fehlt jedenfalls. Aus einer teleologischen Auslegung dieser Vorschriften lässt sich jedenfalls zwanglos ableiten, dass sich der Gesetzgeber in der nach § 26 Abs. 2 AsylG geregelten Konstellation eines minderjährigen ledigen Kindes bewusst dafür entschieden hat, dieses insoweit besser zu stellen als beispielsweise die Eltern dieses minderjährigen ledigen Kindes oder die Ehegatten oder Lebenspartner. Jedenfalls kann das Gericht nicht nachvollziehen, dass für diese letztgenannten Personenkreise in § 26 Abs. 1 und Abs. 3 AsylG ausdrückliche Regeln aufgestellt wurden, solche in der Vorschrift des § 26 Abs. 2 AsylG gerade nicht aufgenommen wurden, diese dann so oder zumindest in ähnlicher Konstellation doch Anwendung finden müssten. Weder nach dem Wortlaut des § 26 Abs. 2 AsylG noch nach dessen Stellung im Gesetz noch letztendlich nach dessen Sinn und Zweck, insbesondere, wenn man den Familienschutz und den Schutz minderjähriger lediger Kinder in den Vordergrund stellen würde, ergibt sich eine solche den Anwendungsbereich einschränkende Auslegung.
Des Weiteren ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit dem AsylVfG 2005 bewusst von der im AsylVfG 1990 geregelten Familienasylgewährung abgehen wollte, weil er aufgrund des damaligen hohen Zuzugs von Asylbewerbern das Aufenthalts- und Flüchtlingsrecht zur Entlastung des Bundesamts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit reformieren wollte. Die Regelung des § 7a Abs. 3 AsylVfG 1990, wonach die Familieneinheit bereits im Herkunftsstaat bestanden haben musste, wurde 2005 nicht mehr aufrechterhalten. Ziel war es nach der damaligen Gesetzesbegründung, Familienmitgliedern einen einheitlichen Rechtsstatus zu gewähren. Auch unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Motivation muss eine einschränkende Auslegung des Anspruchs aus § 26 Abs. 2 AsylG ausscheiden; eine in jedem Fall vorzunehmende Prüfung von Vorflucht- und Nachfluchtgründen, von Herkunft, Staatsangehörigkeit und Schicksalen aller beteiligten Familienmitgliedern würde dem Entlastungs- und Vereinfachungszweck des AsylVfG 2005 nämlich zuwiderlaufen. Hinzu kommt, dass ein minderjähriges lediges Kind in der Regel weder seine Staatsangehörigkeit noch seine Familienzugehörigkeit ändern oder aufgeben könnte und deshalb – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit – in die Verfolgungsnähe des asylberechtigten Elternteils rückt. Nicht umsonst entspricht es der täglichen Praxis des Bundesamts, bei Asylbegehren von Familien in erster Linie nur die Eltern anzuhören und bei den minderjährigen Kindern von den Asylgründen der Eltern auf die Kinder selbst zu schließen, ohne diese nochmals getrennt anzuhören. Unabhängig von den rechtlichen Voraussetzungen entspricht es jedenfalls guter Verwaltungspraxis des Bundesamts, die minderjährigen Kinder – jedenfalls regelmäßig – nicht der doch belastenden Anhörungssituation auszusetzen, sondern von einer Familieneinheit auszugehen. Nichts Anderes kann aber im Rahmen des § 26 Abs. 2 AsylG gelten, sodass es auch deshalb auf die Staatsangehörigkeit der Klägerin nicht ankommen kann.
Letztendlich spricht auch die Zielrichtung der – bisherigen – Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dafür, das Bestehen der gleichen Staatsangehörigkeit nicht zur Voraussetzung des Familienasyls nach § 26 Abs. 2 AsylG zu machen. In seiner Entscheidung vom 14. Oktober 2018 (Az.: C 652/16, juris), die allerdings eine andere Konstellation trifft als im vorliegenden Fall zu entscheiden, wird ausgeführt, dass es einem Mitgliedsstaat freisteht, die Erstreckung internationalen Schutzes auch auf andere Angehörige einer Familie vorzusehen, sofern dies aufgrund der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, geboten ist und ein Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes gegeben ist, wobei ein solcher Zusammenhang auch dann angenommen werden kann, wenn eine automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige erfolgt. Es ist daher nicht erkennbar, dass in § 26 Abs. 2 AsylG eine Regelungslücke vorliegen könnte, die in erweiterter Auslegung dazu führen könnte, dass eine „Verfolgungsgemeinschaft“ im Herkunftsland zwingend anzunehmen wäre. Das Gericht vermag nicht zu erkennen, dass über die gesetzliche Regelung des § 26 Abs. 1 und § 26 Abs. 3 AsylG hinaus Anhaltspunkte dafür vorliegen würden, hier zum einen eine Regelungslücke anzunehmen, die zum anderen darüber hinaus ja auch notwendigerweise als planwidrig einzustufen wäre. Das Gericht folgt somit den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Würzburg im Urteil vom 12. April 2021 (W 10 K 18.31168, juris).
Der Klägerin steht damit ein Anspruch auf Gewährung von Familienasyl gemäß § 26 Abs. 2 AsylG zu, weswegen der Klage stattzugeben war und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 25. März 2021 entsprechend zu verpflichten war.
Es wird ergänzend noch darauf hingewiesen, dass eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung der EuGH-Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts (Vorlage vom 18.12.2019, Az.: 1 C 2/19, juris) nicht in Frage kam, obwohl die Klägerin hiermit ihr Einverständnis erklärt hatte. Die Beklagte, die dem Termin der mündlichen Verhandlung am 2. August 2021 nicht beigewohnt hatte, verhält sich hierzu überhaupt nicht. Das Gericht bezieht sich auf Art. 3 der RL 2011/95/EU, wonach Mitgliedsstaaten günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling gilt, erlassen oder beibehalten dürfen, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Es ist allerdings aus der RL 211/95/EU nicht zu entnehmen, dass es für den Fall einer Familienasyl- bzw. Schutzgewährung unabdingbar sei, dass der Begünstigte dieselbe Staatsangehörigkeit besitzt wie der Berechtigte, sodass die Richtlinie der Regelung des § 26 Abs. 2 AsylG, wie sie hier verstanden wird, nicht widerspricht, was wiederum zur Folge hat, dass eine Verpflichtung zur Aussetzung des Verfahrens nicht besteht, sondern eine eigene inzidente Entscheidung möglich ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben