Verwaltungsrecht

Anspruch eines syrischen Staatsangehörigen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  AN 9 K 16.30460

Datum:
19.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4, § 3a Abs. 1, Abs. 2, § 3b Abs. 2, § 3c, § 3e Abs. 1, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

Der syrische Staat betrachtet gegenwärtig die illegale Ausreise und die Stellung eines Asylantrags im westlichen Ausland als Ausdruck einer regimefeindlichen oder jedenfalls regimekritischen Gesinnung und als Akt der Illoyalität dem syrischen Staat gegenüber und macht dieses Verhalten zum Anknüpfungspunkt für politische Verfolgung in Form von willkürlicher Festnahme, Folter oder sogar Tötung. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 14. April 2016 wird in Ziffer 2) aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Der Kläger hat im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Der Bescheid der Beklagten vom 14. April 2016, Az.: …, ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat den Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich nach Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten politischen Überzeugung außerhalb seines Landes befindet. Bei einer Rückkehr nach Syrien wäre er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einem flüchtlingsrelevanten Verfolgungsrisiko im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt.
Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl. 1953 II S. 560) ist einem Ausländer nach § 3 Abs. 1, 4 AsylG zuzuerkennen, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Als Verfolgungshandlungen sind nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG solche Handlungen anzusehen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach § 3a Abs. 2 AsylG zählen dazu unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, diskriminierende gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wie auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, insbesondere wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG). Für die Frage, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er das entsprechende, zur Verfolgung führende Merkmal tatsächlich aufweist, ausreichend ist, dass es ihm von dem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG zugeschrieben wird.
Ob eine solche Bedrohungslage für den Ausländer vorliegt und ihm bei seiner unterstellten Rückkehr politische Verfolgung droht, hat das Gericht anhand einer Prognose zu beurteilen (vgl. BVerwG, U.v. 6.3.1990 – 9 C 14.89). Auszugehen ist hierfür zunächst von seinem bisherigen Schicksal, weil in der Vergangenheit liegenden Umständen auch Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zukommt (vgl. BVerwG, U.v.27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris, Rn. 23; EuGH, U.v. 2.3.2010 – C-175/08 – juris, Rn. 92 ff.), aber auch nachträglich eingetretene Ereignisse sind zu berücksichtigen, weil nach § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf solchen Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat. Die Prognoseentscheidung hat am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7.11 – juris, Rn. 12). Es ist danach zu fragen, ob bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Falls ein vernünftig denkender und besonnener Mensch es ablehnen müsste, in sein Land zurückzukehren, weil die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 23.2.1988 – 9 C 32.87 – juris, Rn. 16; U.v. 15.3.1988 – 9 C 278.86 – juris, Rn. 23; Vorlagebeschluss v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris, Rn. 37). Entscheidend ist also der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, U.v. 23.7.1991 – 9 C 154.90 – juris, Rn. 28; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – juris, Rn. 17). Diese wird noch nicht berührt, wenn die politische Verfolgung lediglich eine theoretische Möglichkeit darstellt. Nicht zu fordern ist aber auch, dass der mathematische Wahrscheinlichkeitsgrad in jedem Fall 50% übersteigt, auch eine geringere Wahrscheinlichkeit kann hier ausreichend sein. Zu berücksichtigen ist insbesondere die Schwere des befürchteten Eingriffs. So macht es etwa für die Erwägungen eines besonnenen Menschen einen erheblichen Unterschied, ob er bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat lediglich eine geringe Freiheitsstrafe oder eine Geldbuße zu erwarten hat, oder aber ob ihm Folter, Misshandlung oder gar die Todesstrafe drohen (vgl. BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – juris, Rn. 17; Vorlagebeschluss v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris, Rn. 37). An die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Verfolgung im Falle der Rückkehr sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer und einschneidender die zu erwartende Verfolgungshandlungen ist.
Ausgehend von diesem Maßstab und unter Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Das Gericht schließt sich damit der Rechtsprechung der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte sowie Oberverwaltungsgerichte an (vgl. nur OVG Sachsen-Anhalt, U.v. 18.7.2012 – 3 L 147/12; VGH Baden-Württemberg, B.v. 19.6.2013 – A 11 S 927/13; B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 9.1.2014 – OVG 3 N 91.13; HessVGH, B.v. 27.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A; VG Würzburg, U.v. 7.9.2016 – W 2 K 16.30603; VG Regensburg, U.v. 29.6.2016 – RO 11 K 16.30707; U.v. 29.6.2016 – RN 11 K 16.30666; U.v. 6.7.2016 – RN 11 K 16.30889; VG Trier, U.v. 7.10.2016 – 1 K 5093/16.TR; U.v. 16.6.2016 – 1 K 1576/16.TR; VG Köln, U.v. 23.6.2016 – 20 K 1599/16.A; VG Düsseldorf, GB v. 10.8.2016 – 3 K 7501/16.A; VG Stuttgart, U.v. 15.3.2013 – A 7 K 2987/12 – juris). Das Gericht geht auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass der syrische Staat gegenwärtig die (illegale) Ausreise und die Stellung eines Asylantrags im westlichen Ausland als Ausdruck einer regimefeindlichen oder jedenfalls regimekritischen Gesinnung und als Akt der Illoyalität dem syrischen Staat gegenüber betrachtet und zum Anknüpfungspunkt für politische Verfolgung in Form von willkürlicher Festnahme, Folter und sogar Tötung macht. Diese Beurteilung erschließt sich aus mehreren Erkenntnissen, zum einen der Behandlung von Personen, die bis zum generellen Abschiebungsstopp im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien rücküberstellt wurden, sodann aus der Art, wie seitens des syrischen Regimes in Syrien mit Personen umgegangen wird, die einer oppositionellen Haltung verdächtigt werden, aus der Tatsache, dass syrische Staatsangehörige im Ausland – auch in der Bundesrepublik Deutschland – durch die syrischen Geheimdienste in breitem Umfang überwacht und beobachtet werden und schließlich aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011.
Zwar sind die Berichte der jüngsten Vergangenheit über die Behandlung von Rückkehrern speziell aus europäischen Ländern spärlich, da seit dem generellen Abschiebestopp im April 2011 keine abgelehnten syrischen Asylbewerber mehr in ihr Herkunftsland abgeschoben worden sind. Auch hat die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Damaskus im März 2012 ihren operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Schreiben des Auswärtigen Amts an das Bundesamt für … vom 8.3.2012). In einem Auskunftsschreiben der deutschen Botschaft in Beirut vom 3. Februar 2016 wird mitgeteilt, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt und zeitweilig inhaftiert worden sind oder dauerhaft verschwunden sind. Dem Auswärtigen Amt lägen jedoch keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe oder Sanktionen zu erleiden hätten. (vgl. Botschaft Beirut/Referat 313, Auskunftsschreiben vom 3.2.2016). Aus letzterer Aussage lässt sich indes nicht der Umkehrschluss ziehen, dass Personen, die (illegal) Syrien verlassen und im westlichen Ausland Asylantrag gestellt haben, vom syrischen Regime nicht als Oppositionelle verfolgt würden. Ausgesagt ist damit lediglich, dass das Auswärtige Amt keine positive Kenntnis von solchen Handlungen hat.
Die vorliegenden Erkenntnisquellen belegen, dass das syrische Regime unter Präsident Bashar Assad seit jeher mit unverhältnismäßiger, willkürlicher und rücksichtsloser Gewalt gegen Kritiker und Oppositionelle vorgeht. In seinem letzten Ad hoc-Bericht über die Lage in Syrien vom 17. Februar 2012 führt das Auswärtige Amt aus, syrische Oppositionsgruppen, die eine Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien anstrebten, würden durch das Regime massiv unterdrückt, wobei sich die Repressionen nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung beschränkten. Seit März 2011 seien zahlreiche Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Zudem gehe das Regime mit einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung vor, die sich seit dem Jahr 2011 gebildet hat. Möglichkeiten, sich mit Mitteln des Rechtsstaats gegen diese staatlichen Willkürakte zur Wehr zu setzen, gebe es nicht. Allein die Zahl der Verhafteten und Verschwundenen schätzt der Bericht zu dem Zeitpunkt auf über 40.000 (vgl. Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien, Februar 2012, S. 7 ff.), jüngere Berichte gehen von über 62.000 Fällen von „Verschwindenlassen“ (forced dissapearance) aus, für die die syrische Regierung verantwortlich zeichnet (vgl. US Department of State, Syria 2015 Human Rights Report, 2015, S. 4). Darüber hinaus sollen nach einem aktuellen Bericht von Amnesty International von März 2011 bis September 2015 mindestens 17.723 Personen in syrischen Gefängnissen zu Tode gekommen sein (vgl. Amnesty International, It breaks the human – torture, disease and death in Syria’s prisons, August 2016). Diese Zahlen belegen auch, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt.
Dass dieses Vorgehen gegen Oppositionelle oder solche, denen das syrische Regime oppositionelle Tätigkeit unterstellt, mit unverminderter Brutalität fortgesetzt wird, belegen der Bericht des UNHCR (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015) und der Amnesty Report 2016 Syrien. Aus den Berichten geht zudem übereinstimmend hervor, dass hiervon nicht nur Personen betroffen sind, die sich tatsächlich selbst regierungskritisch verhalten, sondern dass reflexartig häufig auch Familienangehörige, sogar Kinder, verhaftet und gefoltert werden, um Oppositionelle zu erpressen (vgl. UNHCR, Erwägungen Syrien 2015, a. a. O.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 10.9.2015 zu Syrien: Reflexverfolgung; unter Verweis auf: UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 3. aktualisierte Fassung, Oktober 2014). Hinzu kommt der Umstand, dass mit Andauern des Bürgerkriegs die verschiedenen Konfliktparteien – auch die Assad-Regierung – größeren Personengruppen wie Familien, Stämmen und religiösen bzw. ethnischen Gruppen zunehmend eine politische Meinung unterstellen. So werden beispielsweise Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen oder in Gebieten wohnen, in denen es zu Protesten der Bevölkerung kam oder in denen bewaffnete oppositionelle Gruppen in Erscheinung treten, im allgemeinen mit der Opposition in Verbindung gebracht und daher von der Regierung als regierungsfeindlich angesehen werden, was wiederum zu willkürlicher Verhaftung, Folter und Hinrichtung führen kann (vgl. UNHCR, Erwägungen Syrien 2015, a. a. O., unter Verweis auf: UN-Menschenrechtsrat, Report of the Independent International Commission of Inquiry, August 2015, u. a.).
Aktuelle Berichte bestätigen, dass jeder, der als Oppositioneller wahrgenommen werden könnte, Gefahr läuft, willkürlich inhaftiert zu werden. Sie zeichnen zudem ein erschreckendes, detailliertes Bild davon, wie das syrische Regime mit inhaftierten Personen unter Missachtung jeglicher Gebote der Menschlichkeit umgeht (vgl. Amnesty International, It breaks the human, August 2016; Human Rights Watch, If the dead could speak – mass death and torture in Syria’s detention facilities, 2015). Hiernach findet Folter aller Art wie Schläge, Fixierung in sogenannten Stresspositionen, Elektroschocks, Vergewaltigung, u. a., regelmäßig statt und wird unterschiedslos nicht nur zur Erpressung von Aussagen, sondern auch schlicht angewandt, um den Häftling zu „brechen“. Den Insassen wird der Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung, sanitären Einrichtungen und ausreichender Nahrung verweigert. Diese Berichte drängen den Schluss auf, dass es lediglich von der Willkür der Wärter und damit vom Zufall abhängig ist, ob ein Insasse die Haft überlebt.
Weiter geht die Kammer davon aus, dass außerhalb ihres Landes lebende Syrer einer umfassenden Kontrolle und Ausforschung durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste unterliegen. So schilderte das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht 2012, dass die Aktivitäten der syrischen Nachrichtendienste in Deutschland vor allem der Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, unter anderem Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten, dienten. Mit der Ausweitung der Unruhen in Syrien habe man auch in Deutschland einen Anstieg der nachrichtendienstlichen Tätigkeit syrischer Dienste feststellen können (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400 f.). Auch 2015 stellte das Bundesamt für Verfassungsschutz fest, dass die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen verfügten und ihr Aufgabenschwerpunkt nach wie vor die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes sei (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Es ist – zumal in Kriegszeiten – unrealistisch, anzunehmen, der syrische Staat würde solche Anstrengungen unternehmen, wenn er nicht zunächst davon ausginge, dass seine ins westliche Ausland geflohenen Bürger in Opposition zu ihm stehen oder wenigstens Kontakt zur Exil-Oppositionsszene haben könnten.
Bekräftigt wird dieser Schluss durch einen aktuellen kanadischen Bericht (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service, factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion, 2015, mit Verweis auf: US Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2014, Juni 2015). Hunderttausende Flüchtlinge versuchten danach jedes Jahr aus den angrenzenden Nachbarstaaten (sei es, weil sie mangels finanzieller Möglichkeiten außerhalb Syriens keinen Schutz gefunden haben, sei es, um ihre Familie zu unterstützen oder aus anderen Gründen) wenigstens zeitweise nach Syrien zurückzukehren. Diese würden bei ihrer Rückkehr sowohl am internationalen Flughafen von Damaskus als auch an den Grenzübergängen von syrischen Sicherheitsbeamten überprüft. Hierbei würden insbesondere Ausweisdokumente mit Datenbanken daraufhin abgeglichen, ob die Person „gesucht“ ist. Die Sicherheitsbeamten hätten hierbei quasi eine „carte blanche“ für Maßnahmen aller Art, wenn sie die Person aus irgendeinem Grund verdächtigen, insbesondere könnten sie die Person jederzeit festnehmen. Das gilt dem Bericht zufolge insbesondere für abgelehnte Asylsuchende, da ihnen bei ihrer Rückkehr oppositionelle Gesinnung vorgeworfen wird. Wenn aber schon Personen, die sich lediglich in die angrenzenden Staaten begeben haben, bei ihrer Rückkehr mit Untersuchungsmaßnahmen, die aufgrund der herrschenden Willkür jederzeit in Verhaftung und Folter umschlagen können, rechnen müssen, gilt diese Befürchtung erst recht für solche, die sich nach (illegaler) Ausreise im europäischen Ausland aufgehalten und dort Asylantrag gestellt haben.
Inhaftierungen nach freiem Ermessen werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 bestimmt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für die Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist.
Die Berichte zeigen, dass das syrische Regime auch trotz des andauernden Bürgerkriegs und des Verlustes über einige Landesteile noch über die Kapazitäten verfügt, um Rückkehrer dementsprechend zu verfolgen. Da eine (hypothetische) Rückführung von Seiten des rückführenden Staats stets in Abstimmung mit den Behörden des aufnehmenden Staats erfolgen würde, bräuchte der syrische Staat hierfür im Übrigen nicht mehr Ressourcen, als ihm derzeit zur Verfügung stehen – insbesondere die Kontrolle über den internationalen Flughafen in Damaskus, dort vorgehaltene Mitarbeiter und Gefängnisse (vgl. VG Regensburg, U.v. 29.6.2016 – RN 11 K 16.30666; VG Würzburg, U.v. 7.9.2016 – W 2 K 16.30603 – juris). Auch kann die vermehrte Ausstellung von Reisepässen durch die syrischen Behörden nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Vor dem Hintergrund der dargestellten Lage erscheint die Einschätzung des Auswärtigen Amts realistisch, wonach die geänderte Ausstellungspraxis wohl überwiegend finanziell motiviert ist (ein neuer syrischer Reisepass kostet nach Angaben des Auswärtigen Amts außerhalb Syriens, z. B. in der syrischen Botschaft in der Türkei oder im Libanon derzeit 400 US-Dollar) und keinen Rückschluss auf eine „liberalere“ Haltung des Regimes gegenüber illegal Ausgereisten bzw. Rückkehrern aus dem europäischen Ausland zulässt (vgl. Botschaft Beirut/Referat 313, Auskunftsschreiben vom 3.2.2016).
Ein vernünftig denkender und besonnener Mensch müsste es unter den dargestellten Umständen ablehnen, nach Syrien zurückzukehren. Angesichts dessen, was ihm schon im Falle einer verdachtsunabhängigen Befragung drohen könnte, wäre es ihm schlechthin nicht zuzumuten, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Nach Überzeugung des Gerichts genügen diese Umstände, um im vorliegenden Fall eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen der (unterstellten) politischen Überzeugung anzunehmen, und begründen den Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Dem steht auch der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. September 2016 (21 ZB 16.30163) nicht entgegen. Sofern mit den dort angesprochenen, aber nicht näher ausgeführten Entwicklungen der vergangenen Jahre der Verlauf des Bürgerkriegs in Syrien gemeint ist, vermag das Gericht nicht den Schluss zu ziehen, dass die Verschärfung dieses Konflikts zu einem nachsichtigeren Umgang des syrischen Regimes mit Kritikern hätte führen können, und die aus den Jahren 2011 und 2012 stammenden Berichte demzufolge – wie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof möglicherweise angenommen – überholt wären. Vielmehr kommt das Gericht auch auf Grundlage der neuen und neuesten Berichte aus den Jahren 2014, 2015 und 2016, die diesem Urteil zugrunde liegen, zu der oben dargestellten Einschätzung.
Im Fall des Klägers als einem wehrpflichtigen jungen Mann kommt hinzu, dass ihm seine Flucht aus Syrien seitens der syrischen Behörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch als Wehrdienstverweigerung ausgelegt werden würde. Diese ist in Syrien strafbar und in Kriegszeiten mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Juli 2014). Die Ausreise des Klägers könnte daher auch aus diesem Grund mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seine Inhaftierung zur Folge haben. Eine solche Strafandrohung erfüllt aber im Hinblick auf die oben geschilderten Haftbedingungen das Merkmal der politischen Verfolgung. Selbst wenn er diese umgehen könnte, so wäre er gezwungen, in die syrische Armee einzutreten. Dies ist umso wahrscheinlicher, als aktuelle Berichte davon sprechen, dass das syrische Regime seit dem Ausbruch des Krieges seine Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten in die syrische Armee deutlich intensiviert hat (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, März 2015). Der Kläger wäre damit gezwungen, in einer Armee zu dienen, aus deren Reihen heraus Kriegsverbrechen und Folter begangen werden. § 3 a Abs. 2 Nr. 5 AsylG regelt, dass als Verfolgungshandlung auch die Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes zählt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, insbesondere Kriegsverbrechen. Dass von der syrischen Armee solche Kriegsverbrechen wie beispielsweise die gezielte Bombardierung von Wohngebieten, Krankenhäusern oder anderen zivilen Versorgungseinrichtungen oder auch die Folter von Kriegsgefangenen, begangen werden, steht schon aufgrund der allgemein zugänglichen täglichen Berichterstattung in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien zur ausreichenden Überzeugung des Gerichts fest. Die wegen des Wehrdienstentzugs drohenden Maßnahmen begründen somit die beachtliche Gefahr einer weiteren flüchtlingsrelevanten Verfolgungshandlung.
Eine inländische sichere Fluchtalternative im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG steht Rückkehrern nach Syrien nicht zur Verfügung, da sie bei Einreise über den internationalen Flughafen von Damaskus unter Umgehung der drohenden Befragung sicher und legal keinen (möglicherweise) sicheren Landesteil erreichen könnten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708, 711 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach
Hausanschrift:
Promenade 24 – 28, 91522 Ansbach, oder
Postfachanschrift:
Postfach 616, 91511 Ansbach,
zu beantragen.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz mit Befähigung zum Richteramt oder die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Beschluss:
Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts … gewährt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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