Verwaltungsrecht

Asyl, Afghanistan: Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 18 K 17.35707

Datum:
18.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28821
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1 Die willkürliche Gewalt gegen Zivilpersonen erreicht in Kabul noch nicht die Dichte, die vorausgesetzt wird, um einen subsidiären Schutzstatus auszulösen (vgl. BayVGH BeckRS 2017, 102526).  (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2 Sinn und Zweck des zeitlich sehr eng gefassten § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG besteht darin, Abschiebungsverbote aufgrund chronischer Erkrankungen zur Vermeidung von übermäßiger Zuwanderung gerade chronisch kranker Personen und daraus folgender Überlastung der Gesundheitssysteme nicht zuzulassen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Der Kläger hat keinen der enumerativ aufgezählten Verfolgungsgründe aus § 3b AsylG vorgetragen. In der Anhörung und der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, dass er von seinem Stiefvater misshandelt worden sei und daher Afghanistan verlassen habe. Diese Misshandlungen und die vom Stiefvater erzwungene Zwangsarbeit fanden nicht im Zusammenhang mit einem der Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG statt, sondern beruhten auf der Drogensucht des Stiefvaters und dessen Verständnig von „Erziehung“.
Der Kläger ist schiitischer Hazara. Auch eine Gruppenverfolgung der Hazara durch die Taliban oder den IS ist jedoch aktuell in Afghanistan nicht anzunehmen (BayVGH, B.v. 14.8.2017, Az. 13a ZB 17.30807 – juris Rn. 17; VGH Baden-Württemberg, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 45ff.). Nach den neueren Erkenntnismitteln ist zwar dokumentiert, dass insbesondere der IS ab 2016 und auch noch im Jahr 2018 mehrfach große Anschläge auf schiitische Hazara vornahm (EASO, COI Report Afghanistan, Security Situation, Dezember 2017, S. 39ff; UNAMA, Protection of civilians in armed conflict: attacks against places of worship, religious leaders and worshippers, 7.11.2017, S. 1f.). Allerdings verurteilte die Mehrheit der Bevölkerung die Attentate (EASO, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dez 2017, S. 53ff. (57oben)), sodass nicht davon auszugehen ist, dass die erforderliche Verfolgungsdichte für eine Gruppenverfolgung erreicht ist (EASO Country Guidance, Juni 2018, S. 61f) .
Ein Anspruch auf Zuerkennung eines subsidiären Schutzes steht dem Kläger nicht zu. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Kläger hat das Gericht vom Vorliegen von stichhaltigen Gründen, dass ihm eine Gefahr in seinem Heimatdorf droht, nicht überzeugt. Trotz der Annahme einer Vorverfolgung durch den Stiefvater besteht aktuell keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für den Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan.
Nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ist die Tatsache, dass der Antragsteller bereits von einem Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr laufe ernsthaften Schaden zu erleiden; es sei denn stichhaltige Gründe sprechen dagegen. Der Kläger gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, dass er sich aufgrund seines nun fortgeschrittenen Alters nicht mehr in Gefahr sehe, durch seinen Stiefvater zur Zwangsarbeit geschickt oder misshandelt zu werden. Er gab an, er werde sich gegen ihn durchsetzen können. Daher sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger bei einer Rückkehr wieder Misshandlungen oder einer erzwungenen Zwangsarbeit durch seinen Stiefvater ausgesetzt sein würde.
Auch eine ernsthafte Gefahr auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist bei einer Rückführung des Klägers nicht zu erwarten. Demnach gilt als Drohen eines ernsthaften Schadens auch eine ersthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen einer internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Ein innerstaatlicher Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist praktisch im gesamten Staatsgebiet Afghanistans anzunehmen.
Für die Ermittlung einer individuellen, ernsthaften Bedrohungslage im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG stellt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 – juris Rn 32ff folgende Maßstäbe auf:
„(…) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 17. Februar 2009 – Rs. C-465/07 – (Elgafaji a. a. O.) das Erfordernis einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie [2004/83/EG] dahingehend ausgelegt, dass es sich auf schädigende Eingriffe beziehe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richteten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreiche, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne der Richtlinie ausgesetzt zu sein. Mit Blick auf den 26. Erwägungsgrund und die Systematik des Art. 15 der Richtlinie bleibe dies allerdings einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sei, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber nach Auffassung des Senats auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, (…). Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Insoweit können auch die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden.“
Das Bundesverwaltungsgericht ergänzte weiter in seinem Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 23:
„Zwar bedarf es (…) neben dieser quantitativen Ermittlung auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung (Urteil vom 27. April 2010 a. a. O. Rn. 33). Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann. Der Mangel in der Vorgehensweise des Berufungsgerichts bleibt aber im vorliegenden Fall ohne Folgen. Denn die Höhe des vom Berufungsgericht festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens ist so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwirken vermag.“
Unter Anlegung dieser Maßstäbe erreicht die willkürliche Gewalt gegen Zivilpersonen in Kabul noch nicht die Dichte, die vorausgesetzt wird, um einen subsidiären Schutzstatus auszulösen (s. BayVGH, U.v. 25.1.2017, 13a ZB 16.30374, juris – Rn. 11).
Zunächst ist festzustellen, dass die erforderliche Verdichtung der willkürlichen Gewalt bereits in quantitativer Hinsicht nicht anzunehmen ist. Das Bundesverwaltungsgericht beanstandete die Annahme nicht, dass sich die willkürliche Gewalt bei einem Verhältnis von Opfern willkürlicher Gewalt zu Einwohnern von 1:800 noch nicht ausreichend verdichtet hat (BVerwG, Urteil vom 17. 11. 2011 – 10 C 13.10 juris Rn 22). Als gefahrerhöhender Umstand in der Person des Klägers ist seine Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams und zur Ethnie der Hazara zu zählen. Nach den neueren Erkenntnismitteln ist dokumentiert, dass insbesondere der IS ab 2016 und auch noch bis ins Jahr 2018 mehrfach große Anschläge auf religiös Stätten von Schiiten vornahm (EASO, COI Report Afghanistan, Security Situation, Dezember 2017, S. 39ff; UNAMA, Protection of civilians in armed conflict: attacks against places of worship, religious leaders and worshippers, 7.11.2017, S. 1f.), so dass aufgrund der anzunehmenden Religionsausübung durch den Kläger in schiitischen Stätten ein erhöhtes Gefährdungspotential im Vergleich zur (überwiegend) sunnitischen Bevölkerung Afghanistans angenommen werden kann.
In der Provinz Kabul leben ca. 4,4 Million Menschen, davon ca. 3,6 Million in Kabul-Stadt (EASO COI-Bericht Security Situation vom 1.12.2017, S. 153). Im Jahr 2017 dokumentierte UNAMA in der Provinz Kabul insgesamt 1.831 zivile Opfer von Bürgerkriegsparteien. Dies entspricht einer Zunahme von 4% im Vergleich zum Jahr 2016 (UNAMA, Protection of civilians in armed conflicts, annual report 2017, S. 67). Aktuell liegt bei Annahme o.g. Zahlen aus den verfügbaren Erkenntnismittel ein Verhältnis von 1:2.403 Menschen vor, das sehr weit von einer quantitativ als ausreichender Gefahrverdichtung anzusehenden Schwelle entfernt ist. Selbst bei einer möglichen Verdreifachung der Opferzahlen im laufenden Jahr ist ein quantitativ ausreichendes Maß an willkürlicher Gewalt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (gerade) noch nicht erreicht (BVerwG, U. v. 14. Juli 2009 – 10 C 9/08 – juris Rn. 17; BVerwG, U. v. 17. November 2011 – 10 C 13/10 -, juris Rn. 22), so dass eine aufgrund der Methodologie der UNAMA mögliche Untererfassung der Opfer aktuell noch keine ausschlagende Rolle spielt. Aus den Erkenntnismitteln des laufenden Jahres ist ersichtlich, dass die Situation sich nicht stark verschlechtert hat, sondern auf dem vorliegenden Gewaltniveau stagniert (vgl. UNAMA, Protection of the civilians, midyear-report 2018, S. 1). Bezüglich Mazar-i Sharif fallen die Zahlen noch weiter jenseits des oben beschrieben Verhältnisses aus. Für die Provinz Balkh sind bei einer Einwohnerzahl von ca. 1,38 Million 129 Opfer bei einer Reduzierung von 68% gegenüber dem Jahr 2016 anzunehmen (Einwohnerzahlen: EASO COI-Bericht Security Situation vom 1.12.2017, S. 88, 137; Opferzahlen: UNAMA, Protection of civilians in armed conflicts, annual report 2017, S. 67).
In qualitativer Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Opfern – je nach Stadt – zu 1/3 bis die Hälfte um Tote handelt, während der andere Personenanteil verletzt ist. Die medizinische Versorgung Afghanistans, die im Allgemeinen als eher schlecht einzustufen ist (EASO, COI Report Afghanistan, Key socio-economic indicators, August 2017, S. 49f), ist in den Großstädten hinreichend gewährleistet. Ein starkes Stadt-Land-Gefälle in der medizinischen Versorgungslage zugunsten der Städte ist erkennbar (EASO, COI Report Afghanistan, Key socio-economic indicators, August 2017, S. 50). So haben alle oben benannte Städte staatlich geführte Krankenhäuser mit modernen Geräten und qualifiziertem Personal zur Verfügung (EASO, COI Report Afghanistan, Key socio-economic indicators, August 2017, S. 56ff.).
Als weiterer Aspekt der qualitativen Bewertung der Bedrohungslage ist, ob aus den benannten Regionen hohe Flüchtlingszahlen zu vermelden sind. Bei beiden benannten Städten ist erkennbar, dass diese eher Zufluchtspunkt für diverse Fluchtbewegungen darstellen, als Orte aus denen die Menschen fliehen (vgl. Karte über Flüchtlingsbewegungen im Zeitraum vom 1.9.2016 bis 31.5.2017, EASO COI-Bericht Security Situation vom 1.12.2017, S. 53). Für den Zeitraum bis zur mündlichen Verhandlung sind keine großen Änderungen an diesem Trend ersichtlich.
Qualitativ negativ zu bewerten ist, dass in beiden benannten Provinzen bzw. Städten die Opferzahlen größtenteils aus ungezielten Selbstmordattentaten, Bombenattentaten oder IEDs erfolgte, denen die Bevölkerung in ihrem Alltagsleben ausgesetzt sind und denen mit Vorsichtsmaßnahmen oder Vermeidungsverhalten nur bedingt begegnet werden kann (UNAMA, Protection of civilians in armed conflicts, annual report 2017, S. 67; UNHCR-Richtlinie vom 30. August 2018, S. 112f).
Insgesamt ist bei Einbezug sowohl der quantitativen, als auch der qualitativen Fakten der Bedrohungslage und des gefahrerhöhenden Umstands in der Person des Klägers noch nicht von einer ausreichenden Verdichtung der Gefahr auszugehen. Es wird festgestellt, dass der Abschiebung des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entgegensteht. Zur Begründung wird insoweit nach § 77 Abs. 2 AsylG auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen. Neuere Erkenntnismittel zum Zeitpunkt der Urteilsfällung ergeben, dass die wirtschaftliche Lage sich zwar weiter verschlechtert hat, jedoch für junge Männer ohne besondere Vulnerabilitäten davon auszugehen ist, dass diese ein Existenzminimum verdienen können (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, U.v. 9.11.17 – A 11 S 789/1 juris Leitsätze; EASO COI Report, Afghanistan Networks, Jan 2018, S. 27ff.; EASO, COI Report Afghanistan, Key socio-economic indicators, August 2017, S. 22ff., 28ff.). Nach Maßgabe der UNHCR-Richtlinie vom 30. August 2018 ist bezüglich des internen Schutzes – jedenfalls in Mazar-i Sharif – bei alleinstehenden jungen gesunden Männern auch ohne familiäres Netzwerk davon auszugehen, dass sie ihr Existenzminimum erwirtschaften können (UNHCR-Richtlinie vom 30. August 2018, S. 110). Mangels Glaubhaftmachung einer drohenden Gefahr bei Rückkehr nach Kabul und wegen der in Kabul und Mazar-i-Sharif existierenden familiären Strukturen des Klägers ist davon auszugehen, dass es dem Kläger möglich sein wird, seinen Lebensunterhalt in Afghanistan zu erwirtschaften. Der Kläger ist zum aktuellen Zeitpunkt auch der Gruppe der gesunden, arbeitsfähigen Bevölkerung zuzurechnen. So zeigen die Operationen vom 2. und 29. Mai sowie vom 2. August 2018 nach Angabe des Klägers keine Nachwirkungen mehr und führen dazu, dass der Kläger wieder arbeitsfähig ist. Körperliche Einschränkungen habe dieser nicht mehr, sodass er nach Ablauf der Schonzeit ab Anfang Dezember 2018 wieder als voll arbeitsfähig einzustufen ist. Angesichts der Zeit bis zur Rechtskraft dieses Urteils ist daher mit einer Rückkehr vor Ende der Schonzeit nach der Operation nicht zu rechnen. Die weiterhin bestehende genetische Erkrankung kann im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht berücksichtigt werden, da der Kläger durch sie in näherer Zeit keinen weiteren körperlichen Einschränkungen unterliegen. Der Kläger, der bereits jahrelang als Hilfsarbeiter in Kabul und im Iran als Autolackierer gearbeitet hat, wird mit Hilfe seiner familiären Netzwerke (z.B. Onkel und Cousins mütterlicherseits) mit ausreichender Wahrscheinlichkeit sein Existenzminimum durch Arbeit erwirtschaften oder von seiner Verwandtschaft erhalten werden. Es wird festgestellt, dass der Abschiebung des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entgegensteht. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll festgestellt werden, wenn im Zielland für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Bei Erkrankungen liegt eine erhebliche konkrete Gefahr nach Maßgabe des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung alsbald wesentlich verschlechtern würden, vor.
Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger substantiiert vorgetragen derzeit an einer schwerwiegenden und lebensgefährlichen Erkrankung zu leiden und dies durch die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen untermauert. Aufgrund der genetischen Erkrankung ist davon auszugehen, dass der Kläger im Lauf der nächsten Jahre mit einer an die 100 Prozent reichenden Wahrscheinlichkeit erneut an Darmkrebs erkranken wird. Nach Ansicht des Gerichts liegt eine chronische, lebensgefährliche Erkrankung vor.
Eine konkrete, erhebliche Gefahr für das Leben bzw. den Leib des Klägers ist bei Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der schwerwiegenden Erkrankung jedoch nicht zu erwarten. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Eine Gefahr ist „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8).
Unter Anlegung der oben benannten Maßstäbe ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intenstität durch die chronische Erkrankung zu erwarten, da der Kläger mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erneut an Darmkrebs erkranken wird. Jedoch ist die Gefahr nicht konkret genug, da sich der Gesundheitszustand des Klägers nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr nach Afghanistan verschlechtern wird. Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit des Klägers, an Darmkrebs zu erkranken, handelt es sich um eine latente Gefahr, die zwar irgendwann innerhalb der nächsten Jahre zu tragen kommen wird, aber nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bereits alsbald nach seiner Rückkehr nach Afghanistan eintreten muss. Auch bei einer wohl erforderlichen Ausdehnung der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „alsbald“ angesichts der sehr hohen Wahrscheinlichkeit (100%) eines sehr intensiven Krankheitsausbruchs (Darmkrebs) steht jedoch für das Gericht nicht fest, dass der Kläger innerhalb einiger Monate nach seiner Rückkehr wieder an Darmkrebs erkranken wird. Dagegen sprechen die ärztlicherseits präventiv angeordneten, halbjährlichen Untersuchungsintervalle. Die letzte Untersuchung fand nach Angaben des Klägers erst Anfang Oktober 2018 statt und brachte kein positives Ergebnis. Sinn und Zweck des zeitlich sehr eng gefassten § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG besteht darin, Abschiebungsverbote aufgrund chronischer Erkrankungen zur Vermeidung von übermäßiger Zuwanderung gerade chronisch kranker Personen und daraus folgender Überlastung der Gesundheitssysteme nicht zuzulassen. Unter Betrachtung dieses Gesetzeszweckes ist ein Abschiebungsverbot mangels einer ausreichenden Konkretisierung der Gefahr durch die lebensgefährliche Erkrankung des Klägers abzulehnen.
Auch ist das Vorliegen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung abzulehnen. Auch bei Prüfung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes aufgrund § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung darauf abzustellen, ob mit hoher Wahrscheinlichkeit eine „erhebliche konkrete Gefahr“ im Sinne einer Extremgefahr alsbald nach der Rückkehr in das Herkunftsland besteht (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 17ff.; BVerwG, Urteil vom 29.6.2010 – 10 C 10.09 – juris Rn. 15f, 20). Hierzu kann auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG Bezug genommen werden, da die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Konkretheit der Gefahr in zeitlicher Hinsicht parallel läuft, wenn nicht sogar noch strenger zu fassen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 S. 1 VwGO i.V.m. § 708, 711 ZPO.


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