Verwaltungsrecht

Asyl, Türkei: Unglaubhafter Vortrag, keine staatliche Verfolgung von Kurden

Aktenzeichen  Au 6 K 17.35316

Datum:
4.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28781
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 92 Abs. 3, § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3, § 4

 

Leitsatz

1 Eine Verfolgung allein wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Die Kurden sind eine weit verbreitete Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit der Kläger die Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit der Kläger seine Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO analog einzustellen (vgl. BVerwG, B.v. 7.8.1999 – 4 B 75/98 – NVwZ-RR 1999, 407).
Im Übrigen ist die zulässige Klage unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes oder auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz VwGO). Es wird Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse,
Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 -10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan die zahlenstärkste Fraktion darstellt.
Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die prokurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethnokulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichtenspezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkischnational empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkischsäkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnischnationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkischkurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdogan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swpberlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdogans ist ein Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 5, 7 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdogan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl die Mehrheit (vgl. N.N., Bestätigung der Wahlkommission: Erdogan gewinnt Präsidentenwahl in der Türkei, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdogan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).
In der Nacht vom 15/16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdogan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdogan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Diese wurde daher als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 103.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 86.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter 41.000 Personen in Untersuchungshaft (ca. 7.500 Polizisten, 6.700 Militärangehörige, 2.400 Richter und Staatsanwälte). Über 76.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; in etwa 20.000 Fällen wurde die Suspendierung mittlerweile beendet. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt und mehrfach verlängert wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen zu Suspendierten und Verhafteten auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.). Weitere 18.500 Staatsbedienstete wurden per Dekret noch im Juli 2018 entlassen, darunter 9.000 Polizisten und 6.000 Armeeangestellte (vgl. Erdogan entlässt 18.500 Staatsbedienstete, www.spiegel.de, Abruf vom 9.7.2018).
Es ist zu erwarten, dass der nach nunmehr zwei Jahren am 18. Juli 2018 ausgelaufene Ausnahmezustand nicht mehr verlängert wird, aber zentrale Inhalte in Gesetzesform überführt und damit dauerhaft gemacht werden, insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swpberlin.org).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer defacto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 9). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/afauslaenderextremismusohneislamismus/wasistauslaenderextremismus/arbeiterparteikurdistanspkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKKIdeologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Der Vortrag des Klägers zu seinen Verfolgungsgründen ist in wesentlichen Teilen widersprüchlich sowie im Übrigen vage und detailarm und damit insgesamt unglaubhaft. Das Gericht ist weder davon überzeugt, dass der Kläger die Türkei verfolgt verlassen hat noch, dass dem Kläger zum vorliegenden Zeitpunkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.
Ein wesentlicher Widerspruch besteht bezüglich etwaiger Inhaftierungen des Klägers durch den türkischen Staat. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger noch an, er sei anlässlich der Newroz-Feierlichkeiten am 21. März 2016 in der Folgezeit zwei- oder dreimal für sieben bis zehn Tage in * inhaftiert worden. Er sei dabei beleidigt und erniedrigt, aber nicht gefoltert worden. Während seiner Inhaftierungen hätten die Polizisten nur Fotos gemacht und ihn kurz verhört, aber keine Personalien aufgenommen. Wenn die Polizisten sich nicht 100% sicher gewesen seien, ob eine Straftat vorliege, hätten sie einen freigelassen; dies sei bei ihm der Fall gewesen. In der mündlichen Verhandlung gab er hingegen an, in der Türkei nie inhaftiert worden zu sein. Wenn er je inhaftiert worden wäre, hätte er nicht in die Bundesrepublik ausreisen können. Der Kläger wandelte daher einen wesentlichen Verfolgungsgrund diametral ab.
Gesteigert ist demgegenüber sein Vortrag in der mündlichen Verhandlung, seine Familie in * werde seit seiner Einreise in die Bundesrepublik fortwährend vom türkischen Staat überwacht, kontrolliert und angegriffen. Übergriffe des türkischen Staates auf seine Ehefrau und seine Kinder erwähnte der Kläger indes bei seiner Anhörung nicht, obgleich sich dies hätte aufdrängen müssen, als der Kläger in der Anhörung von seiner Familie berichtete. Dagegen berichtete er in der mündlichen Verhandlung wiederum nicht vom Tod seines Freundes bei den Newroz-Feierlichkeiten sowie den nächtlichen Hausdurchsuchungen in Istanbul, obgleich diese Ereignisse bei seiner Anhörung noch wesentliche Fluchtgründe darstellten.
Widersprüchlich sind auch seine Angaben zu seinem Reisepass. Gab er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt noch an, es habe sich um seinen eigenen Reisepass gehandelt und lehnte das Bundesamt daraufhin den Asylantrag u.a. mit der Begründung ab, dass der Kläger mit seinem eigenem Reisepass auf dem Luftweg habe ausreisen können, passte er in der mündlichen Verhandlung seinen Vortrag darauf an und trug vor, er habe für den Reisepass 5.000 Euro an den Schleuser gezahlt und es handele sich um eine Fälschung.
Unstimmig sind auch die zeitlichen Angaben des Klägers. Trug er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt noch vor, ungefähr ein Jahr in Istanbul gelebt zu haben und stützte das Bundesamt seine Asylablehnung daraufhin auch darauf, dass es unglaubhaft sei, dass der Kläger für so lange Zeit trotz mehrfacher Hausdurchsuchungen und Arbeitsplatzsuche des Klägers nicht von der Polizei gefunden worden sei, verkürzte er seinen Aufenthalt in Istanbul in der mündlichen Verhandlung auf vier Monate.
Unglaubhaft und widersprüchlich sind auch schon seine Angaben bei der Anhörung vor dem Bundesamt. Unglaubhaft weil praxisfern ist es, dass der Kläger mehrfach für sieben bis zehn Tage inhaftiert und befragt worden wäre, ohne dass die Polizei je seine Personalien aufgenommen hätte oder sie ihr bekannt gewesen wären. Eine zielgerichtete Befragung des Klägers setzt notwendigerweise die Kenntnis seiner Personalien voraus. Widersprüchlich ist zudem seine Aussage, die Hausdurchsuchungen in Istanbul hätten immer nachts stattgefunden, er sei jedoch nicht anwesend gewesen; er habe versucht, nachts das Haus nicht zu verlassen. Es ist nicht ersichtlich, wie der Kläger wiederholt den nächtlichen Hausdurchsuchungen hätte entgehen können, wenn er gleichzeitig nachts das Haus nicht verließ.
Im Übrigen ist der Vortrag des Klägers äußerst pauschal, vage und detailarm. Seine eigenen Ausführungen beschränkten sich darauf, pauschal vorzutragen, ihm werde Terrorismus vorgeworfen und seine Familie werde ständig kontrolliert bzw. angegriffen. Auch insoweit erweist sich der Vortrag des Klägers als nicht glaubhaft.
Gegen eine Verfolgung des Klägers durch den türkischen Staat spricht des Weiteren, dass der Kläger auf dem Luftweg ausreisen konnte. Hinsichtlich seines angeblich gefälschten Passes trug er vor, dass die Personalien korrekt gewesen seien und das Foto ihn gezeigt habe. Von einer Ausreisesperre erhalten Betroffenen spätestens bei den Kontrollformalitäten bei der Ausreise Kenntnis (Auswärtiges Amt v. 11.6.2018). Dass der Kläger indes ungehindert auf den Luftweg ausreisen konnte, belegt, dass gegen ihn keine Ausreisesperre verhängt worden war. Dies wäre jedoch zu erwarten gewesen, wenn der Kläger wie von ihm vorgetragen wegen Terrorismusverdachts mit Haftbefehl gesucht worden wäre.
Dem im Verfahren vorgelegten behördlichen Schreiben, in dem bestätigt wird, dass der Kläger mit Haftbefehl gesucht wird und den sonstigen vorgelegten Dokumenten kommen im Hinblick auf die festgestellten Widersprüche und Steigerungen im Vortrag des Klägers kein derart hoher Beweiswert zu, dass der Vortrag des Klägers insgesamt noch als glaubhaft zu bewerten wäre. Eine Möglichkeit der Beschaffung echter Personaldokumente mit unwahrem Inhalt (Geburts-, Heirats-, Sterbeurkunden, Auszüge aus dem Personenstandsregister, Personalausweise, Reisepässe) ist nach wie vor – insbesondere in den Provinzen Ost- und Südostanatoliens – vereinzelt feststellbar. Sehr wenige Einzelfälle lassen darauf schließen, dass inhaltlich falsche sonstige Dokumente (Vorladungen, Bescheinigungen, dass eine Person gesucht wird) von türkischen Amtsträgern bereitgestellt wurden. Gefälschte und verfälschte türkische Dokumente jeder Art sind demgegenüber relativ leicht erhältlich (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.2.2017, S. 30 f.). Für den aus Ostanatolien stammenden Kläger ist die Beschaffung unwahrer und/oder gefälschter Bestätigungen darüber, dass er mit Haftbefehl gesucht wird, demnach möglich. Der Kläger selbst hat dies bestätigt: So trug er nicht nur vor, für den gefälschten Reisepass 5.000 Euro an den Schleuser gezahlt zu haben. Hinsichtlich der Bestätigung, dass er mit Haftbefehl gesucht werde, gab er an, einem Verwandten Geld gegeben zu haben, dieser sei dann zur Polizei gegangen, welche ihm das Dokument ausgestellt habe. In der Gesamtbetrachtung ist das Gericht daher davon überzeugt, dass es sich um ein Dokument unwahren Inhalts handelt.
Soweit der Kläger geltend macht, das Haus seiner Familie sei im Jahr 2015 von der Polizei beschossen worden, so fehlt es insoweit auch an einem zeitlichen Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und der Ausreise des Klägers zwei Jahre später. Da nach Vortrag des Klägers auch andere Häuser beschossen wurden und niemand von seiner Familie verletzt wurde, ist davon auszugehen, dass es sich insoweit – den unglaubhaften Vortrag des Klägers als wahr unterstellt – um einen sich nicht individuell und gezielt gegen die klägerische Familie gerichteten, einmaligen Amtsträgerexzess handelte.
Auch die Teilnahme an einer Demonstration der Kurden in München begründet nicht die Gefahr der Verfolgung. Insofern ist schon auffällig, dass der Kläger bei seiner Anhörung angab, in der Türkei nie politisch aktiv und kein Parteimitglied gewesen zu sein, wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung nun aber an einer Demonstration teilnimmt. Insoweit hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass sein neuerlicher Entschluss auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar getätigten Überzeugung beruht i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Des Weiteren ist nicht ersichtlich, wie die gelegentliche Teilnahme an Demonstrationen in der Bundesrepublik ein Verfolgungsinteresse der Türkei begründen sollte, insbesondere nachdem der Kläger sich in der Türkei nicht politisch engagiert hat und soweit ersichtlich auch in der Bundesrepublik kein prominenter und/oder bedeutsamer Vertreter der kurdischen Interessen ist. Ebenso wenig hat der Kläger glaubhaft dargelegt, dass der türkische Staat überhaupt Kenntnis von seiner Teilnahme hat; der pauschale Verweis auf etwaige Spionagetätigkeiten genügt insoweit nicht zur Glaubhaftmachung.
c) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel -sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22). Der Kläger steht indes nicht im Fokus behördlicher Maßnahmen (vgl. oben).
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S.
des § 4 Abs. 1 AsylG. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in der Türkei sicherstellen kann. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der erwerbsfähige Kläger seinen Lebensunterhalt in der Türkei sicherstellt.
Soweit der Kläger Unterhaltslasten für seine in der Türkei zurückgelassene Familie (Frau und zwei Kinder) trägt, und deren Unterhalt bei einer Beschäftigung in der Türkei schwieriger zu decken ist als bei einer Beschäftigung in der Bundesrepublik, ist diese wirtschaftliche Lage plausibel, aber für die Zumutbarkeit einer Rückkehr unerheblich, da der Kläger als Einzelperson in Deutschland lebt und auch als solche zurückgeführt würde, mithin es auf die Zumutbarkeit einer Rückkehr nur für ihn ankommt, nicht für von ihm wirtschaftlich abhängige, aber im Herkunftsstaat und nicht im Bundesgebiet lebende Personen (arg. ex § 3e AsylG). Auch aus dem Wortlaut des § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG, der allein auf den sich in der Bundesrepublik aufhaltenden Ausländer abstellt, wird ersichtlich, dass die in der Türkei lebende Familie insoweit unbeachtlich ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.3.2018 – 13a ZB 17.30260, UA Rn. 5). Im Übrigen wird der Lebensunterhalt seiner Familie derzeit – wenn auch auf geringem Lebensstandard – durch die Rente des Vaters des Klägers finanziert, wobei die Familie in einem Eigenheim wohnt.
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimla§ma ve Dayani§ma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 26 f. – im Folgenden: Lagebericht).
Da der Kläger schon über Erfahrung im Baugewerbe und in der Gastronomie verfügt, im Haus seines Vaters leben kann und seine wirtschaftliche Situation vor der Ausreise als durchschnittlich beschrieb, ist das Gericht davon überzeugt, dass sich der Kläger zumindest in von Kurden bevölkerten Gebiete der Türkei, insbesondere in seinem Heimatort, sowie in den Großstädten eine Lebensgrundlage für sich und seine Familie durch eigene Erwerbstätigkeit wird schaffen können; im Übrigen stehen ihm Sozialleistungen zur Verfügung (vgl. oben).
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben