Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Türkei, als unzulässig abgelehnter Folgeantrag, veränderte Sachlage hinsichtlich Rückkehrbefürchtung (bejaht), Nachfluchttatbestände im Folgeverfahren, unverhältnismäßige bzw. diskriminierende Strafverfolgung, hier: drohende Verfolgung wegen exilpolitischer Betätigung in besonders exponierter Weise (schlüssiger und widerspruchsfreier Vortrag mit der Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung bejaht)

Aktenzeichen  M 28 K 21.32811

Datum:
27.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18674
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
AsylG § 71
VwVfG § 51
AsylG § 28 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Dezember 2021 wird aufgehoben.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden, da sie zum Termin ordnungsgemäß geladen und auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden ist.
2. Soweit die Klägerin ihre Klage zurückgenommen hat (Verpflichtungsanträge auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bzw. Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus), ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
3. Die zulässige Anfechtungsklage (zur Statthaftigkeit vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9/17 – juris Rn. 15) hat in der Sache Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 2021 ist im insoweit gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage hat sich aufgrund der von der Klägerin (erstmals) im Folgeverfahren vorgetragenen exilpolitischen Betätigung i.S.d. § 71 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nachträglich zu ihren Gunsten geändert, sodass für die Klägerin ein (weiteres) Asylverfahren durchzuführen ist.
a) Hinsichtlich des rechtlichen Rahmens und des Prüfungsmaßstabs bezüglich der § 71 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG wird zunächst auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid, denen der Einzelrichter (nur) insoweit folgt, verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Gemessen hieran hält es der Einzelrichter nicht nur für möglich i.S.d. § 51 VwVfG, sondern ist sogar davon überzeugt, dass die in diversen Medien verlautbarten, exilpolitischen Äußerungen der Klägerin und ihres Ehemanns (nachfolgend aa)) die türkischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) veranlassen könnten, ihnen gegenüber eine individuelle und rechtsstaatswidrige Strafverfolgung einzuleiten (nachfolgend bb)); diese politischen Betätigungen würden im Falle einer Rückkehr in die nach Überzeugung des Einzelrichters zweifellos eine asyl- bzw. flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung begründen.
aa) Aufgrund der von der Klägerin im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen sowie der Erkenntnisse des Einzelrichters aus der ausführlichen Anhörung und Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und dem dabei gewonnenen Bild von der Persönlichkeit der Klägerin steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass sich die Klägerin und ihr Ehemann nach Abschluss ihrer Erstverfahren in verschiedenen, teils sehr reichweitenstarken Medien prominent in der Öffentlichkeit wiederholt sehr kritisch mit der türkischen Regierung, dem türkischen Staatspräsidenten sowie dessen Politik auseinandergesetzt haben und sie auf diesem Wege ihre schon in der Türkei vorhandenen und erkennbar betätigten festen, politischen Überzeugungen fortgeführt haben (hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Darstellungen im stattgebenden Eilbeschluss vom 22. März 2022 verwiesen). Der Entschluss zur Schaffung eines Nachfluchttatbestands i.S.d. § 28 Abs. 1 AsylG entspricht im konkreten Einzelfall mithin einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung, sodass die Gefahr politischer Verfolgung im Rahmen der Prüfung, ob die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen ist, vollumfänglich berücksichtigungsfähig ist (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG). Bei dieser Sachlage stünde im Übrigen auch § 28 Abs. 2 AsylG der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen, da die Regelvermutung des § 28 Abs. 2 a.E. AsylG im konkreten Einzelfall offenkundig widerlegt wird (zum Erfordernis einer bereits im Heimatland vorhandenen, erkennbar betätigten festen Überzeugung bei Nachfluchttatbeständen: Blechinger in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 10. Edition, Stand: 15.01.2022, juris Rn. 35 ff., 42 ff).
Angesichts der Tatsache, dass die Klägerin und ihr Ehemann sich bereits in der Türkei in besonders exponierter Weise oppositionspolitisch betätigt haben und sie deshalb sogar strafrechtlich wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt worden sind sowie der umfangreichen medialen Berichterstattung über die ablehnende Entscheidung im Erstverfahren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, ist auch davon auszugehen, dass den türkischen Sicherheitsbehörden oder jedenfalls den türkischen diplomatischen Vertretungen die exilpolitischen Betätigungen der Klägerin und ihres Ehemanns bekannt geworden sind bzw. ihnen diese spätestens im Falle einer (unfreiwilligen) Rückkehr in die Türkei bekannt würden, weshalb offenkundig nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Klägerin und ihr Ehemann (nach wie vor) als tatsächliche oder potentielle Unterstützer einer terroristischen Organisation (der MKP) angesehen werden.
bb) Bei dieser Sachlage ist die Befürchtung der Klägerin begründet, dass sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei landesweit flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen – nämlich in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genügenden Ermittlungs- und Strafverfahren unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung und Bestrafung unterzogen zu werden – wegen ihrer ihr seitens des türkischen Staates zugeschriebenen politischen Überzeugung ausgesetzt wäre.
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsartikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen z.B. Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 77). Weiter muss davon ausgegangen werden, dass E-Mail- und Telefonkommunikation sowie Einträge in sozialen Medien überwacht werden sowie, dass türkische diplomatische Vertretungen Informationen über regierungskritische türkische Staatsangehörige, die sich im Ausland befinden, an die türkischen Behörden weiterleiten (vgl. Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, Stand: April 2021, S. 15 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.7.2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK, S. 2 f.). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet wurden. Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 172 f.). Gegenwärtig kann auch nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden, dass in der Türkei mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Mitglieder und Unterstützer von Organisationen wie etwa der PKK, der DHKP-C oder der Gülen-Bewegung („FETÖ“) vorgegangen wird: Insbesondere bestehen erhebliche Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und an der fairen Prozessführung sowie (teils gravierende) Mängel bei den Verteidigungsmöglichkeiten und sonstige Repressionen (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, Stand: April 2021, S. 12; VG Potsdam, U.v.7.4.2022 – 1 K 1139/19 – juris Rn. 53; vgl. zu den Einzelheiten: Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 41 ff.).
Zwar kann allein aus dem Akt der (drohenden) Strafverfolgung nicht darauf geschlossen werden, dass eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts vorliegt. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung ist bei staatlichen Maßnahmen, die allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dienen oder die nicht über das hinausgehen, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird, nicht von politischer Verfolgung auszugehen. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann jedoch in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. „Politmalus“; BVerfG, B.v. 27.4.2004 – 2 BvR 1318/03 – juris Rn. 16; B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – juris Rn. 24). In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist insoweit geklärt, dass eine solche verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung aus politischen Gründen in der Türkei derzeit (nur) bei Personen besteht, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist oder sie sich – so wie im Falle der Klägerin – in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und sie deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK, der Gülen-Bewegung oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (OVG Lüneburg, U.v. 31.5.2016 – 11 LB 53/15 – juris Rn. 37; OVG LSA, B.v. 17.5.2016 – 3 L 177/15 – juris Rn. 18; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A – juris Rn. 34.).
c) Die Beklagte hat mithin über den Asylfolgeantrag der Klägerin nach deren Anhörung – unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts – erneut zu entscheiden; da der Klägerin wesentliche formelle und materielle Verfahrensschritte und Garantien verloren gingen, ist ein „Durchentscheiden“ des Verwaltungsgerichts ist in dieser Konstellation rechtlich weder geboten noch zulässig (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 37). Wegen § 31 Abs. 3 AsylG war auch Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids als „verfrüht“ ergangen aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21).
4. Der (gerichtskostenfreien, § 83 b AsylG) Klage war deshalb stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.


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