Verwaltungsrecht

Asylverfahren, Herkunftsland: Arabische, Republik Syrien, Einreise mit Visum im Wege des Familiennachzugs, minderjährige Tochter als Stammberechtigte, unverzügliche Stellung eines Asylantrags, Fiktionsbescheinigung, Flüchtlingsschutz für den Vater (bejaht)

Aktenzeichen  M 22 K 18.31182

Datum:
7.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 17878
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5
AufenthG § 81 Abs. 4 und Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … wird in Nummer 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Streitsache konnte entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, da die Beklagte auf förmliche Zustellung der Ladung verzichtet hat und die Beteiligten in der Ladung auch darauf hingewiesen wurden, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten ohne diesen verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom … erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 Asylgesetz – AsylG) kann der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zwar nicht nach § 3 Abs. 4 und 1 AsylG, aber nach § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG abgeleitet von seiner Tochter als Stammberechtigten beanspruchen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst vollumfänglich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG), der das Gericht folgt.
Lediglich ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn sich dieser aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (zu Sonderkonstellationen, bei denen ungeachtet einer etwaigen Verfolgungsgefahr eine Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben ist bzw. kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, vgl. § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG).
1.1. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung kann gemäß § 3 c AsylG u.a. vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sowie von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, soweit die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3d AsylG).
1.2. Zwischen den Verfolgungsgründen (vgl. die Aufzählung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sowie die näheren Erläuterungen in § 3b Abs. 1 AsylG) und den Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 und 2 AsylG) bzw. dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dafür reicht grundsätzlich ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus (vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11.18 – juris Rn. 16). Gerade mit Blick auf komplexe und multikausale Sachverhalte ist nicht zu verlangen, dass ein bestimmter Verfolgungsgrund die zentrale Motivation oder die alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme ist. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG nicht (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 13).
Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Betreffende sein Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Im Gegensatz zu Vorfluchtgründen, die lediglich glaubhaft zu machen sind, bedürfen Nachfluchtgründe, die auf Ereignissen innerhalb des Gastlandes beruhen, des vollen Nachweises, wobei insoweit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders strenge Anforderungen zu stellen sind. Insofern ist den Versuchen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylrechtsschutzes im Bereich der Sachverhaltsermittlung zu begegnen (BVerwG, U.v. 21.10.1986 – 9 C 28.85; U.v. 8.11.1983 – 9 C 93.83 – alle juris).
Unerheblich ist dabei, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3 b Abs. 2 AsylG). Bei einer politischen Verfolgung ist für die Bejahung der Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund bereits ausreichend, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist, ist dabei irrelevant (BVerfG, B.v. 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 18.8.2021 – A 3 S 271/19 – juris Rn. 22).
1.3. Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. dazu Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU) besteht, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Bei der Verfolgungsprognose ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen, der sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert, der bei der Prüfung von Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK auf eine tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt (vgl. EGMR (GK), U.v. 28.2.2008 – Saadi/Italien, Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 18 ff.; U.v. 5.7.2019 – 1 C 37/18 – juris Rn. 13).
Demnach bedingt der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Gemeint ist damit keine quantifizierende, sondern eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und deren Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei einer Bewertung des aus den gegebenen Umständen ableitbaren Verfolgungsrisikos bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und ihm wegen dieses Risikos eine Rückkehr nicht zumutbar erscheint (stRspr, vgl. zu Art. 16a GG BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17; zu § 3 AsylG vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11/18 – juris Rn. 25 sowie BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 34).
1.4. Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist (ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht), ist es Aufgabe des erkennenden Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten individuellen Schicksals (soweit es nach den Umständen des Falles hierauf ankommt) als auch von der Richtigkeit der Prognose einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr die volle Überzeugung gewinnen. Es darf jedoch insbesondere hinsichtlich relevanter Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (stRspr, BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – BVerwGE 71, 180; U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 20).
Besonderes Gewicht ist den Berichten des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (vgl. dazu EuGH, U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 44). Im Übrigen sind das persönliche Vorbringen des Rechtsuchenden und dessen Würdigung, namentlich wenn eine relevante Vorverfolgung behauptet wird, von zentraler Bedeutung. Für den Fall, dass keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann ggf. allein dessen Tatsachenvortrag zum Erfolg der Klage führen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit der entsprechenden Einlassungen überzeugen kann (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris Rn. 15 f. m.w.N.).
In diesem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, dass für die Verfolgungsprognose beim Flüchtlingsschutz ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt, d.h. es ist irrelevant, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern durch die Beweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU. Nach dieser Vorschrift wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von Verfolgung bedroht sind (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris Rn. 21 f.; U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 15).
2. Unter Anwendung der vorgenannten Grundsätze besteht für den Kläger zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lagen beim Kläger weder im Zeitpunkt seiner Ausreise im … … vor (2.1.) noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem er sein Herkunftsland verlassen hat (2.2.).
2.1. Der Kläger ist nach seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt und im Klageverfahren zur Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.
Soweit der Kläger die Kriegshandlungen als Grund seiner Ausreise aus Syrien und seines Verbleibs im Ausland bezeichnet hat, wurde dieser Umstand bereits im Rahmen der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG berücksichtigt.
Im Übrigen hat das Gericht unter Berücksichtigung der Einlassungen des Klägers im Asylverfahren nicht die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger in Syrien (unmittelbar) vor seiner Ausreise eine flüchtlingsrelevante (Vor-)Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne von § 3 c Nr. 2 und 3 AsylG erlitten hat. Eine Zwangsrekrutierung bzw. eine Handlung mit (Vor-)Verfolgungscharakter ist augenscheinlich nicht gegeben. Das Vorbringen des Klägers, das syrische Regime habe ihn sowie weitere Nachbarn aufgefordert, bestimmte Stadtviertel zu überwachen, ist bereits unsubstantiiert. Es bleibt unklar, wer konkret und wann die Aufforderung ausgesprochen hat. Überdies – auch bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags – ist eine die Nichterfüllung von bloßen Wachdiensten in keiner Weise mit einer Fahnenflucht zu vergleichen. Schließlich ist es auch nicht erkennbar, dass man dem Kläger mit Strafen gedroht hätte. Im Ergebnis ist das Gericht nicht der Überzeugung, dass der Kläger Syrien vorverfolgt verlassen hat.
2.2. Nach der in Auswertung der Erkenntnislage gewonnenen Überzeugung des Gerichts bestehen zudem auch keine Nachfluchtgründe, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers führen.
Es ist – auch unter Berücksichtigung des Charakters des syrischen Staates (2.2.1.) – nicht davon auszugehen, dass dem Kläger bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und allein wegen seiner (illegalen) Ausreise, seines Asylantrags sowie des damit verbundenen Aufenthalts im Ausland eine politische Verfolgung droht (2.2.2.). Gleiches gilt im Hinblick auf eine Entziehung vom Militärdienst; gefahrerhöhende Umstände ergeben sich weder aus der kurdischen Volkszugehörigkeit des Klägers noch daraus, dass er aus … stammt und zuletzt im überwiegend regimefeindlichen Gebiet rund um … gemeldet war (2.2.3.).
2.2.1. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das syrische Regime oppositionelle Bestrebungen seit jeher (von kurzen Tauwetterphasen abgesehen) massiv unterdrückt. Zum „Charakter des syrischen Staates“ führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 36; U.v. 14.12.2021 – 21 B 19.32688) Folgendes aus:
„2.1. Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich unter erheblichen Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter (vgl. Gerlach, „Was in Syrien geschieht – Essay“ vom 19.2.2016). Sie geht in ihrem Einflussgebiet im Ganzen betrachtet zielgerichtet und ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic – Update VI, März 2021, S. 95 – im Folgenden UNHCR International Protection Considerations 2021; siehe auch Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 8 – im Folgenden: UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017). Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 sind zahlreiche Fälle von Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Mittlerweile sollen bislang über 17.000 Menschen in syrischen Gefängnissen durch Folter oder aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen gestorben sein. Das syrische Regime macht in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten, sondern benennt zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und ähnliches (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 19).“
2.2.2. Diese Umstände allein rechtfertigen allerdings nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen werden. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (21 B 16.30338; 21 B 16.30364; 21 B 16.30371 – alle juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt (so auch BayVGH, U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30643 – juris Rn. 35 ff.; U.v. 10.9.2019 – 20 B 19.32549 – juris Rn. 21 ff. m.w.N.; U.v. 14.12.2021 – 21 B 19.32688) und auch im Übrigen mit der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung übereinstimmt (ebenso mit teilweise abweichender Begründung: OVG RhPf, U.v. 12.4.2018 – 1 A 10988.16; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 – 3 KO 155.18; HessVGH, U.v. 26.7.2018 – 3 A 809/18.A; OVG Saarl, U.v. 14.11.2018 – 1 A 609.17; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17; VGH BW, U.v. 27.3.2019 – A 4 S 335.19; OVG Hamburg, U.v. 29.5.2019 – 1 Bf 284/17.A; SächsOVG, U.v. 21.8.2019 – 5 A 50/17.A; OVG SH, U.v. 3.1.2020 – 5 LB 34.19; OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A; OVG Bremen, U.v. 24.3.2021 – 2 LB 123.18; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147.18; BayVGH, U.v. 14.12.2021 – 21 B19.32688 – alle juris).
Auch die neueren Erkenntnisse über die Lage in Syrien, wonach einem Rückkehrer, der nicht explizit als politischer Oppositioneller aufgefallen bzw. nicht in einer Fahndungsliste (sog. wanted list) angeführt ist, regelmäßig keine Repressionen drohen (vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien (EZKS), Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin vom 11.3.2019; Immigration and Refugee Board of Canada, Responses to Information Requests, SYR106356.E, 9.9.2019, S. 3; United States Department of State, Syria 2020 Human Rights Report, S. 45; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 24 ff.; EASO, Syria Situation of returnees from abroad, Country of origin information report, Juni 2021, S. 11 ff.; Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation: Syrien, Country of origin information, 30.6.2021, S. 100 ff.; Amnesty International, „You are going to your death“ – Violations against syrian refugees returning to Syria, September 2021, S. 15 ff.), geben aktuell keinen Anlass von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
2.2.3. Der mittlerweile …-jährige Kläger ist bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien auch nicht wegen einer Entziehung vom Militärdienst in der syrischen Armee (durch Ausreise und Verbleib im Ausland im militärpflichtigen Alter) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer politischen Verfolgung bedroht. Dies gilt auch mit Blick auf die Abstammung des Klägers aus einem überwiegend regierungsfeindlichen Gebiet (* …*). Letztlich konnte sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass hinsichtlich des Klägers gefahrerhöhende Umstände vorliegen würden.
a) Bezüglich des Militärdienstes in der Arabischen Republik Syrien ergibt sich aus der Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel, die das erkennende Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt, aktuell im Wesentlichen Folgendes:
Nach dem syrischen Gesetz besteht für Männer ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren eine allgemeine Wehrpflicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 13; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, 11.6.2019, S. 10). Männer, die das wehrpflichtige Alter von 18 Jahren erreicht haben, müssen sich zur Musterung beim zuständigen Rekrutierungsbüro melden, wo sie ihr Militärbuch erhalten, in das neben anderem das Ergebnis der medizinischen Tauglichkeitsprüfung und eine etwaige Befreiung vom Militärdienst eingetragen werden. Wer sich nicht bei der Rekrutierungsbehörde meldet, wird nach einer gewissen Zeit auf die Liste der Militärdienstentzieher gesetzt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei Rekrutierung, 18.1.2018; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 23 f.; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen, SYR104921.E, 13.8.2014, S. 5). Reagieren militärdienstpflichtige Männer auf einen Einberufungsbescheid nicht, kann es geschehen, dass sie von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 14).
Nach Beendigung des obligatorischen Militärdienstes bleibt ein syrischer Mann gemäß Art. 15 Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Die für die Militärdienstpflicht maßgebenden Altersgrenzen werden zur Überzeugung des Gerichts seitens der syrischen staatlichen Stellen im Allgemeinen beachtet. Dafür sprechen zahlreiche Berichte, denen zu entnehmen ist, dass im Allgemeinen für die Rekrutierung nach wie vor das nach dem Gesetz bestimmte Alter von 18 Jahren bzw. 42 Jahren maßgebend ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 13; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Syrien, 18.12.2020, S. 43).
Zwar soll einzelnen Berichten zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst (42 Jahre) erhöht werden, wenn die betreffende Person bestimmte Qualifikationen habe, was etwa für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung gelte. Daraus kann aber zugleich abgeleitet werden, dass jenseits dieses Qualifikationsprofils kein Anhalt für eine Missachtung der für den Reservedienst geltenden Altersgrenze besteht. Das wird durch die aktuellen Feststellungen des Dänischen Einwanderungsdienstes (DIS) bestätigt. Danach bekundeten alle von der Behörde befragten Quellen, die Kenntnis zum Alter der Einberufung hatten, sie hätten keine Informationen erhalten, die darauf hindeuteten, dass die Syrisch-Arabische Armee (SAA) Männer rekrutiert habe, die jünger als 18 Jahre alt gewesen seien. Die meisten der Quellen hatten darüber hinaus keine Informationen erhalten, dass die SAA Männer eingezogen hat, die älter als 42 Jahre waren (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 18). Das stimmt mit den vom European Asylum Support Office (EASO) gewonnenen Erkenntnissen überein. Im Februar 2021 von EASO befragte Quellen gaben an, ihnen sei nicht bekannt, dass aktuell Männer im Alter unter 18 Jahren oder über 42 Jahren in die SAA rekrutiert worden seien (EASO, Syria: Military Service, April 2021, S. 19).
Ferner ist zu bemerken, dass in Syrien – selbst nach den Gesetzesänderungen vom Jahr 2014 – der einzige Sohn einer Familie vom Militärdienst weiterhin freigestellt werden kann, was im Militärbuch vermerkt wird (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee; 28.3.2015, S. 5 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 2.1.2017; The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 20; vgl. zuletzt auch EASO, Syria: Military Service, April 2021, S. 28).
Auch räumt das syrische Militärdienstgesetz militärdienstpflichtigen syrischen Männern sowie registrierten Palästinensern aus Syrien die Möglichkeit ein, gegen Zahlung einer Gebühr (7.000 bis 10.000 US-Dollar) von der Militärdienstpflicht befreit zu werden. Seit der Gesetzesänderung im November 2020 gilt dies (gegen Zahlung einer entsprechend der Dauer des Auslandsaufenthalts gestaffelten Gebühr) ebenfalls für Syrer, die bis zu vier Jahren ununterbrochen im Ausland gelebt haben (vgl. EASO, Syria: Military Service, April 2021, S. 30). Diese Befreiungsmöglichkeit wird im Allgemeinen tatsächlich umgesetzt (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 27).
Zugleich ist allerdings auch zu bedenken, dass es Militärdienstpflichtigen nicht oder nicht uneingeschränkt erlaubt ist, Syrien zu verlassen. So verbot das Verteidigungsministerium am 20. Oktober 2014 allen Männern die Ausreise, die zwischen dem Jahr 1985 und dem Jahr 1991 geboren sind. Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 42 Jahren müssen vor Ausreise aus Syrien eine Genehmigung der Generaldirektion für Rekrutierung oder einer ihr nachgeordneten Rekrutierungsbehörde einholen (Art. 48 Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 i.d.F. des Gesetzes Nr. 3 vom Januar 2017). Eine Person, der eine Reisegenehmigung erteilt wird, muss eine Sicherheit in Höhe von 50.000 syrischen Pfund (derzeit etwa 17,60 Euro) hinterlegen und eine verantwortliche Person (beim Militär tätig oder verbeamtet) benennen, welche die Rückkehr des Ausreisewilligen garantiert. Ob eine Ausreisegenehmigung erteilt wird, hängt erheblich von den individuellen Umständen ab, wobei Männer, die ihren Militärdienst bereits geleistet haben, eine solche Genehmigung einfacher erhalten (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.3.2017 S. 13 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 24).
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass es in Syrien keine Möglichkeit gibt, anstelle des Militärdienstes einen (zivilen) Ersatzdienst zu leisten. Ebenso wenig kann der Militärdienst legal verweigert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 14). Jeder Militärdienstpflichtige, der in Friedenszeiten der Einberufung nicht innerhalb eines Monats gefolgt und geflüchtet ist, bevor er sich seiner Einheit angeschlossen hat, kann nach dem syrischen Militärstrafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu sechs Monaten bestraft werden (Art. 98 Abs. 1 Gesetzesdekret Nr. 61 vom 27.2.1950, im Jahr 1973 geänderte Fassung – Gesetzesdekret Nr. 61). Einem Militärdienstpflichtigen, der in Kriegszeiten der Einberufung nicht gefolgt ist, droht nach Art. 99 des Gesetzesdekrets Nr. 61 je nachdem, ob und wann er freiwillig zurückgekehrt ist oder verhaftet wurde, eine Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu fünf Jahren (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 23; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 2.1.2017; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.3.2017, S. 8 f.). Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Entziehung vom Militärdienst für sich genommen in der Regel nicht zu einem Militärstrafprozess führt. Vielmehr werden Militärdienstentzieher, unter Umständen nach einer Arrestierung, die das Untertauchen verhindern soll, im Allgemeinen unverzüglich eingezogen und – gegebenenfalls nach einer nur kurzen Ausbildung – militärisch verwendet. Das entspricht der weitgehend übereinstimmenden Erkenntnislage (vgl. UNHCR, International Protection Considerations 2021, S. 123 f.; The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 31; vgl. zum Ganzen auch NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 408/20 – juris Rn. 53 sowie EASO, Syria: Military Service, April 2021, S. 33).
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der syrische Staat auf die zu seinen Gunsten veränderte militärische Lage bezogen auf die Militärdienstpflicht syrischer Männer mit verschiedenen einer Normalisierung dienenden Maßnahmen reagierte (eine Reihe von Demobilisierungsmaßnahmen und Amnestieerlassen, vgl. dazu Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation: Syrien, 17.10.2019, S. 45; The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, May 2020, S. 35; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12), die die Prognose rechtfertigen, dass syrischen Männern, die sich durch Flucht ins Ausland ihrer Verpflichtung zum Militärdienst entzogen haben, versöhnlich gegenübergetreten wird.
Es liegen nach wie vor keine konkreten Hinweise dafür vor, dass die syrischen staatlichen Stellen die Amnestie-Erlasse regelhaft nicht beachten (The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 46 ff.; UNHCR, International Protection Considerations 2021, S. 129). Dafür spricht auch der Umstand, dass die geänderte Haltung der syrischen Regierung durch einen „Rückkehrplan“ für Flüchtlinge bestimmt ist, den die Russische Föderation als einflussreicher Verbündeter des syrischen Staates im Juli 2018 angekündigt hat. So rief die syrische Regierung Anfang Juli 2018 erstmals offiziell zur Flüchtlingsrückkehr auf und forderte dafür die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen. Ein Minister mit Zuständigkeit „Flüchtlingsrückkehr“ wurde benannt und eine Rückkehrkommission ernannt. Präsident Bashar al-Assad bekundete in einer Rede vor Mitgliedern der syrischen Lokalräte im Februar 2019 erneut, dass Flüchtlinge zurückkehren sollten. Schließlich fand im November 2020 in Damaskus eine von der syrischen Regierung organisierte Konferenz zur Rückkehr syrischer Flüchtlinge statt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 26).
Zusammenfassend stellt sich die Situation daher wie folgt dar:
Zwar kann davon ausgegangen werden, dass Wehrdienstentziehern im Falle eines Aufgriffs beachtlich wahrscheinlich eine Behandlung droht, die hinsichtlich des Schweregrades als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3 a AsylG wie auch als ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG einzustufen wäre. Die vorliegenden Erkenntnisse reichen aber nicht für die Annahme aus – auch wenn es in diese Richtung weisende Indizien gibt – dass derartige Übergriffe regelhaft dadurch bedingt wären, dass dem Betreffenden wegen der Wehrdienstentziehung eine illoyale Haltung gegenüber dem syrischen Staat unterstellt würde, diese also an Konventionsmerkmale anknüpfen würden und nicht lediglich Folge des von willkürlicher Gewalt systemisch geprägten Umgangs der syrischen Sicherheitskräfte mit Festgehaltenen wären (Misshandlungsrisiko von Personen, die sich auch welchen Gründen auch immer in öffentlichem Gewahrsam befinden) bzw. ihre Ursache nicht in sonstigen Umständen haben, aufgrund derer seitens des syrischen Regimes der Betreffende als regimefeindlich eingestuft wird. Das Gericht folgt insoweit im Ergebnis der den Beteiligten bekannten neueren Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459; U.v. 9.9.2019 – 20 B 19.32017; U.v. 21.9.2020 – 21 B 19.32725; U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586; U.v. 14.12.2021 – 21 B19.32688; so auch im Ergebnis VGH BW, U.v. 4.5.2021 – A 4 S 468/21; SächsOVG, U.v. 22.9.2021 – 5 A 855/19.A; OVG MV, U.v. 26.5.2021 – 4 L 238.13; OVG LSA, U.v. 1.7.2021 – 3 L 154.18 – alle juris).
Auch mit Blick auf die zur Rückkehrgefährdung von syrischen Militärdienstentziehern abweichende Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. Januar 2021 (3 B 109.18) und vom 28. Mai 2021 (3 B 42.18), auf die die Bevollmächtigte im Klageverfahren verwies, sieht sich das erkennende Gericht nicht veranlasst, von der einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechungslinie abzuweichen. Unter Berücksichtigung der aktuellen – oben bereits ausgeführten – Erkenntnismittel konnte das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass die syrische Regierung jedem männlichen Syrer, der sich dem Militärdienst durch Flucht ins Ausland entzogen hat, allein aus diesem Grund eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgen wird. Ferner steht auch nicht fest, dass Militärdienstentzieher regelmäßig und zum Zwecke einer Bestrafung nur mit minimaler Ausbildung militärisch verwendet werden. Im Übrigen wird auf die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. etwa BayVGH, U.v. 8.12.2021 – 21 B 19.33948 – juris Rn. 63 f.) Bezug genommen.
b) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass unter umfassender Würdigung der Erkenntnislage es zur Überzeugung des Gerichts nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass dem Kläger – allein weil er sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen hat – in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (eine – unterstellte – oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung) eine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG droht. Vielmehr ist es schon ungewiss, ob der Kläger vor der Ausreise im Alter von … überhaupt noch einberufen worden wäre. Jedenfalls wäre die Einziehung zum Wehrdienst als solche, selbst wenn sie gegen den Willen des Betroffenen erfolgen würde, keine Verfolgung im obigen Sinne. Die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.11.2020 – EZ, C-238/19 – juris Rn. 57) für eine Verknüpfung von Verfolgungshandlung im Sinne von § 3 a Abs. 2 Nr. 5 AsylG und Verfolgungsgrund sprechende „starke Vermutung“ ist hiermit widerlegt bzw. für die Entscheidung des Falles ohne Belang.
c) Es ist ferner auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger für den Fall seiner Rückkehr nach Syrien mit Blick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG durch den syrischen Staat drohen würde (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147/18 – juris Rn. 90 m.w.N.; BayVGH, B.v. 30.6.2020 – 20 B 19.31187 – juris Rn. 35 f. m.w.N.). Die Volkszugehörigkeit des Klägers führt weder für sich genommen noch im Wege einer Gesamtbetrachtung zu einer besonderen Gefährdung. Aus den Erkenntnismitteln ergeben sich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass kurdische Volkszugehörige ohne das Hinzutreten weiterer individueller Gründe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Maßnahmen der syrischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sind, die an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfen.
c) Auch der Umstand, dass der Kläger aus … und damit einem (vormals) regierungsfeindlichen Gebiet stammt, ist dabei zur Überzeugung des Gerichts nicht als individuell risikoerhöhender Faktor zu berücksichtigen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte den Kläger im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr im Hinblick auf seine Herkunft aus einem Rebellengebiet menschenrechtswidrig behandeln werden. Darüber hinaus geht das Gericht im Einklang mit der einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass die Herkunft aus einem regierungsfeindlichen Gebiet für sich genommen nicht ausreicht, eine begründete Furcht vor Verfolgung zu bewirken. Vielmehr bedarf es daneben eines Hinzutretens weiterer gefahrerhöhender Umstände, wie etwa einer oppositionellen Tätigkeit (vgl. hierzu zuletzt BayVGH, U.v. 21.11.2019 – 20 B 19.30456 – juris Rn. 34; U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – juris Rn. 93 ff.; U.v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605; NdsOVG, U.v. 16.1.2020 – 2 LB 731/19 – juris Rn. 78 ff.; OVG SH, U.v. 27.9.2018 – 2 LB 71/18; OVG NW, U.v. 3.9.2018 – 14 A 837/18.A – alle juris; ähnlich auch Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.2.2019, Antwort auf Frage 4; Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria – Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 15 f.). Hinweise, dass der Kläger oppositionell tätig und dem syrischen Regime dementsprechend als Regimegegner bekannt gewesen wäre, lassen sich seinem Vortrag nicht entnehmen. Insoweit ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass die syrischen Behörden den Kläger als – echten oder vermeintlichen – Regimegegner (und nicht als „einfacher“ Wehrdienstentzieher) einstufen würden.
3. Der Kläger kann jedoch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den Grundsätzen über den internationalen Schutz für Familienangehörige – abgeleitet von seiner minderjährigen Tochter als Stammberechtigter – nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 AsylG beanspruchen.
3.1. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener (im Sinne des Art. 2 Buchst. j der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – RL 2011/95/EU) auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist (Nr. 1), die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j der RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (Nr. 2), sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben (Nr. 3), die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (Nr. 4) und die antragstellende Person die Personensorge für den Asylberechtigten innehat (Nr. 5).
Die Regelungen zum Familienasyl (§ 26 Abs. 1 bis 4 AsylG) dienen der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und dem Minderjährigenschutz und sind nach § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz (§ 26 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
3.2. Die vorgenannten Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen des Familienasyls sind hinsichtlich des Klägers und seiner stammberechtigten Tochter erfüllt.
Der Kläger ist als Vater der in Deutschland bereits unwiderruflich als Flüchtling anerkannten Tochter nach § 26 Abs. 5, Abs. 3 Satz 1 und 2 AsylG anspruchsberechtigt. Die am … geborene Stammberechtigte war im Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig; der Kläger hatte weiterhin die Personensorge für sie inne.
Ferner hat der Kläger den Asylantrag auch gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG unverzüglich und persönlich gestellt.
Unverzüglich im Sinne dieser Vorschrift ist ein Asylantrag dann gestellt, wenn er ohne schuldhaftes Zögern erfolgt. Dies ist im Regelfall anzunehmen, wenn die Antragstellung innerhalb von zwei Wochen nach Einreise vorgenommen wird (siehe BVerwG, U.v. 13.5.1997 – 9 C 35/96 – NVwZ 1997, 1137; vgl. zum Ganzen: Günther in BeckOK Ausländerrecht, Stand Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 11 f.). Der erforderliche Antrag ist dabei nicht als förmliche Asylantragsstellung i.S.d. § 14 AsylG zu verstehen. Ein bloßes Asylgesuch nach § 13 AsylG ist ausreichend, nicht jedoch der bei der Ausländerbehörde gestellte Antrag auf Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen (vgl. u.a. NdsOVG, B.v. 1.7.2019 – 9 LA 87/19 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 17.1.2019 – 20 ZB 18.32762 – juris Rn. 8)
Auch eine längere Frist kann im Einzelfall durch besondere Umstände gerechtfertigt sein. Soweit die Einreise des Antragstellenden zum Zwecke der Familienzusammenführung mit einem Visum der Beklagten erfolgt ist, wird im Zusammenhang mit der Beurteilung des Vorliegens besonderer Umstände vertreten, dass diese Frist auch dann noch gewahrt ist, wenn diese jedenfalls innerhalb der Geltungsdauer des erteilten Visums erfolgt bzw. der mit einem nationalen Visum einreisende Angehörige zunächst bei der Ausländerbehörde die Verlängerung des Aufenthaltstitels auf Grundlage der §§ 30 ff. AufenthG beantragt und erst nach erfolgter Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von mehr als sechs Monaten den Familienasylantrag stellt (Blechinger in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, Stand Januar 2022, § 26 AsylG Rn. 40 f.).
Ausweislich der Dienstanweisungen des Bundesamts für Asyl vom … … 2022 gelten für Asylanträge von Familienmitgliedern, die durch Familienzusammenführung (d.h. mit Zustimmung der Ausländerbehörde und Visum) nach Deutschland gekommen sind, Besonderheiten. Grundsätzlich ist beim Familiennachzug eine Antragstellung nicht vorgesehen, da die Ausländerbehörde einen Aufenthaltstitel ausstellt. Wenn dennoch ein Antrag gestellt wird, kann Familienschutz ebenfalls nur bei unverzüglicher Antragstellung gewährt werden. In dieser Fallkonstellation ist jedoch erst von einem schuldhaften Zögern (d.h. keiner Unverzüglichkeit) und damit einer verspäteten Antragstellung auszugehen, wenn der Asylantrag nicht innerhalb von drei Monaten nach der Einreise gestellt wird.
Daran gemessen ist der am … durch den Kläger persönlich bei der Stadtverwaltung … – als zuständiger Ausländerbehörde – gestellte Asylantrag als noch unverzüglich im Sinne des § 26 Abs. 3 Nr. 3 Alt. 2 AsylG anzusehen. Zum einen hat der Kläger vor dem Ablauf der Gültigkeit seines Visums die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt und eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 4 und 5 AufenthG erhalten; zum anderen erfolgte die persönliche Asylantragstellung bereits am … und damit innerhalb von drei Monaten nach der Einreise des Klägers ins Bundesgebiet.
Nach alledem war dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft abgeleitet von dessen minderjährigen asylberechtigten Tochter zuzuerkennen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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