Verwaltungsrecht

Asylverfahren, Herkunftsland: Syrien, Unzulässigkeitsentscheidung wegen vorheriger Zuerkennung internationalen Schutzes in Litauen, Ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (abgelehnt)

Aktenzeichen  M 22 K 17.46944

Datum:
23.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18663
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben

Gründe

Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Das Gericht legt die ihrem Wortlaut nach jeweils unbedingt gestellten Klageanträge gemäß § 88 VwGO in sachdienlicher Weise dahingehend aus, dass im Hauptantrag die Aufhebung des Bescheids vom … … … und daneben hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Litauen begehrt wird. Das so verstandene zulässige Klagebegehren bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird an dieser Stelle gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen. Ergänzend ist – auch im Hinblick auf die sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) ergebende aktuelle Auskunftslage für Litauen – wie folgt auszuführen:
1. Die Klage ist hinsichtlich des Hauptantrags als Anfechtungsklage und hinsichtlich des Hilfsantrags als Verpflichtungsklage zulässig.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) – jedenfalls seit Inkrafttreten des Integrationsgesetzes (IntG) – ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO die allein statthafte Klageart gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen. Hintergrund hierfür ist der Umstand, dass die Asylanträge in diesen Fällen ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, abgelehnt werden. Insoweit kommt auch kein eingeschränkter, auf die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkter Verpflichtungsantrag oder gar ein „Durchentscheiden“ des Gerichts in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625; U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris).
Neben der Anfechtungsklage zulässig ist lediglich eine hilfsweise, für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag erhobene Verpflichtungsklage auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Aufenthaltsgesetz – AufenthG, weil das Bundesamt dessen Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG bereits inhaltlich geprüft hat (BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 10.17 – juris Rn. 17; VG Ansbach, U.v. 5.8.2021 – AN 17 K 19.50552 – juris Rn. 63).
Das Anfechtungsbegehren des Klägers im Hauptantrag ist sachdienlich dahingehend auszulegen, dass es die Feststellung in Satz 4 der Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids nicht erfasst. Denn die Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf, ist für den Kläger ausschließlich begünstigend (vgl. VG Frankfurt (Oder), U.v. 31.5.2021 – 7 K 122716.A – juris Rn. 18 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 15.1.2019 – 1 C 15.18 – juris Rn. 7).
2. Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet.
Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers mit dem Bescheid zu Recht als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt und dadurch den Kläger in seinen Rechten nicht verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der angefochtene Bescheid vom … … … erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da sein in Deutschland abermals angebrachter unbeschränkter Asylantrag angesichts des ihm bereits in Litauen zuerkannten internationalen Schutzes zu Recht als gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig abgelehnt worden ist und im Übrigen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Litauens nicht zu Tage liegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2.1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Entsprechend der Mitteilung der litauischen Asylbehörde vom … … … wurde dem Klägern in Litauen der internationale Schutz zuerkannt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen demnach grundsätzlich vor.
Eine Unzulässigkeitsentscheidung kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) gleichwohl aus Gründen vorrangigen Unionsrechts (bzw. in richtlinienkonformer Auslegung des § 29 Abs. 1 AsylG) ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn die Lebensverhältnisse, die den in dem anderen Mitgliedsstaat Anerkannten nach einer Rücküberstellung erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta (EU-GR-Charta) bzw. von diesem entsprechenden Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu erfahren.
Dafür genügt es allerdings nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat. Gleiches gilt für das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat im Vergleich zu einem anderen sowie für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94 ff., 97).
Ein Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erst dann anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden) und ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese (Erheblichkeits-)Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90 f.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 f.; B.v. 13.11.2019 – Hamed und Omar, C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 39).
Bei dem so definierten Maßstab ist ebenfalls zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige oder um eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität) handelt, die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 EU-GR-Charta auch im Rahmen des Art. 4 EU-GR-Charta zu berücksichtigen ist.
Für die demnach zu treffende Gefahrenprognose ist auf das Bestehen einer ernsthaften Gefahr („serious risk“) abzustellen, was dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“) in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im nationalen Recht entspricht (vgl. zu dieser Wertung BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1C 35/19 – juris Rn. 27; ferner zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit vgl. OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – juris Rn. 34 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR).
Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrens-RL) eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed und Omar, C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 35; vgl. auch BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris Rn. 23). Die gerichtliche Prüfung hat mithin auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die eine von sämtlichen Umständen des Falles abhängige, besonders hohe Erheblichkeitsschwelle erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 88 f.).
Dem steht auch nicht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht entgegen, welcher besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union – wie sie etwa in Art. 4 EU-GR-Charta zum Ausdruck kommen – anerkennen, umgesetztes Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen. Dieser Grundsatz gilt im Grundsatz auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und gerade bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrens-RL, in dem er zum Ausdruck kommt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; vgl. auch Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3). Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer (Rück-)Überstellung in diesen Mitgliedsstaat grundrechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedsstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
2.2. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedsstaat sind die aktuelle Rechtsprechung, regelmäßige Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort.
Das erkennende Gericht legt seiner Entscheidung im Wege einer Gesamtschau der maßgeblichen Kriterien folgende zur Verfügung stehende und zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachte Erkenntnismittel zur Tatsachen- und Rechtslage von in Litauen anerkannten international Schutzberechtigten, die nach ihrer Anerkennung Litauen verlassen haben und nun wieder zurückgeführt werden sollen, zu Grunde:
In Kooperation mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen bietet die litauische Regierung Schutz und Hilfe für Flüchtlinge, zurückkehrende Flüchtlinge, Asylsuchende, Staatenlose und andere betroffene Personen an (US Department of State, Country Report on Human Rights Practices: Lithuania, 2020, S. 9). Seit 2015 gab es mehrere relevante rechtliche Entwicklungen hinsichtlich der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen (Resolution on Providing State Support for Integration for Asylum Beneficiaries, Nr. 998, 5.10.2016; Resolution on the Approval of the Description of the Procedure of Asylum Seekers’ Accommodation, Nr. 171, 8.3.2017; Order on the Action Plan for 2018-2020 on the Integration of Foreigners into Society, Nr. A1-755, 21.12.2018).
Anerkannte international Schutzberechtigte erwartet zunächst eine erste Integrationsphase im Unterbringungszentrum Rukla. Dort erhalten die Schutzberechtigten neben Unterbringung auch medizinische und soziale Versorgung sowie ein intensives Sprach- und Jobtraining. Es wird dort außerdem eine finanzielle Unterstützung in Form eines monatlichen Handgelds von 71,40 EUR gewährt. Die Integrationsunterstützung in Rukla wird im Regelfall für drei Monate gewährt, kann aber unter besonderen Umständen – insbesondere bei Vulnerabilität – auf bis zu sechs Monate verlängert werden (BFA, Länderinformationsblatt Litauen, Gesamtaktualisierung 2.11.2018, S. 10).
Nach der Unterstützung in den Aufnahmezentren findet die zweite Stufe der Integration in den Gemeinden vor allem durch Nichtregierungsorganisationen, wie dem Litauischen Roten Kreuz, für eine Dauer von zwölf Monaten statt (Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Sozialleistungen für Asylsuchende und Flüchtlinge in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten vom 8. Juli 2016, S. 10f.). Während dieses Zeitraums erhalten die Schutzberechtigten außerdem monatliche Geldzahlungen, die sich während der ersten sechs Monate bei erwachsenen Einzelpersonen auf 204 EUR, bei zweiköpfigen Familien auf 306 EUR und bei dreiköpfigen Familien auf 408 EUR belaufen; ab dem siebten Monat werden diese Beträge jeweils halbiert. Die Sozialhilfe für Schutzberechtigte ist eigens geregelt, wird aber auf der Grundlage der allgemeinen Sozialhilfe berechnet, die monatlich 102 EUR beträgt. Es existieren Berichte über Schwierigkeiten bei der Suche nach Wohnung und Arbeit (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Sozialleistungen für Asylsuchende und Flüchtlinge in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten, 8.7.2016, S. 11; BFA, Länderinformationsblatt Litauen, 2.11.2018, S. 10). Beschäftigungsmöglichkeiten für Schutzberechtigte bestehen vor allem auf dem Bau, im Gastgewerbe, im verarbeitenden Gewerbe sowie in der Hauswirtschaft. Für höher qualifizierte Stellen sind in der Regel litauische, englische oder russische Sprachkenntnisse erforderlich. Größere Beschäftigungshindernisse stellen vor allem nicht vorhandene Sprachkenntnisse, mangelnde Unterstützung bei der Arbeitssuche sowie fehlende Ausbildung bzw. berufliche Qualifikation dar (US Department of State, Country Report on Human Rights Practices: Lithuania, 2020, S. 9).
2.3. Im Hinblick auf die vorstehend dargestellte Auskunftslage und unter Anwendung der vorgenannten Maßstäbe konnte sich das Gericht nicht die erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen, dass der Kläger in Litauen grundsätzlich wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher, also überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein würde (im Ergebnis ebenso: VG Ansbach, U.v. 5.12.2019 – AN 18 K 18.50042; VG Arnsberg, U.v. 21.2.2020 – 12 K 2479/17.A; VG Ansbach U.v. 21.2.2020 – 12 K 2479/17.A; OVG Saarl, B.v. 6.3.2020 – 3 L 212/20; VG Ansbach U.v. 22.1.2021 – AN 18 K 18.50284,).
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass insbesondere die finanzielle Unterstützung in Litauen geringer ausfällt als in Deutschland. Zu berücksichtigen sind an dieser Stelle jedoch die in Litauen im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Lebenshaltungskosten. Im Übrigen würde selbst eine fehlende oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten in deutlich eingeschränktem Umfang bestehende Existenzsicherung grundsätzlich noch nicht die Annahme einer Art. 4 GRC widersprechenden Behandlung rechtfertigen (vgl. dazu EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93). Von einer dem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Kläger im Litauen drohenden Situation extremer materieller Not (insbesondere Obdachlosigkeit und Hunger) im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist angesichts der ihm zustehenden Hilfeleistungen insoweit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszugehen.
Das Gericht übersieht dabei nicht die als Reaktion auf die jüngsten Entwicklungen an der belarussisch-litauischen Grenze erfolgten Änderungen des litauischen Asylrechts im Juli und August 2021 (Konrad Adenauer Stiftung, Länderbericht, Illegale Migration als politische Waffe – Zur Lage an der belarussisch-litauischen Grenze, 5.8.2021; ECRE, Extraordinary Responses: Legislative changes in Lithuania, 3.9.2021; ECRE, Lithuania: Moves to Legalise Indefinite Detention, Fairness of Asylum System Called into Question, Politicians and NGOs React to Events at Belarus Border, 17.9.2021; UNHCR, Legal observations on the amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens, 28.7.2021 und 27.9.2021).
Am 2. Juli 2021 erklärte der litauische Staat eine „außergewöhnliche Situation durch den Massenzustrom von Ausländern“ und verschärfte seine Gesetze zur Freizügigkeit bestimmter Gruppen von Asylsuchenden weitgehend. Dies betrifft zum einen solche Personen, die illegal die litauische Grenze überschritten haben. Zusätzlich werden Asylbewerber erfasst, die zwar in das Hoheitsgebiet Litauens eingelassen worden sind, deren Asylanträge aber im beschleunigten Verfahren geprüft werden. Dieses Verfahren wird insbesondere dann angewendet, wenn ein Ausländer über Belarus nach Litauen eingereist ist (Konrad-Adenauer-Stiftung, Illegale Migration als politische Waffe – Zur Lage an der belarussisch-litauischen Grenze, 5.8.2021, S. 3; Konrad-Adenauer-Stiftung, Reaktionen auf die belarussischen Provokationen, 13.8.2021 S. 3; ECRE, Extraordinary Responses: Legislative changes in Lithuania, 2021, 3.9.2021, S. 5 f.; UNHCR, Observations on draft Amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens, 27.9.2021, S. 5). Die Änderung des Gesetzes über die Rechtsstellung von Ausländern in Litauen sieht ferner ein detailliertes Asylantragssystem vor, wonach der Antrag eines Ausländers beim staatlichen Grenzschutz oder beim Migrationsamt eingereicht werden muss. Wenn dieser Weg nicht beachtet wird, darf ein Ausländer nicht in das Hoheitsgebiet Litauens einreisen (Konrad-Adenauer-Stiftung, Reaktionen auf die belarussischen Provokationen, 13.8.2021 S. 3).
Anhaltspunkte dafür, dass von diesen Regelungen zur Einschränkung der Freizügigkeit, die als faktische Inhaftierung der Betroffenen angesehen wird, auch bereits anerkannte international Schutzsuchende erfasst wären, lassen sich den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht entnehmen.
Nach alledem ist die Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids rechtmäßig, sie verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
2.4. Die in der Nummer 2 des Bescheids getroffene Feststellung, wonach in Bezug auf Litauen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, erweist sich ebenfalls als rechtmäßig.
Es fehlt an den Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
Dem Kläger droht – wie bereits dargelegt – bei einer Abschiebung nach Litauen keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GR-Charta. Gleichermaßen muss damit das an eine Verletzung des Art. 3 EMRK anknüpfende zielstaatsbezogene Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG ausscheiden. So bestimmt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GR-Charta, dass die darin enthaltenen Rechte, soweit sie den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, über die gleiche Bedeutung und Tragweite verfügen, die ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Daraus ergibt sich, dass Art. 4 EU-GR-Charta und Art. 3 EMRK einen identischen Regelungsgehalt aufweisen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 u. C-438/17 – juris Rn. 89, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u. C-541/17 – juris Rn. 39).
Daneben kommt auch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei vor allem existenzielle Gefahren durch Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie insbesondere Krankheit erfasst werden, die dem Ausländer aufgrund seiner persönlichen Situation drohen.
Wie sich aus § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ergibt, besteht eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlimmern würden. Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist damit in Krankheitsfällen, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, B.v. 17.8.2011 – 10 B 13.11 – juris Rn. 3; BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris Rn. 15). Dies trifft auf den Kläger augenscheinlich nicht zu.
An diesem Ergebnis ändert schließlich auch der Hinweis des Klägers auf die schwere Erkrankung seiner Mutter. Selbst wenn deshalb in Bezug auf die Mutter von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auszugehen sein sollte, könnte dieser Umstand ein solches in Bezug auf den Kläger gerade nicht begründen. Selbst wenn zwischen dem volljährigen Kläger und seiner Mutter weiterhin eine familiäre Lebensgemeinschaft bestünde und eine gemeinsame Abschiebung der Familie in Betracht käme, stellt die Krankheit allenfalls ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dar. Ein solches aber ist nicht Verfahrensgegenstand des vorliegenden Asylprozesses (vgl. VGH BW, B.v. 14.3.2018 – A 4 S 544/18 – juris Rn. 13).
2.5. Auch die in Nummer 3 des Bescheids vom … … … verfügte Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG i.V.m. §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG begegnet jedenfalls im vorliegenden Verfahren keinen rechtlichen Bedenken.
Soweit der Kläger vorgetragen hat, dass seine Mutter an Krebs erkrankt sei (Stand im Zeitpunkt der Klageerhebung) und die Unterstützung der Familie brauche, stellt dies ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis dar. Ein solches wirkt sich – wie bereits dargelegt – nicht auf die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung aus, sondern begründet gegebenenfalls einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung bzw. auf Duldung. Darüber hinaus ist es vorliegend schon zweifelhaft, inwiefern angenommen werden kann, dass die erkrankte Mutter (im Blick auf Art. 8 EMRK) auf den volljährigen Sohn tatsächlich angewiesen ist, wenn sie auch von ihrem Ehemann und ihrem weiteren Sohn Unterstützung erlangt.
2.6. Gründe, die eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG in Nummer 4 des angefochtenen Bescheids rechtfertigen könnten, sind weder geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich.
3. Auch das Verpflichtungsbegehren im Hilfsantrag des Klägers auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist unbegründet, da die Voraussetzungen hierfür – wie bereits dargelegt – nicht vorliegen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.


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