Verwaltungsrecht

Asylverfahren nach Gewährung internationalen Schutzes in Griechenland

Aktenzeichen  M 28 S 17.35846

Datum:
12.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2477
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 31 Abs. 3 S. 1, § 34 Abs. 1, § 36 Abs. 1, 3, Abs. 4 S. 1, § 37 Abs. 1 S. 1, S. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Besonders schutzbedürftigen Personen, die in Griechenland bereits als international Schutzberechtigte anerkannt worden sind, kann im Einzelfall aufgrund besonderer individueller Umstände dennoch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr dorthin drohen und ein Abschiebungsverbot begründen. (Rn. 16 – 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des Bescheids vom 9. März 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist nach eigenen Angaben nigerianische Staatsangehörige. Sie verließ ihr Heimatland im Jahr 2009, reiste über die Türkei zunächst im August 2009 in Griechenland und sodann im März/April 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein (alles eigene Angaben, vgl. Bl. 5 und 62 der Akte des Bundesamts – BA). Am 18. Mai 2015 stellte sie in Deutschland einen Asylantrag.
Bei einer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates am 18. Mai 2015 gab die Antragstellerin u.a. an, sie habe in Griechenland internationalen Schutz beantragt und zuerkannt bekommen (Bl. 6 BA).
Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 16. November 2016 gab die Antragstellerin zur Begründung ihres Asylantrags u.a. an, sie sei in Nigeria zwangsverheiratet worden und von ihrem Mann, der einem Kult angehört habe, bedroht worden. Mit Hilfe einer Frau sei sie nach Griechenland gekommen. In Griechenland habe man von ihr 60.000 € verlangt und sie gezwungen, der Prostitution nachzugehen (Bl. 61 ff. BA).
Auf Anfrage des Bundesamts teilte Griechenland mit Schreiben vom 2. Februar 2017 u.a. mit, dass Griechenland der Antragstellerin am 11. Juni 2012 den Flüchtlingsstatus („refugee status“) zuerkannt habe (Bl. 75 BA).
Bei einer erneuten Befragung der Antragstellerin durch das Bundesamt am 7. März 2017 gab diese (erneut) an, in Griechenland zur Prostitution gezwungen worden zu sein. Außerdem sei sie dort von Männern geschlagen worden (Bl. 80 BA).
Mit Bescheid vom 9. März 2017, der Antragstellerin zugestellt am 17. März 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), forderte die Antragstellerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, andernfalls werde sie nach Griechenland oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben, nach Nigeria dürfe sie nicht abgeschoben werden (Ziffer 3.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Zur Begründung wurde u.a. Folgendes ausgeführt: Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig. Der Antragstellerin sei in Griechenland internationaler Schutz gewährt worden. Dies habe Griechenland mit Schreiben vom 2. Februar 2017 mitgeteilt. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Hinsichtlich des § 60 Abs. 5 AufenthG komme in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht. Die Antragstellerin sei die Abschiebung nach Griechenland angedroht worden. Die Antragstellerin habe nicht vorgetragen, dass ihr in Griechenland eine durch einen Akteur verursachte Verletzung im Sinne des Art. 3 EMRK drohe. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Griechenland führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragstellerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Antragstellerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Soweit die Antragstellerin vorgetragen habe, sie sei von einer Frau nach Griechenland zum Zwecke der Prostitution gebracht worden und von Männern geschlagen worden, so sei dieses Vorbringen nicht geeignet, Abschiebungshindernisse aufgrund besonders schlechten humanitären Verhältnisse in Griechenland zu begründen. Es drohe der Antragstellerin auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Es werde keine Feststellung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten hinsichtlich Nigerias getroffen. Ein Asylbewerber habe kein Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz in Bezug auf sein Herkunftsland, wenn ihm ein anderer EU-Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft oder unionsrechtlichen subsidiären Schutz zuerkannt habe (BVerwG, U. v. 17.6.2014 – 10 C 7.13; BayVGH, B. v. 12.4.2016 – 20 B 15.30047). Die Abschiebungsandrohung sei nach §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG werde gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten am … März 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Diese wurde zunächst unter dem Aktenzeichen M 21 K 17.35845 und wird nunmehr unter dem Aktenzeichen M 28 K 17.35845 geführt. Zudem ließ sie ebenfalls am … März 2017 durch ihren Bevollmächtigten beantragen,
gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin u.a. wie folgt vortragen: Bei ihr handele es sich um eine vulnerable Person. Bei dieser Personengruppe sei eine Rückführung anerkannter Flüchtlinge unzulässig. Die Antragstellerin sei als alleinstehende Frau in der Vergangenheit in Griechenland gezwungen gewesen, der Prostitution nachzugehen, u.a. um ihre Schulden bei der Frau aus Nigeria bzw. deren Schergen zu bezahlen. Zudem sei sie mehrfach geschlagen und bedroht worden. Später sei sie wohnungslos und zuletzt sogar obdachlos gewesen. Dies habe die Antragstellerin bereits in der Anhörung am 16. November 2016 und zudem in der weiteren Anhörung am 7. März 2017 dem Bundesamt mitgeteilt. Die Antragstellerin habe in Griechenland der Prostitution nachgehen müssen. Im Anschluss daran habe sie immer in den Sommermonaten als … gearbeitet und regelmäßige Geldzahlungen an die Schergen der Frau aus Nigeria leisten müssen. Als Ende 2014 das Geld nicht bezahlen habe können, sei sie von den Schergen der Frau aus Nigeria in ihrer Wohnung aufgesucht und schwer geschlagen worden. Ähnliches sei ihr bereits im Jahr 2012 passiert. Da sie zuletzt auch das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen habe können, sei sie im September 2014 aus ihrer Wohnung geworfen worden. Sie habe noch für einige Monate bei einer Bekannten unterkommen und sich verstecken können. Diese habe sie dann aber auch aus der Wohnung geworfen, so dass sie obdachlos gewesen sei und auf der Straße habe schlafen müssen.
Am 29/30. März 2017 und erneut am 28. Juni 2017 übersandte das Bundesamt seine Akten.
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom *. April 2017 ließ die Antragstellerin eine Stellungnahme des … … e.V. vorlegen, in der u.a. das Vorbringen der Antragstellerin zu ihrer Situation in Griechenland geschildert und bewertet wird.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung ist zulässig (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG, § 36 AsylG; § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 3 AsylG) und begründet.
Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfGE 94, 166, 194). Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG).
Die Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung stützt sich auf die Ablehnung des Asylantrags als gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig (§ 34 Abs. 1 i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG). Das Gericht hat daher die Einschätzung des Bundesamts, dass der Asylantrag der Antragstellerin gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig sei, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen. Maßgeblich ist dabei, ob sich diese Einschätzung im Ergebnis als tragfähig und rechtmäßig erweist. Darüber hinaus hat das Gericht gemessen am Maßstab der ernstlichen Zweifel auch zu prüfen, ob das Bundesamt zu Recht das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG verneint hat.
Vorliegend bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 9. März 2017 jedenfalls insoweit, als das Bundesamt in Ziffer 2. kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Griechenlands festgestellt hat:
Bei Entscheidungen über (vorliegend gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) unzulässige Asylanträge ist gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG auch festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Art. 3 EMRK verbietet aufenthaltsbeendende Maßnahmen u.a. dann, wenn im Zielstaat der Abschiebung (vorliegend also in Griechenland) eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. In vorliegendem Einzelfall der Antragstellerin ernstlich zweifelhaft ist die Einschätzung des Bundesamts, auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Antragstellerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nach Griechenland nicht beachtlich:
Zwar spricht viel dafür, dass die Lebensverhältnisse international Schutzberechtigter in Griechenland (vgl. dazu umfassend: VG Berlin, U. v. 30.11.2017 – 23 K 463.17 A – juris Rn. 36 ff) trotz der dort herrschenden Defizite nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigenden im Sinne von Art. 3 EMRK anzusehen sind (zum diesbezüglichen Meinungsstand vgl. VG Berlin, a.a.O., juris Rn. 35 mit zahlreichen Nachweisen aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung). Dies kann indes letztlich dahingestellt bleiben. Denn unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragstellerin beim Bundesamt und gegenüber dem Gericht (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG) und unter Anwendung des Maßstabs der ernstlichen Zweifel (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG) ist jedenfalls im vorliegenden Einzelfall aufgrund der besonderen individuellen Umstände der Antragstellerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, der Antragstellerin drohe im Falle der Rückkehr nach Griechenland trotz ihrer Anerkennung als international Schutzberechtigte eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung: Die Antragstellerin gehört zur Gruppe der besonders schutzbedürftigen Personen. Sie ist nicht nur eine alleinstehende Frau. Entscheidend kommt hinzu, dass sie in Griechenland – wie sie (teilweise) bereits beim Bundesamt und vor allem dann gegenüber dem Gericht substantiiert, schlüssig und plausibel, mithin glaubwürdig vorgetragen hat – auch bereits gezwungen war, der Prostitution nachzugehen, später war sie wohnungslos und zuletzt sogar obdachlos (von einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Einzelfall hinsichtlich besonders schutzbedürftiger Gruppen/Personen gehen u.a. auch aus: VG Düsseldorf, B. v. 17.5.2017 – 12 L 1978.17.A – juris Rn. 15; VG Göttingen, B. v. 26.4.2017 – 3 B 267.17 – juris Rn. 15; VG Oldenburg, B. v. 31.3.2017 – 11 B 1853.17 – juris UA S. 7; vgl. auch: VG Hamburg, B. v. 11.5.2017 – 9 AE 2728.17 – juris Rn. 11;). Eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung Griechenlands, die Antragstellerin nach ihrer Rückkehr in einer bestimmten Weise zu behandeln, wodurch der Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK hinreichend vorgebeugt werden könnte, hat die Antragsgegnerin nicht eingeholt.
Bestehen mithin ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 9. März 2017 jedenfalls in Bezug auf die Nichtfeststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Griechenlands, war dem Antrag der Antragstellerin gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 3 AsylG auf Anordnung der aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsandrohung zu entsprechen. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG hat bereits dies zur Folge, dass sowohl die Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Ziffer 1. des Bescheids vom 9. März 2017) als auch die Abschiebungsandrohung (Ziffer 3. des Bescheids) unwirksam werden (bereits die Stattgabe des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO hat diese Folge, einer Aufhebung im Hauptsacheverfahren bedarf es nicht mehr). Das Bundesamt hat gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG das Asylverfahren fortzuführen, d.h. es hat nunmehr in der Sache über den Asylantrag zu entscheiden. Gemäß § 31 Abs. 3 AsylG hat das Bundesamt im Rahmen dieser Entscheidung auch festzustellen, ob die Voraussetzungen der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Ggf. hat es im Rahmen dieser Entscheidung auch erneut über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG zu befinden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.


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