Verwaltungsrecht

Aufenthaltserlaubnis

Aktenzeichen  Au 6 K 19.1083

Datum:
29.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4641
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53, § 54, § 55
ARB 1/80 Art. 7, 14
GG Art. 2 Abs. 2,Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1
StGB § 21
GKG § 52 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist unbegründet, da der angefochtene Bescheid vom 18. Juni 2019 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 18).
1. Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
Die Ausweisung ist nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG gerechtfertigt, weil vom Kläger auf Grund seines persönlichen Verhaltens nach wie vor und damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt.
Im Kläger liegt auf Grund seines persönlichen Verhaltens eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses im Sinne von § 53 Abs. 3 AufenthG auch unerlässlich macht.
a) Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers beurteilt sich nach §§ 53 ff. AufenthG, wobei der Kläger zusätzlich nach Art. 8 EMRK in seinem bislang ausschließlich im Bundesgebiet geführten Privatleben und nach Art. 7 i.V.m. Art. 14 ARB 1/80 in einem von seinem Vater abgeleiteten Assoziationsrecht geschützt ist. Allerdings ist die Ausweisung auch dann nicht unverhältnismäßig.
b) Die Ausweisung setzt als gebundene und gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 22) tatbestandlich voraus, dass der Ausländer durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig schwerwiegend gefährdet, diese Gefahr ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung zur Wahrung der gefährdeten Interessen in der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich ist. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem dieser Schutzgüter eintreten wird (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 23). Dies ist hier der Fall.
aa) Ein hinreichender Ausweisungsanlass ist die Straffälligkeit des Klägers.
Der Aufenthalt dieses Ausländers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil der Kläger schwere Straftaten begangen hat und eine Wiederholungsgefahr bis heute besteht.
Der Kläger ist zuletzt u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand hiergegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.), so dass ein hinreichender Ausweisungsanlass nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b und Buchst. e AufenthG n.F. (i.d.F. von Art. 1 Nr. 11 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.8.2019, BGBl. I S. 1294/1297) vorliegt. Die insgesamt (mehrfache) Begehung von derartigen Körperverletzungen stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/282 Rn. 15) und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
bb) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, so dass eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist.
(1) Vom Kläger geht eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, denn die wiederholte Straffälligkeit im Zusammenhang mit Körperverletzungsdelikten wie auch seine bislang unbewältigte Aggressivität – insbesondere aber nicht ausschließlich – unter Alkoholeinfluss seit fast zwanzig Jahren, wie sie sich in seiner langen Vorstrafenliste und den einschlägigen Vorahndungen zeigen, begründen die konkrete Gefahr einer erneuten Rück- und Straffälligkeit nach einer Haftentlassung. Dies ergibt sich aus der bereits wiederholten einschlägigen Tatbegehung, seiner raschen Rückfälligkeit unter offener Bewährung und in Kenntnis eines drohenden Haftvollzugs, was ihn offenkundig nicht beeindruckte, seiner darin zum Ausdruck gelangten, auf sich bezogenen Persönlichkeitsstruktur und der bis heute mangelnden therapeutischen Aufarbeitung seiner tatmotivierenden Persönlichkeitsstruktur und Aggressionsdelinquenz.
Bei der Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen eine eigene Beurteilung und Prognoseentscheidung vorzunehmen, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 8; BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17). Allein ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die eine Wiederholungsgefahr entfallen ließe (BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens gezeigt wird (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12).
Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der mögliche Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 9). Die vom Kläger wiederholt verletzte körperliche Unversehrtheit Dritter ist ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders geschütztes Rechtsgut von hervorgehobener Bedeutung, dessen Verletzung zu besonders schweren Schäden führen kann und dessen Schutz zu den Kernaufgaben der innerstaatlichen Friedensordnung gehört. Die körperliche Integrität anderer Menschen zählt mithin zu den wichtigsten Rechtsgütern. Genau dieses Rechtsgut hat der Kläger im Laufe von fast zwanzig Jahren wiederholt vorsätzlich, also bewusst und gewollt, massiv verletzt; über zwanzig einzelne unbeteiligte Menschen sind Opfer seiner ungezügelten Aggressivität und Brutalität geworden, wie die im Tatbestand aufgeführten Strafurteile nachdrücklich belegen. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind daher hier geringere Anforderungen zu stellen.
Die im Rahmen der eigenständigen ausländerrechtlichen Prognose der Wiederholungsgefahr auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, führt unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17; BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 14) hier zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr:
Der Kläger ist erstens Wiederholungstäter, da er einschlägig wegen vorsätzlicher Körperverletzungen verurteilt worden ist (bereits AG, U.v. 23.6.1999 – … – Behördenakte Bl. 107 ff.: Jugendstrafe acht Monate zur Bewährung ausgesetzt wegen Unterschlagung und vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen; AG, U.v. 30.10.2000 – … – Behördenakte Bl. 153 ff.: Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und vier Monaten wegen zweier vorsätzlicher Körperverletzungen in Tatmehrheit mit zwei Bedrohungen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung und weiteren vorsätzlichen Körperverletzungen; AG, U.v. 8.10.2002 – … – Behördenakte Bl. 213 ff.: Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und fünf Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung; AG, U.v. 12.8.2003 – … – Behördenakte Bl. 263 ff.: Jugendstrafe von sechs Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzungen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung; AG, U.v. 16.1.2006 – … u.a. – Behördenakte Bl. 344 ff.: Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen mit drei Fällen vorsätzlicher Körperverletzungen; AG, U.v. 21.7.2011 – … – Behördenakte Bl. 794 ff.: Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten u.a wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; AG, U.v. 4.8.2011 – … – Behördenakte Bl. 804 ff.: Freiheitsstrafe von acht Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung).
Der Kläger ist zweitens mehrfacher Bewährungsversager, denn er stand im Tatzeitpunkt der einschlägigen Anlassdelikte für die Ausweisung unter offener Bewährung (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.), hatte sich auch zuvor als Bewährungsversager erwiesen (vgl. nur AG, U.v. 30.10.2000 – … – Behördenakte Bl. 159) und einschlägige Taten sogar unter Führungsaufsicht (vgl. AG, U.v. 4.8.2011 – … – Behördenakte Bl. 804 ff.; AG, U.v. 12.3.2012 – … – Behördenakte Bl. 1029 ff.) und im Strafvollzug begangen (vgl. AG, U.v. 8.10.2002 – … – Behördenakte Bl. 213 ff.). Auf die im jüngsten Führungsbericht mitgeteilte einschlägige Beschuldigung stützt sich das Verwaltungsgericht hierbei nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ausdrücklich nicht.
Drittens fällt die individuelle Tatmotivation ins Gewicht, die beim Kläger mehrfach anlasslos in extrem brutale Gewalttaten mündete (zu Folgendem die gutachtlich gestützten Feststellungen von AG, U.v. 12.8.2003 – … – Behördenakte Bl. 263 ff.): Er sei noch nicht als dissoziale Persönlichkeit aufzufassen, aber durch das Fehlen einer hemmenden Instanz neutralisiere er Konflikte nicht durch Abwehrmechanismen, sondern lebe sie aus. Im nüchternen Zustand erscheine er frustrationsfähig, langsam und anpassungsfähig. Er sei keine gefühlskalte Person, die zu Sadismus und perversem Verhalten neige, im Einzelfall aber auch wohl zu Brutalität. In dieser Hinsicht zeige er nur mangelhafte Reuebildung. Nachdem er nun einige Jahre massiv trinke sei diskutabel, dass er vom Alkohol zumindest psychisch abhängig sei. Die sozialen Schäden entsprechend seiner Vorstrafenliste seien bezüglich der Körperverletzungen allesamt auf Alkohol zu beziehen. Seine Charaktereigenschaften würden teilweise auch durch Alkohol enthemmt. Ohne relevante Alkoholisierung agiere er nicht einschlägig; trotzdem zeige sich eine Konditionierung der aggressiven Bereitschaft und er habe sich zum Prototyp des Schlägers entwickelt.
Diese fast achtzehn Jahre alte Prognose ist vom Kläger auch in den folgenden Jahren faktisch bestätigt worden und daher offenkundig noch aktuell: In der langjährig sich steigernden einschlägigen Delinquenz des Klägers zeigt sich eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Regeln und geschützten Rechtsgütern Anderer. In der Gesamtwürdigung der weitgehend ohne oder aus nichtigem Anlass begangenen Körperverletzungsdelikte steht zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts fest, dass die Tatmotivation für den Kläger darin lag, ein Ventil für seine aufgestauten Aggressionen zu finden, die tief in seiner von Jugend an defizitär verfestigten Persönlichkeitsstruktur wurzeln. Auffallend ist auch, dass der Tatimpuls regelmäßig vom Kläger ausging, nicht von seinen (späteren) Opfern, insbesondere der Kläger auch keine Provokation benötigte, um handgreiflich zu werden. Auch bei seiner zuletzt abgeurteilten Tat genügte ihm, dass das erste Opfer sich nicht seinem Willen und seiner sinnlosen Drohung fügte und er sich gegenüber den Polizeibeamten nicht deren amtlichen Maßnahmen beugen wollte. Der Kläger ist zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts bis zuletzt der „Prototyp des Schlägers“ geblieben, als der er schon vor fast zwanzig Jahren eingestuft wurde.
Viertens ist der massiv verhaltensauffällige Kläger nicht nachweislich erfolgreich therapiert. Trotz jahrelanger Maßnahmen und Therapien innerhalb und außerhalb des Strafvollzugs sind diese zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts letztlich ohne nachweislichen Erfolg geblieben:
Einem Führungsbericht der JVA … vom 15. April 2003 ist dazu zu entnehmen, der Kläger habe eine Chance, an einem Anti-Gewalt-Training teilzunehmen, nicht wahrgenommen; an einer Alkoholgruppe zur Behandlung seines Alkoholproblems nehme er immerhin teil. Soweit nach Aktenlage ersichtlich, handelte es sich um die frühestens Versuche, auf den Kläger einzuwirken.
Eine einschlägige Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, u.a. da der Kläger aus der Haft heraus Schritte zur Bewältigung der Alkoholproblematik unternommen habe und therapiewillig sei und dies genutzt werden solle (vgl. AG, U.v. 12.8.2003 – … – Behördenakte Bl. 263 ff.). Dennoch wurde der Kläger wieder rückfällig und musste sogar im Strafvollzug aus einer für seine Therapie ausgesuchten Haftanstalt wieder zurückverlegt werden, weil bei ihm aufgrund der komplexen und stark verfestigten schwierigen Persönlichkeitsstruktur keine Aussicht auf eine therapeutisch erfolgreiche Maßnahme bestehe. Der Kläger sei auch nicht in ausreichendem Maße bereit, sich mit seinen persönlichen Defiziten auseinanderzusetzen (JVA, Führungsbericht vom 10. Januar 2007, Behördenakte Bl. 410). Die JVA … teilte im Führungsbericht vom 11. November 2008 ergänzend mit, der Kläger stehe im regelmäßigen Kontakt mit der anstaltsinternen Alkoholberatung und habe im Mai, Juni und Juli 2008 an Gruppensitzungen des sozialen Kompetenztrainings teilgenommen und nehme seit 21. Oktober 2008 an einem Anti-Gewalt-Training teil. Zur Bearbeitung seiner Gewalttätigkeit nehme er seit dem 29. Mai 2008 an einer Einzelpsychotherapie bei einem externen Therapeuten teil (ebenda Bl. 584 f.). Der Kläger hatte also mehrfach Gelegenheit zu Therapien und sozialem Training.
Nach einschlägiger Rückfälligkeit aber hatte das Strafgericht kein Vertrauen darin, dass der Kläger durch die begonnene Psychotherapie von seiner Alkohol- und Aggressionsproblematik loskomme (vgl. AG, U.v. 21.7.2011 – … – Behördenakte Bl. 794 ff.) und stellte kurz danach fest, das vorgelegte Attest der Psychotherapie entlaste ihn nicht, denn diese habe ihn nicht von der Begehung gleichartiger brutaler Straftaten abhalten können (AG, U.v. 4.8.2011 – … – Behördenakte Bl. 804 ff.). Die Rechtsmittelinstanz sah dies ebenso und führte zum Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung des Klägers in den Jahren 2005-2006 und im Herbst 2009 aus, Gegenstand der Behandlung sei die Alkoholproblematik und die psychotherapeutische Prognose sei positiv. Aber die psychotherapeutische Behandlung habe den Kläger nicht von weiteren Straftaten abgehalten, sodass keine Wahrscheinlichkeit bestehe, dass neuerliche Sitzungen dies bewirken würden (LG, U.v. 28.11.2011 – … – Behördenakte Bl. 858 ff.). Die bis dahin durchgeführten jahrelangen Therapieversuche blieben also ohne nachhaltigen Eindruck auf den Kläger und damit erfolglos. Er blieb nicht nur Bewährungs-, sondern auch Therapieversager.
Auch in der erneuten Strafvollstreckung nahm der Kläger hinsichtlich der Aggressionsproblematik an einem Training zur Gewaltprävention teil; die Alkoholproblematik sei nach wie vor nicht aufgearbeitet (vgl. JVA, Führungsbericht vom 31. Juli 2013, ebenda Bl. 1234 f.).
Dennoch wurde der Kläger wieder einschlägig aggressiv und unter erheblichem Alkoholeinfluss straffällig wegen vorsätzlicher Körperverletzung u.a. (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.). Die bis dahin durchgeführten jahrelangen Therapieversuche blieben also bis zuletzt ohne nachhaltigen Eindruck auf den Kläger und damit erfolglos. Er blieb Bewährungs- und Therapieversager.
Soweit der Kläger nun geltend macht, er habe vor der jetzt dritten Inhaftierung seit dem Dezember 2016 freiwillig eine Psychotherapie durchgeführt, seine Defizite aufgearbeitet und sei geläutert, war jedenfalls bis zum Juni 2017 kein Therapieerfolg durch seinen langjährigen Therapeuten eingetreten, als der Kläger zuletzt straffällig wurde (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1395). Insofern ist sein Hinweis, er habe vor Antritt der Haft bei Dr. … eine externe Psychotherapie (Verhaltenstherapie) im Jahr 2018 abgeschlossen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 15), nicht als Nachweis eines erkennbaren Therapieerfolgs zu sehen.
Im aktuellen Führungsbericht der JVA … vom 26. Januar 2020 wird mitgeteilt, aus den Unterlagen sei eine Suchtmittelproblematik bekannt, der Kläger sei bei Tatbegehung erheblich alkoholisiert gewesen, habe dazu befragt jedoch angegeben, kein Drogen- oder Alkoholproblem zu haben. […] Nach Abklärung der externen Alkoholberatung und mit dem Psychologen Herrn … sei festgestellt worden, dass kein Drang nach Alkohol bei ihm vorliege. Vom 3. Oktober 2018 bis 19. September 2019 habe sich der Strafgefangene in der sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter befunden und dort am Behandlungsprogramm teilgenommen. Die Maßnahme sei am 19. September 2019 seitens des Teams beendet worden, da keine hinreichende Basis für ein effektives therapeutisches Arbeitsbündnis gegeben schien. Seit 14. Oktober 2019 nehme der Strafgefangene am Anti-Gewalt-Training des sozialpädagogischen Dienstes der JVA … teil (VG-Akte Bl. 126 f.).
Hierzu macht der Kläger geltend, zuletzt sei er im Jahr 2017 straffällig geworden, das habe mit dem Alkohol zu tun gehabt, dazwischen sei er straffrei gewesen. Er habe seine Defizite erkannt und angepackt, sich noch einer Therapie vor der Haft gestellt, sich zur Haft selbst freiwillig gestellt und in der Haft ein Jahr lang eine Sozialtherapie freiwillig gemacht mit allen Modulen bis auf das letzte. Die JVA habe im Sommer 2019 sogar seine Haftentlassung befürwortet. Er habe sich einwandfrei geführt, den Qualifizierten Abschluss nachgemacht und werde demnächst das Anti-Gewalt-Training beenden (Protokoll vom 29.1.2020 S. 15 f.).
Auch hier gilt die aus dem gesamten jahrelangen Behandlungsverlauf des Klägers gewonnene Überzeugung des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger zwar vielfach und jahrelang behandelt und therapiert wurde, aber sich jedenfalls in der Vergangenheit nicht nachhaltig davon beeindruckt zeigte. Die kurze Wohlverhaltensphase zwischen der letzten Tatbegehung im Juni 2017 und seiner Inhaftierung im September 2018 spricht zwar für eine gewisse Steuerungsfähigkeit des Klägers, doch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass zwischen seinen früheren Straftaten ebenfalls teils jahrelange Phasen des Wohlverhaltens lagen, denen dann umso gewalttätigere Rückfälle folgten – ungeachtet aller Verhaltenstherapien und Anti-Gewalt-Trainings.
Auch dass der Kläger seinen Alkoholkonsum im erforderlichen Umfang zu steuern vermag, muss bezweifelt werden, da er zwar im Strafvollzug angab, kein Drogen- oder Alkoholproblem zu haben, andererseits aber bei seiner letzten Straftat nach eigenen Angaben eine Alkoholisierung von 2,9 bis 3,1 Promille BAK (Protokoll vom 29.1.2020 S. 6) gehabt haben will, was für eine langjährige und hochgradige Alkoholgewöhnung spricht. So entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass Personen, die Blutalkoholwerte von 1,6 Promille und mehr erreichen, regelmäßig – auch wenn sie Ersttäter sind – an einer dauerhaften, ausgeprägten Alkoholproblematik leiden (vgl. nur BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 – BVerwGE 99, 249 ff. juris Rn. 14) und der Kläger hier sogar fast die doppelte Blutalkoholkonzentration gehabt haben will.
Insgesamt geht das Verwaltungsgericht daher unter Würdigung der Therapieversuche am Kläger davon aus, dass er bis heute zwar Therapien oder Trainings abgeschlossen hat bzw. demnächst abschließen will, aber weder sein Aggressionsproblem noch sein offenkundiges Alkoholproblem erfolgreich therapiert sind. Dass der Kläger phasenweise steuerungsfähig ist und wie in der Vergangenheit jahrelang unauffällig bleiben kann, bis sich seine latente Aggressivität und Brutalität insbesondere unter alkoholbedingter Enthemmung doch wieder Bahn bricht, spricht für seine nach wie vor vorhandene Gefährlichkeit und eine konkrete Wiederholungsgefahr.
Fünftens hat auch die JVA … in ihrem aktuellen Führungsbericht vom 26. Januar 2020 keine Sozialprognose für den Kläger abgegeben, so dass es im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch an einer für den Kläger positiven Sozialprognose fehlt.
Wegen des hohen Rangs der von ihm verletzten und bei einem Rückfall erneut bedrohten Rechtsgüter insbesondere der körperlichen Integrität anderer Personen, tragen diese Feststellungen die Annahme einer erheblichen und gegenwärtigen Wiederholungsgefahr. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit seiner Ausweisung ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor nicht erfolgreich therapiert ist, geschweige denn sich ohne den Druck der Haftumstände auf freiem Fuß auch nachhaltig bewährt hätte, sondern verfestigte persönlichkeitsimmanente Faktoren wesentlich tatbestimmend waren. Es ist auch nicht ersichtlich, dass und weshalb die zuletzt durchgeführten Therapien und Trainings nun am Kläger bewirkten, was früheren gleichartigen oder gleichgerichteten Maßnahmen misslungen ist. Sind aber die Ursachen seiner Straftaten nicht beseitigt, ist weiter von einer konkreten Rückfallgefahr wie zuvor auszugehen.
(2) Für die Annahme der Wiederholungsgefahr bedarf es hier auch keines Sachverständigengutachtens.
Ob eine Wiederholungsgefahr neuer Verfehlungen besteht, erfordert grundsätzlich nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens, weil sich das Gericht in seiner tatsächlichen Würdigung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter zugänglich sind (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 8 m.w.N.). Eine Ausnahme kommt nur dann in Betracht, wenn die Prognose die Feststellung oder Bewertung von Umständen voraussetzt, für die eine dem Richter nicht zur Verfügung stehende Sachkunde erforderlich ist, wie etwa im Falle einer seelischen Erkrankung (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2014 – 10 ZB 13.328 – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 8 m.w.N.).
Dass der Kläger an einer solchen (deliktsbezogenen) Erkrankung heute leidet, ergibt sich weder aus den Strafurteilen noch ist dies ersichtlich oder vorgetragen. Zwar hat das zuletzt den Kläger verurteilende Strafgericht eine erhebliche Alkoholisierung des Klägers festgestellt und zu seinen Gunsten hierin einen die Schuldfähigkeit mindernden Umstand erkannt (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.), wobei der Kläger in der mündlichen Verhandlung deutlich machte, ihm hätte sogar die Zuerkennung von Schuldunfähigkeit wegen seiner Alkoholisierung von 2,9 bis 3,1 Promille BAK zugestanden (Protokoll vom 29.1.2020 S. 6). Doch das Strafgericht sah von der Anordnung einer Maßregel ab, weil der Kläger keinen Hang zum Alkohol habe, sondern nach seinen Angaben vor dem Tattag zuletzt etwa sechs Monate zuvor Alkohol getrunken und seit 2011 alkoholabstinent gelebt habe. Auch die JVA … teilte in ihrem Führungsbericht vom 26. Januar 2020 mit, aus den Unterlagen sei eine Suchtmittelproblematik bekannt, der Kläger sei bei Tatbegehung erheblich alkoholisiert gewesen, habe dazu befragt jedoch angegeben, kein Drogen- oder Alkoholproblem zu haben. Er habe in den letzten 5 Jahren lediglich zweimal etwas getrunken. Ihm sei die Aufnahme des Kontakts mit der Suchtberatung empfohlen worden; nach Abklärung der externen Alkoholberatung und mit dem Psychologen Herrn … sei festgestellt worden, dass kein Drang nach Alkohol bei ihm vorliege (VG-Akte Bl. 126 f.). Es liegen daher keinerlei Anhaltspunkte vor, dass der Kläger an einer Alkohol- oder Drogenkrankheit leidet. Eine weitere Sachaufklärung drängt sich erst recht nicht auf.
c) Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 53 Abs. 2 und Abs. 3 i.V.m. § 55 AufenthG deutlich überwiegt.
aa) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b) und e) AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen der von ihm begangenen Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und damit wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.). Er hat die erfassten Deliktsvarianten mehrfach erfüllt, denn er wurde verurteilt u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung, in Tatmehrheit mit vorsätzlicher und versuchter Körperverletzung sowie fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand hiergegen.
Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten und kann die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat in atypischen Fällen insgesamt weniger schwer erscheinen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 57), doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine Anhaltspunkte vor. Tat, Täter und Nachtatverhalten weichen von vergleichbaren Delikten nicht derart ab, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Dies gilt auch im Blick auf die zuvor begangenen einschlägigen Delikte. Auch nach strafgerichtlicher Bewertung rechtfertigten die Tatumstände und die Täterpersönlichkeit keine abweichende Gewichtung. Insbesondere eine Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers wurde nicht festgestellt. Dass er unter Alkoholeinfluss im Affekt besonders aggressiv werden kann, hat er vielfach unter Beweis gestellt. Mag dies auch persönlichkeitsimmanent sein, so zeigt dies doch umgekehrt eine unbewältigte Problematik, die sich jederzeit wieder in neuen Aggressionen äußern kann.
Dass der Kläger auf Vorhalt der Strafzumessungsgründe aus dem Urteil des Amtsgerichts … vom 16. Februar 2018 zur Tat von 2017 geltend macht, laut dem Gutachter hätte ihm eigentlich die Feststellung der Schuldunfähigkeit aufgrund der starken Alkoholisierung zugestanden (Protokoll vom 29.1.2020 S. 7), was ihn als vermeintlich erlittene Ungerechtigkeit nach dem Eindruck der Kammer mehr beschäftigt als die Tat selbst, deutet auf ein Verhaltensmuster des Klägers hin, der verbal zwar die Verantwortung für seine Taten übernimmt („er habe Gedächtnisverluste gehabt und es tue ihm leid“, ebenda S. 7), letztlich aber doch die Tat bagatellisiert („ein Missgeschick“, ebenda S. 7).
Der Kläger ist auch nicht unverschuldet in die Tatsituation und in die früheren Tatsituationen geraten, sondern hat sie vielfach erst durch Provokationen oder sogar anlasslos selbst herbeigeführt. Der Kläger geriet nicht in Konflikte, in denen er zur friedlichen Konfliktlösung außer Stande gewesen wäre, sondern er suchte und schuf Konflikte, um sich durch Gewaltanwendung selbst beweisen und seine persönlichkeitsimmanente Aggressivität ausleben zu können. Die Gesamtwürdigung stützt also die Annahme des gesetzlichen Regel-Schlusses aus einer einschlägigen Verurteilung auf ein entsprechendes öffentliches Ausweisungsinteresse; ein Ausnahmefall ist hier erst recht nicht erkennbar.
bb) Das Bleibeinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 4 und Abs. 3 AufenthG ebenfalls besonders schwer, weil der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt, seit über fünf Jahren legal im Bundesgebiet lebt, hier geboren ist und sein Personensorgerecht zumindest für sein Kind … auch ausübt. Es kommt daher nicht mehr entscheidend darauf an, ob und wie er sein Umgangsrecht für das Kind … ausübte, bevor er inhaftiert wurde, und zu dem er jedenfalls seit seiner Inhaftierung keinen Kontakt mehr hat (Protokoll vom 29.1.2020 S. 8).
Zudem ist für die gerichtliche Abwägung das Bleibeinteresse analog § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG ebenfalls als besonders schwerwiegend einzustufen, da der Kläger als „faktischer Inländer“ – also als ein Ausländer, der seine wesentliche Prägung im Bundesgebiet erfahren hat (vgl. BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 21) – einzustufen ist. Allerdings verhindert auch diese Einstufung nicht seine Ausweisung, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.).
cc) In die nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotene Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse sind alle Umstände des Einzelfalles wie insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner einzustellen:
(1) Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt ohne wesentliche Unterbrechung an und fällt als intensive Bindung erheblich ins Gewicht. Der Kläger ist ausschließlich in Deutschland aufgewachsen und hier zur Schule gegangen, hat in der JVA … den qualifizierten Mittelschulabschluss nachgeholt und zuvor eine Maurerlehre abgeschlossen sowie nach eigenen Angaben eine Umschulung als Mechatroniker absolviert (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4).
Der Kläger hat auch seine wesentlichen persönlichen Bindungen im Bundesgebiet, da er vor seiner Inhaftierung noch in einer eigenen Wohnung nahe seiner Eltern lebte (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4, 10 f.), eine langjährige Freundin/Verlobte, eine geschiedene Ehefrau und drei Kinder deutscher Staatsangehörigkeit im Bundesgebiet hat, wobei für jedenfalls zwei von ihnen Vaterschaftserklärungen abgegeben sind und für das älteste Kind … sowie das zweite Kind … jeweils ein gemeinsames Sorgerecht mit den Kindesmüttern besteht. Weitere persönliche Beziehungen, insbesondere eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Ehe oder eigene Familie, hat der geschiedene und vor der Haft auch nicht mit seiner Verlobten zusammenlebende Kläger nicht. Das Verlöbnis besteht längere Zeit, ohne dass terminlich konkrete Eheschließungsabsichten bestehen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4, 10), so dass es nicht gesteigert schutzwürdig ist.
Weiter leben seine Mutter und seine drei Brüder im Bundesgebiet und er lebte bis zu seiner jüngsten Inhaftierung in einer eigenen Wohnung im selben Haus. Angesichts ihrer regelmäßigen Besuche beim Kläger in der Haftanstalt ist hier von einer familiären Bindung auszugehen. Allerdings ist der gesunde und erwerbsfähige sowie zumindest in der Haft auch erwerbstätige Kläger längst volljährig und nicht mehr auf die Lebenshilfe seiner türkischstämmigen Familie angewiesen.
Der Kläger hat seine beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet, wo er nach dem Besuch der Schule eine Lehre und nach seinen Angaben auch eine Umschulung absolviert hat (vgl. oben). Dass er den Qualifizierenden Mittelschulabschluss in der Haft mit Erfolg nachgeholt hat, ist positiv zu bewerten. Allerdings hat der erwerbsfähige Kläger nur zeitweise und zuletzt vor seiner Inhaftierung gar nicht gearbeitet (vgl. Rentenversicherungsverlauf, Behördenakte Bl. 1311; Protokoll vom 29.1.2020 S. 5), vor seiner letzten Inhaftierung aber seinen Lebensunterhalt nicht dauerhaft aus eigener Kraft gesichert, geschweige denn finanziell nennenswert zum Lebensunterhalt seiner drei Kinder beigetragen. Sie sind nach wie vor auf Unterhaltsvorschuss angewiesen.
Zwar gab der Kläger hierzu an, er habe Unterhalt für seinen Sohn … zwei Monate nach der Geburt [am … 2016] bis August 2018 gezahlt (Protokoll vom 29.1.2020, S. 5), doch hat die Kindesmutter und geschiedene Ehefrau hierzu andere Angaben gemacht, dass der Kläger nie Unterhalt entrichtet habe (Schreiben vom 24.11.2018, Behördenakte Bl. 1421).
Soweit der Kläger angibt, für … habe er Unterhalt geleistet, indem er die Wohnung gehalten habe; wenn er gearbeitet habe, habe er manchmal auch nur geringe Beträge zahlen können; er habe dafür für andere Unternehmungen mit dem Kind monatlich 120 EUR bezahlt bis zu seiner Inhaftierung im Oktober 2018 (Protokoll vom 29.1.2020 S. 5), stehen dem die Angaben des Jugendamts und der Kindesmutter entgegen. Das für die Kinder … und … zuständige Jugendamt teilte mit (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106), die Familie sei der Unterzeichnerin seit dem Jahr 2014 bekannt, der Kläger habe seit der Geburt für seine Tochter nur dreimal je 30,00 EUR Unterhalt gezahlt. Die als Zeugin vernommene Kindesmutter bestätigte, wie vom Jugendamt angegeben, drei Mal 30,00 EUR Unterhalt vom Kläger bekommen zu haben, das sei etwa 2015 gewesen. Weiter gab sie auf Vorhalt der zum Kläger protokollierten Angaben über Unterhaltszahlung von 120 EUR an, das sei 2015/2016 gewesen. Der Kläger habe das Geld für … gegeben und gesagt, er könne nicht viel geben. Die damalige Familienhelferin habe daraufhin angeregt, Unterhaltsvorschuss zu beantragen. 2017 bis heute gebe es keine Unterhaltszahlungen des Klägers für die Kinder (Protokoll vom 29.1.2020 S. 11). Auf Nachfrage zum Auszug aus der gemeinsamen Wohnung bestätigte die Zeugin, ca. im Jahr 2012 nach der Inhaftierung des Klägers noch etwa ein halbes Jahr in der Wohnung gewohnt zu haben; die Miete hätten die Brüder des Klägers finanziert (ebenda S. 11). Spätestens ab ihrem Auszug erhielt die Verlobte also auch keinen Naturalunterhalt mehr.
Insgesamt sind daher die beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen des Klägers mangels nachhaltiger Integration in den deutschen Arbeitsmarkt eher von geringerem Gewicht; ihm ist keine eigene Sicherung des Lebensunterhalts im Bundesgebiet auf Dauer gelungen; seine Wohnung wurde und wird offenbar von seiner Familie finanziert (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4, 11). Auch seine weiteren wirtschaftlichen Bindungen, insbesondere seine Verpflichtungen gegenüber seinen drei Kindern, fallen nicht als wesentliche Bindung ins Gewicht, da er ihnen jedenfalls seit längerer Zeit nicht (mehr) nachkommt.
Sonstige wesentliche Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(2) In der Türkei als seinem in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Herkunftsstaat hat der Kläger 1998, 2004 und 2015 Urlaubsaufenthalte verbracht und zuletzt dort seine Ex-Ehefrau geheiratet, nach eigenen Angaben aber keine Verwandten dort besucht (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4). Damit hat der Kläger keine engeren Beziehungen mehr zum Staat seiner Staatsangehörigkeit.
Er spricht aber nach den Beobachtungen bereits der JVA … in ihrem Führungsbericht vom 15. April 2003 („der türkischen Sprache mächtig“, Behördenakte Bl. 243 f.) und der JVA … bei Telefonaten des Klägers mit seiner Mutter (Behördenakte Bl. 1504 f.) und entgegen der Angaben des Klägerbevollmächtigten die türkische Sprache: Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Sprachkenntnissen erklärt, er spreche Türkisch sehr schlecht, könne einzelne Wörter nur sprechen, spreche Deutsch und Italienisch (sehr gebrochen). In der JVA habe er nicht auf Türkisch telefoniert, das sei dort verboten und er benötige dafür eine Erlaubnis (Protokoll vom 29.1.2020 S. 5). Allerdings hat er auf Nachfrage zur Sprachvermittlung durch seine Eltern und insbesondere durch seine Mutter auch erklärt, er habe schon in der Schulzeit Hilfe bekommen, mit seiner Mutter auf Deutsch gesprochen, sie könne sich halt nicht so artikulieren wie er. Der Kläger gab weiter an, seine Brüder hätten mit seiner Mutter auf Türkisch gesprochen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 6).
Dass der Kläger mit seiner Mutter Deutsch gesprochen habe bzw. spreche und deswegen des Türkischen kaum mächtig sei, stehen jedenfalls die Beobachtungen des Verwaltungsgerichts in der mündlichen Verhandlung und die Zeugenaussage entgegen: Die klägerseitig als präsente Zeugin mitgebrachte Mutter des Klägers war eingangs der Verhandlung nicht in der Lage, eine einfache Frage des Vorsitzenden, ob sie eine Belehrung auf Deutsch verstehe, klar zu beantworten; sie wandte sich hilfesuchend an den Kläger, so dass zunächst auf ihre Belehrung und später auf ihre Zeugenvernehmung verzichtet wurde (Protokoll vom 29.1.2020 S. 2). Die als Zeugin vernommene Kindesmutter gab auf Frage nach der Verständigung mit der Mutter des Klägers an, diese erfolge auf Deutsch und etwas auf Türkisch und mit Händen und Füßen […] Die Zeugin rede mit ihr meistens auf Deutsch und die Mutter antworte auf Türkisch; wenn sie sie nicht verstehe, würden andere ggf. übersetzen. Die Schwiegermutter versuche, mit … Türkisch zu sprechen, was … nicht verstehe, so dass es gelegentlich zu Konflikten zwischen den beiden deswegen komme (Protokoll vom 29.1.2020 S. 10). Zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts steht damit fest, dass die Mutter des Klägers des Deutschen nicht hinreichend mächtig ist, um sich – selbst im vertrauten familiären Alltag – mit der Mutter ihrer Enkelin oder der Enkelin auf Deutsch zu verständigen. Für die Mutter ist Türkisch offenbar die alltägliche Umgangssprache. Dass der Kläger dann mit ihr Deutsch seit seiner Kindheit gesprochen haben will bzw. spricht und – anders als seine drei Brüder – Türkisch nur sehr schlecht vermittelt erhalten hätte, ist nicht nachvollziehbar. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger sich zumindest mündlich im Alltag auch auf Türkisch hinreichend verständigen kann, selbst wenn er im Fall seiner Aufenthaltsbeendigung seine Türkischkenntnisse auffrischen müsste.
Würde er in die Türkei abgeschoben, müsste er sich dort ein eigenes Leben aufbauen, sich eine Arbeit suchen und bis zur Erwerbstätigkeit notfalls soziale Unterstützung seines Herkunftsstaats in Anspruch nehmen. Er ist wohl auch nach den Erwartungen des türkischen Arbeitsmarktes schulisch und beruflich hinreichend für eine Tätigkeit auf dem Bau und – wie er selbst betont – als Mechatroniker qualifiziert (Protokoll vom 29.1.2020 S. 5). Gleichwohl dürfte ihm zuzumuten sein, notfalls auch niedrig entlohnte Arbeit anzunehmen, um wirtschaftlich Fuß zu fassen und für seinen Lebensunterhalt auf legale Weise aufzukommen.
Der Kläger fürchtet, in der Türkei noch zum Wehrdienst herangezogen zu werden (Protokoll vom 29.1.2020 S. 14). Dies ist nach derzeitigem Sachstand – der Kläger hat noch nicht die obere Altersgrenze der türkischen Wehrpflicht von vierzig Jahren überschritten – nicht ausgeschlossen. Allerdings ist der Kläger weder gemustert noch einberufen, was auch in der Türkei eine gewisse Zeit erfordert. Zudem ist nicht sicher, dass der Kläger angesichts seiner Vorstrafen überhaupt als wehrwürdig eingestuft würde. Schließlich handelt es sich um eine staatsbürgerliche Pflicht, deren Erfüllung zuletzt deutlich abgemildert wurde, indem der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt worden ist, von denen fünf Monate durch Geldzahlung entfallen können und ein Monat eine Art Formaldienst geleistet werden muss (vgl. nur VG Augsburg, U.v. 17.12.2019 – Au 6 K 17.35166 – juris Rn. 58 f. m.w.N.). Dass dem Kläger ein Wehrdienst unzumutbar wäre, ist nicht ersichtlich.
Sonstige wesentliche Bindungen des Klägers in die Türkei sind weder aus den Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(3) Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner fallen für den geschiedenen Kläger und für seine Angehörigen unterschiedlich ins Gewicht und sind bei der Entscheidung über eine Aufenthaltsbeendigung entsprechend zu berücksichtigen.
Zur geschiedenen Ehefrau hat der Kläger keinen Kontakt; sie lehnt diesen in ihrer Stellungnahme im Ausweisungsverfahren gegenüber dem Beklagten auch ab.
Zu seinem aus dieser Ehe hervorgegangenen Kind … hat der Kläger ein gemeinsames Sorgerecht mit der Kindesmutter, derzeit aber keinen Kontakt (Protokoll vom 29.1.2020 S. 9 f.). Seine Exfrau habe ihm nicht einmal die Geburt des Kindes mitteilen wollen. Auf Frage nach dem Kontakt erklärte er, vor der Inhaftierung habe er aufgrund richterlicher Einigung vier Mal pro Woche Umgang gehabt, den er habe einklagen müssen, ab Frühjahr 2018. Er habe sein Kind nach der Geburt mit anwaltlicher Hilfe im Krankenhaus besucht und dann erst wieder ab etwa Januar/Februar 2017 gesehen. Er habe danach vier Mal pro Woche Treffen gehabt bis Frühjahr 2018, dies aber einklagen müssen. Von Frühjahr 2018 bis Oktober 2018 habe er sein Kind nicht gesehen, weil die Mutter dies abgelehnt hatte. Seit der Inhaftierung habe er den Sohn nicht mehr gesehen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 10).
Derzeit besteht also kein Kontakt, nicht einmal besuchsweise. Ob der Kontakt nach einer Haftentlassung wieder aufgenommen würde und unter welchen Bedingungen, ist derzeit offen und angesichts des offenbar konfliktbeladenen Verhältnisses der Eltern untereinander nicht absehbar. Trotz des formalen Sorgerechts ist der Kläger an der Erziehung und an maßgeblichen Entscheidungen für das Kind faktisch nicht beteiligt. Eine gelebte Vater-Kind-Beziehung ist zum hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht vorhanden.
Zur derzeitigen Verlobten und Mutter seines ältesten und seines jüngsten Kindes besteht keine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Ehe und auch das Verlöbnis ist ohne konkret terminierte Eheschließungsabsicht (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4, 10) nicht gesteigert schutzwürdig. Zu Gunsten des Klägers kann unterstellt werden, dass er vor seiner Inhaftierung im Oktober 2018 mit seiner derzeitigen Verlobten trotz getrennter Wohnungen eine Paarbeziehung führte (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4) und eine solche grundsätzlich nach seiner Haftentlassung auch wieder aufnehmen will, wobei umgekehrt auch seine Verlobte es nach seiner Entlassung nochmals gemeinsam mit ihm versuchen will (Niederschrift vom 10.12.2018, Behördenakte Bl. 1420). Damit ist zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts jedenfalls der beiderseitige Wille zur Wiederherstellung einer tatsächlichen Lebensgemeinschaft – trotz der erheblichen Probleme im Zusammenleben in der Vergangenheit (laut Jugendamt war eine sozialpädagogische Familienhilfe in den Jahren 2015-2017 installiert worden, Behördenakte Bl. 1460) – erkennbar. Andererseits steht eine förmliche Eheschließung nicht im Raum, solange der Kläger in der Türkei kein Ehefähigkeitszeugnis für ein Aufgebot in Deutschland erhalten kann, da seine Scheidung dort noch nicht registriert ist (Protokoll vom 29.1.2020 S. 4).
Am schwersten wiegt die Beziehung des Klägers zu seinem ältesten Kind …. Wie vom Jugendamt bestätigt (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106 f.), sei trotz der zeitweisen Trennung der Eltern und der anderweitigen Eheschließung des Klägers immer ein Kontakt zur Tochter … gegeben gewesen; auch wenn die Eltern gerade kein Paar gewesen seien. Im Rahmen von Hausbesuchen und Hilfeplangesprächen habe die Situation zwischen Vater und Tochter persönlich erlebt werden können und sei als liebevoll und eng wahrgenommen worden. Der Kläger habe an den meisten Hilfeplangesprächen teilgenommen und sich interessiert gezeigt an der Entwicklung seiner Tochter. Die Kindesmutter besuche etwa einmal im Monat den Kläger mit den Kindern, zuletzt vor etwa eineinhalb Wochen. Nach Einschätzung der Unterzeichnerin würde die Auslands-Abwesenheit des Klägers für die Tochter wiederholt einen „Verlust“ bedeuten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde die Ausweisung des Vaters die Verlustängste der Tochter weiter negativ verstärken (ebenda Bl. 107). Daher ist auch nach der Zeugeneinvernahme der Kindesmutter mit einer ebenfalls als eng geschilderten Vater-Kind-Beziehung (Protokoll vom 29.1.2020 S. 12, 13) zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts von einer gelebten Vater-Kind-Beziehung des Klägers zu seinem ältesten Kind auszugehen.
Auf der anderen Seite ist zwischen dem Kläger und seinem jüngsten Kind … bis jetzt noch keine tatsächliche Vater-Kind-Beziehung entstanden, denn das Kind wurde erst nach der Inhaftierung seines Vaters geboren und sieht seinen Vater nur in größeren Abständen vorübergehend bei den Besuchen in der Haftanstalt. Für den Sohn … habe der Kläger nach Auskunft des Jugendamts die Vaterschaft bisher nicht anerkannt; somit liege die elterliche Sorge alleine bei der Kindesmutter, die aufgrund der unklaren Situation des Klägers auch nach einer Vaterschaftsanerkennung keine Sorgerechtserklärung abgeben wolle; aufgrund seines Alters und der monatlichen Kontakte spiele der Kläger derzeit für seinen Sohn eine untergeordnete Rolle. Eine Auslands-Abwesenheit des Klägers wäre für ihn ein „normaler“ Alltag, da er dies nie anders erlebt habe (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106 f.). Daher ist auch nach der Zeugeneinvernahme der Kindesmutter mit den geschilderten Besuchen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 13). zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts derzeit nicht von einer gelebten und verantwortungsvollen Vater-Kind-Beziehung des Klägers zum Kind auszugehen.
Soweit der Kläger seine Mutter und seine Brüder in Deutschland, aber keine Verwandten in der Türkei hat (vgl. oben), ist zu berücksichtigen, dass der voraussichtlich noch bis zum Juni 2020 inhaftierte Kläger selbst keine Fürsorge oder Unterstützung für von ihm abhängige Angehörige leistet – zuletzt nicht einmal Unterhaltszahlungen an seine Kinder – und als erwachsener Mann umgekehrt grundsätzlich nicht mehr auf eine lediglich im Bundesgebiet leistbare Fürsorge und Unterstützung angewiesen ist, so dass solche Beziehungen zu Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie regelmäßig weniger schwer wiegen (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 7 m.w.N.). Seine Mutter hat durch weitere drei Kinder im Bundesgebiet hinreichend Unterstützung; dass sie gerade auf die Unterstützung des – haftbedingt – oft und länger abwesenden Klägers substantiell angewiesen wäre, ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Es ist dem Kläger vielmehr zumutbar, den Kontakt zu seiner türkischen Familie durch Telefonat, soziale Medien und deren Besuche in der Türkei aufrecht zu erhalten, wo sie grundsätzlich einreiseberechtigt sind.
Würde der Kläger in die Türkei abgeschoben, könnte er also die schützenswerten Beziehungen zu seiner Verlobten und vor allem zu seiner Tochter … nicht mehr in Deutschland aufrechterhalten und die derzeit (noch) nicht bzw. nicht mehr bestehenden, dem Grunde nach schützenswerten, aber aktuell in ihrer tatsächlichen Ausprägung nicht schwerwiegenden Beziehungen zu seinem zweiten Kind … und zu seinem dritten Kind … nicht wieder bzw. erstmals aufnehmen. Zudem verlöre er sein dem Grunde nach geschütztes, in seiner Ausprägung durch den Strafvollzug aber aktuell massiv beschränktes Privatleben in Deutschland und müsste sich im Herkunftsstaat seiner Eltern ein neues Leben aufbauen.
(4) Als weitere über die in § 53 Abs. 2 AufenthG nicht abschließende Aufzählung hinaus noch zu berücksichtigenden Belange sind die bislang nicht nachweislich erfolgreich therapierte Aggressivität und der Alkoholmissbrauch des Klägers sowie die Perspektive einer möglichen Therapie im Bundesgebiet und in der Türkei zu gewichten. Insoweit ist der Kläger auf die im Herkunftsstaat vorhandenen breit gefächerten Therapieangebote zu verweisen (vgl. VG Augsburg, U.v. 19.11.2019 – Au 6 K 17.34205 – juris Rn. 78 m.w.N.). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich fremde Staatsangehörige auf den drohenden Abbruch einer Therapie im Bundesgebiet regelmäßig nicht berufen können, denn sie können ein Recht auf Verbleib in dem Hoheitsgebiet des abschiebenden Staats grundsätzlich nicht beanspruchen, um weiterhin in den Genuss einer medizinischen, sozialen oder anderen Versorgung zu gelangen, die der abschiebende Staat während ihres Aufenthalts gewährt hat (vgl. EGMR, E.v. 7.10.2004 – 33743/03 (Dragan u. a./ Deutschland) – NVwZ 2005, S. 1043 ff. juris Rn. 86). Dies gilt auch für den Kläger.
(5) Weitere gewichtige Belange und Interessen sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
cc) In der nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotenen Gesamtabwägung überwiegt das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse.
(1) In die erforderliche Gesamtabwägung sind auf Grundlage der soeben unter bb) behandelten Belangen besonders die Folgen der Aufenthaltsbeendigung für den Kläger und seine Angehörigen einerseits einzustellen.
Gegen eine rechtliche Aufenthaltsbeendigung des Klägers durch die streitgegenständliche Ausweisung und ihren tatsächlichen Vollzug durch seine Abschiebung in die Türkei fallen neben seinem – durch die mehrfach vollzogenen und auch derzeit noch vollzogenen – Haftstrafen deutlich beschränkten Privatleben vor allem die Folgen für seine Verlobte und die Kinder ins Gewicht:
Wie ausgeführt, wird dem Kläger und seiner Verlobten die Möglichkeit genommen, ihre langjährige, aber durch eine anderweitige Ehe des Klägers unterbrochene und nicht wieder stabilisierte Paarbeziehung wieder aufzunehmen und zu festigen. Das Jugendamt teilte mit (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106 f.), die Kindesmutter und der Kläger führten eine „On-Off“-Beziehung; die Kindesmutter wolle mit dem Kläger nach seiner Haftentlassung wieder eine Paarbeziehung führen. Zudem gab die Verlobte als Zeugin an, sie würde es nicht verkraften, schon allein die Vorstellung. Sie sei seit Februar 2019 in psychologischer Behandlung. Sie würden sich dann auch nicht sehen, sie würde nicht in die Türkei fliegen, erstens schon finanziell, zweitens wisse sie nicht so recht, sie kenne die Türkei nicht einmal (Protokoll vom 29.1.2020 S. 13). Gleichwohl sind der Kläger und seine Verlobte erwachsen. Sie kennen einander etwa seit dem Jahr 2009 (Protokoll vom 29.1.2020 S. 3, 10) und wissen um die Stärken und Schwächen des jeweils Anderen. Insbesondere weiß die Verlobte um die strafrechtliche Situation des Klägers, um seine Vorstrafen und seine drohende Ausweisung durch den Beklagten, mithin seine unsichere Aufenthaltsperspektive im Bundesgebiet. Unter diesen Vorzeichen die Paarbeziehung wiederaufnehmen zu wollen, spricht zwar für eine tatsächliche emotionale Bindung der Verlobten an den Kläger, ändert jedoch nichts daran, dass sie schon zuvor – während seinem Haftvollzug und erst recht während seiner anderweitigen Ehe – alleine zurechtkommen musste und zurechtkam. Dazu steht ihr die Familienhilfe zur Seite (Protokoll vom 29.1.2020 S. 12).
Am schwersten wiegen die Folgen für das älteste Kind, das derzeit achteinhalb Jahre alt ist und nach Angaben seiner Mutter einerseits mit dem Kläger eine Familie sein möchte (Protokoll vom 29.1.2020 S. 10 f.), andererseits aber auch weiß, was ihr Papa gemacht habe und weswegen er im Gefängnis sei (ebenda S. 12). Übereinstimmend geben die Kindesmutter und das Jugendamt an, dass … die Aufenthaltsbeendigung als Verlust ihres Vaters verspüren würde:
Aus dem persönlichen Gespräch mit der Tochter zeige sich, dass sie über die Inhaftierung ihres Vaters oft sehr traurig und auch auf ihn wütend sei, weil er einen Polizisten geschlagen habe. Sie vermisse ihn sehr und habe im Sommer mitbekommen gehabt, dass der Vater eventuell im September entlassen werde; als dies nicht der Fall war, sei sie sehr enttäuscht, traurig und wütend gewesen, so das Jugendamt (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106 f.). Wenn der Vater gar nicht mehr nach Hause käme, wäre es ganz schrecklich für sie, da sie ihn schon so lange vermisse. […] Dass der Vater nicht mehr zurückkomme, wolle sie sich gar nicht vorstellen. Sie sei sich sicher, dass er wiederkomme. […] Die Tochter habe eine sehr enge Beziehung zu ihrem Vater und sehne dessen Entlassung herbei. Seit September 2019 sei sie therapeutisch angebunden, um die aktuellen „Herausforderungen“ (Geburt des Bruders, Inhaftierung des Vaters, depressive Verstimmungen der Mutter, Wohnungsbrand) besser zu bewältigen. Schulisch habe sie sich verschlechtert; sie träume sehr viel und wirke abwesend, handele oft impulsiv und sei in ihrer Gefühlswelt sehr schwankend. Nach der Geburt ihres Bruders fühle sie sich häufig traurig und nicht geliebt. Hierüber spreche sie offen mit ihrer Mutter und Großmutter. Ihre Mutter befürchte, dass die Tochter an der Ausweisung ihres Vaters zerbrechen würde (ebenda). Nach Einschätzung der Unterzeichnerin würde die Auslands-Abwesenheit des Klägers für die Tochter wiederholt einen „Verlust“ bedeuten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde die Ausweisung des Vaters die Verlustängste der Tochter weiter negativ verstärken.
Die Kindesmutter gab auf Frage, wie ihre Tochter … damit umgehe, dass ihr Vater in Haft sei, an, … sei sehr niedergeschlagen und auch in psychiatrischer Behandlung. Sie habe auch schon mal nicht mehr leben wollen, sie habe gefragt, wieso sie überhaupt auf der Welt sei, wenn ihr Leben so blöd sei. Anfangs der letzten Inhaftierung sei sie auch sehr aggressiv gewesen. Es habe sich jetzt etwas gebessert, weil sie wisse, dass ihr Papa in diesem Jahr entlassen wird. Auch ihre schulischen Leistungen hätten sich gebessert, nachdem sie total abgesackt sei, sie besuche die Grundschule (Protokoll vom 29.1.2020 S. 12). Auf Frage der Auswirkungen einer Ausweisung und Abschiebung des Klägers gab sie an, … würde ihrer Meinung nach grundlos untergehen, der Papa sei für sie „Prinz/König“, sie sei von Anfang an ein Papa-Kind gewesen (ebenda S. 13).
Letztlich wird die Aufenthaltsbeendigung des Klägers für die Tochter … also zum Verlust ihres geliebten Vaters führen, auf den sie trotz seiner augenfälligen charakterlichen Defizite ihre Zuneigung richtet. Ob der Kläger eines Tages im Wege des Familiennachzugs wird wiedereinreisen können, ist derzeit nicht absehbar und muss daher außer Betracht bleiben. Die Brüder des Klägers als … Onkel werden voraussichtlich nicht die durch die Aufenthaltsbeendigung gerissene Lücke für … schließen, da jetzt schon kaum Kontakt zu ihnen besteht (Protokoll vom 29.1.2020 S. 13).
Die Vater-Kind-Beziehung wird letztlich durch Telefonate und soziale Medien sowie Briefe aufrechterhalten werden müssen, wie dies bereits jetzt während der Haft in eingeschränktem Umfang stattfindet (Protokoll vom 29.1.2020 S. 12). Für eigene Besuche in der Türkei ist … noch zu jung; ihrer Mutter fehlen mindestens die finanziellen Möglichkeiten zu Besuchen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 13). Ob die Mutter oder die Brüder des Klägers diesen in der Türkei besuchen wollen, ist offen; die Möglichkeit dazu haben sie als türkische oder deutsche Staatsangehörige. Möglicherweise kann der Beklagte dem Kläger Betretenserlaubnisse während der – zuletzt auf vier Jahre verkürzten (Protokoll vom 29.1.2020 S. 14) – Einreisesperrfrist erteilen, um so durch gelegentliche Besuche des Klägers im Bundesgebiet die Folgen der räumlichen Trennung von … abzumildern.
Für die Kinder … und … wird die Aufenthaltsbeendigung des Klägers zwar ebenfalls zum Verlust ihres Vaters führen, doch hat der Kläger aktuell zu beiden keinen Kontakt mehr bzw. erst einen sporadischen Besuchskontakt, so dass beide Kinder derzeit faktisch vaterlos aufwachsen und den Verlust nicht als tiefe Veränderung ihres Lebensumfelds spüren werden. Nach nachvollziehbarer Einschätzung des Jugendamts spiele der Kläger derzeit für seinen Sohn … aufgrund dessen Alters und der monatlichen Kontakte eine untergeordnete Rolle. Eine Auslands-Abwesenheit des Klägers wäre für ihn ein „normaler“ Alltag, da er dies nie anders erlebt habe (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106 f.). Auch die Kindesmutter gab an, für … sei der Vater vielleicht schon wichtig, dass er seinen Vater bei sich habe (Protokoll vom 29.1.2020 S. 13).
Soweit der Kläger seinerseits von der räumlichen Trennung betroffen sein wird, da er die Vater-Kind-Beziehung zu … aus der Ferne nur noch eingeschränkt wird aufrechterhalten und zu … und … kaum mehr wird wieder aufnehmen können, wiegt dieser Belang abstrakt zwar schwer, verliert vorliegend aber erheblich an Bedeutung. Dem Kläger ist zwar verbal die Vater-Kind-Beziehung zu … wichtig, er habe Verantwortung für seine Kinder (Protokoll vom 29.1.2020 S. 7). Gleichwohl hat ihn seine Verantwortung für Frau, Verlobte und Kinder nicht von seinen jüngeren Straftaten abgehalten. Zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts ist nicht davon auszugehen, dass ihn die familiären Beziehungen zu seinen Kindern und deren Müttern stabilisieren könnten, ebenso wenig wie es zuvor die Bindung an seine Mutter und seine Brüder vermocht hat (vgl. nur JVA, Führungsbericht vom 13.12.2006, Behördenakte Bl. 389 f.). Eine tatsächlich ernst genommene Verantwortung für seine Kinder hätte bei deren Geburt eine Zäsur in der kriminellen Karriere des Klägers bedeuten müssen, doch sie blieb wirkungslos.
(2) In die erforderliche Gesamtabwägung sind die Folgen der Aufenthaltsbeendigung für die Allgemeinheit andererseits einzustellen.
Der Aufenthalt dieses Ausländers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil der Kläger schwere Straftaten über einen langen Zeitraum begangen hat und eine erhebliche Wiederholungsgefahr bis heute besteht, da nicht absehbar ist, dass bei ihm über die bloße aktive Teilnahme an Therapien und Trainings auch tatsächlich ein so tiefgreifender Einstellungswandel eingetreten ist, dass von ihm keine Straftaten, insbesondere keine einschlägigen Straftaten mehr, zu befürchten sind. Zur Vermeidung von argumentativen Wiederholungen wird auf die o.g. Ausführungen zum Ausweisungsanlass und zur Wiederholungsgefahr verwiesen, aus denen sich das öffentliche Ausweisungsinteresse in seinem vollen Gewicht ergibt:
Das Ausweisungsinteresse begründet sich im Fall des Klägers spezialpräventiv in dem Ziel, durch seine Entfernung aus dem Bundesgebiet weitere Straftaten durch ihn hier auszuschließen und so die Bevölkerung deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit vor weiteren Gefahren durch den Kläger zu schützen. Der Kläger ist wiederholt und auch zuletzt u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung bestraft worden (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.) und hat sich damit schwerer Angriffe auf ein hochrangiges Rechtsgut schuldig gemacht. Die (mehrfache) Begehung von derartigen Körperverletzungen stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/282 Rn. 15) und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
Diese Gefahr besteht akut fort, denn alle staatlichen Maßnahmen zur Einwirkung auf den Kläger, über mehr als ein Vierteljahrhundert hinweg durchgeführte jugendstrafrechtliche, erwachsenenstrafrechtliche oder therapeutische Maßnahmen haben den Kläger letztlich nicht erreichen und einen hinreichend tiefen und glaubwürdigen Einstellungswandel erzielen können (vgl. oben). Neben dem typischen Deliktsmuster des Klägers – anlasslose und brutale vorsätzliche Körperverletzung mit – teils auch ohne – alkoholbedingte Enthemmung – zeigt sich hierin ein weiteres wiederkehrendes Verhaltensmuster: Der Kläger ist bereits zwei Mal inhaftiert gewesen, d.h. der Staat wandte das schärfste strafrechtliche Zuchtmittel gegen ihn an, um ihn zu einer Einstellungsveränderung zu bewegen. Zudem gab er ihm hierzu Hilfestellungen durch anstaltsinterne und externe Therapien und Trainings. Dennoch wurde der Kläger zwei Mal einschlägig rückfällig und verbüßt nun seine dritte Haftstrafe. Es zeigt sich also eine Wiederholung von Straftat, Sanktion, Haftvollzug mit Therapieangeboten, Freilassung, vorübergehendem Wohlverhalten und erneuter Straffälligkeit.
Für das Verwaltungsgericht ist nicht positiv erkennbar, dass sich die innere Einstellung des Klägers mittlerweile geändert und er seine tiefsitzenden erzieherischen und charakterlichen Mängel zwischenzeitlich erfolgreich behoben hätte. Dass der Kläger vor der Inhaftierung seit dem Dezember 2016 freiwillig eine Psychotherapie durchgeführt habe, seine Defizite aufgearbeitet habe und geläutert sei, wie sein Bevollmächtigter geltend macht und der Kläger betont (Protokoll vom 29.1.2020 S. 5), ist für das Verwaltungsgericht in der Gesamtschau von Tat und Täter nicht erkennbar. Der Kläger hatte bereits zuvor einschlägige Behandlungen erhalten und die im Dezember 2016 aufgenommene Psychotherapie hielt ihn nicht von der zuletzt abgeurteilten Straftat im Sommer 2017 ab. Die aktuelle Behandlung in der sozialtherapeutischen Abteilung für Gewalttäter in der JVA … wurde anstaltsseitig vorzeitig beendet. Dass nun ein Anti-Aggression-Training ausreichte, um die Defizite aufzuarbeiten, erkennt das Verwaltungsgericht angesichts der früheren einschlägigen und offenkundig erfolglosen Trainings nicht:
Es ist insbesondere nicht erkennbar, dass der Kläger erstens seine innere Einstellung nachhaltig geändert und zweitens Strategien verinnerlicht hat, wie er künftig weitere Straftaten vermeiden will:
Auf Frage, wie er nach der Haftentlassung verhindern wolle, erneut straffällig zu werden, erklärte der Kläger, er habe viele Fehler gemacht und sei in der Jugend eine einzige Baustelle gewesen. Er habe viele Defizite, aber diese aus eigenem Willen aufgearbeitet. So habe er eine externe Therapie abgeschlossen. 2017 sei er leider stark alkoholisiert gewesen mit 2,9 bis 3,1 Promille, feierbedingt. Er habe daraufhin eine externe Therapie schon vor der Haft begonnen, als er noch 15 Monate auf freien Fuß gewesen sei. Er habe sich zum Haftantritt freiwillig gestellt und sei entschlossen, die Zeit in der JVA sinnvoll zu nutzen. Er habe eine Sozialtherapie gemacht (Protokoll vom 29.1.2020 S. 6).
Der Kläger hat aber keine Erklärung gegeben, wieso er nun erwarte, dass die nach der letzten Straftat begonnene Therapie Erfolg haben sollte, wenn die unmittelbar zuvor abgeschlossene offensichtlich erfolglos war. Er hat auch keine Erklärung für seine erschreckende Alkoholgewöhnung, geschweige denn Strategien zur Vermeidung solcher Alkoholisierungen:
Auf gerichtliche Nachfrage, warum eine Begehung ähnlicher Taten wie zuvor nach einer künftigen Haftentlassung ausgeschlossen sein soll, insbesondere Taten vergleichbarer Brutalität, führte der Kläger aus, die eine Tat aus dem Jahr 2002 liege lange zurück, 2017 sei die Tat ein Missgeschick gewesen. Er sei 37 Jahre alt, damals sei er noch ein Jugendlicher gewesen, er habe Verantwortung für seine Kinder (Protokoll vom 29.1.2020 S. 7).
Das reicht zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts bei weitem nicht, um die Gefahr solcher Straftaten künftig auszuschließen: Die Tat aus dem Jahr 2017 als „Missgeschick“ zu bagatellisieren, wird seinem Verantwortungsbeitrag hierfür nicht gerecht. Dass er Verantwortung für seine Kinder habe, war seit der Geburt seiner Tochter … im Jahr 2011 bereits der Fall, erst recht nach der Geburt seines Sohnes … im Jahr 2016. Dennoch wurde der Kläger erneut brutal rückfällig.
Dass der mit solchen Erziehungsdefiziten belastete Kläger seiner Tochter ein besseres Beispiel geben oder gar ein verantwortungsvolles Vorbild sein kann und ihn dies von künftigen Taten abhielte, konnte das Verwaltungsgericht nicht zu seiner Überzeugung feststellen.
Auf Frage, wie der Kläger seiner Tochter ein erzieherisches Vorbild sein wolle, erklärte er, keine Straftaten mehr begehen zu wollen, arbeiten zu wollen und ein gutes Leben vorleben zu wollen. Auf Nachfrage erklärt er, seine Tochter wisse, dass sein bisheriges Verhalten falsch gewesen sei. Er werde dafür sorgen, dass sie ein anständiges Mädchen bleibe, gute Leistungen in der Schule bringe, auf die Realschule gehe und er wolle sie bei allem wichtigen unterstützen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 8).
Letztlich hat der Kläger in seiner Einlassung nicht mehr als Allgemeinplätze aus dem sozialtherapeutischen Wortschatz zu bieten, aber keine konkrete und nachvollziehbare Strategie, wie er eine eigene Rückfälligkeit, insbesondere Situationen wie jene der früheren Taten, künftig vermeiden will. Dass ausgerechnet er dafür sorgen werde, dass sie „ein anständiges Mädchen bleibe“, ohne zu verstehen, warum dies seinen Eltern bei ihm nicht gelungen sei, erscheint ebenfalls eher ein Wunschdenken, zumal er bei … dem Jugendamt zu Folge sehr verwöhnend und weniger Grenzen setzend agiere; diesbezüglich habe es immer wieder Vermittlungs- und Klärungsbedarf zwischen den Eltern gegeben (Stellungnahme vom 21.1.2020, VG-Akte Bl. 106 f.).
Dass auch die Haftanstalt für den Kläger keine positive Sozialprognose abgegeben hat, vermutlich den Ausgang der dritten Disziplinarmaßnahme und des anhängigen Strafverfahrens wie auch den Abschluss des Anti-Gewalt-Trainings abwarten will, rundet für das Verwaltungsgericht das Bild eines schwerkriminellen, seit rund 20 Jahren immer wieder einschlägig rückfälligen und für alle erzieherischen und therapeutischen Maßnahmen letztlich unzugänglichen Straftäters ab. Das Lebensmuster des Klägers besteht aus Straftat, folgender Sanktion, erneuter Straftat, Sanktionsvollzug mit Therapie, Haftentlassung, vorübergehendem Wohlverhalten, einschlägige Wiederholungstat, Sanktion usw. Da alle staatlichen Maßnahmen bisher erfolglos geblieben sind und auch ein Erfolg der aktuellen Maßnahmen (Haft mit Therapien usw.) völlig offen ist, letztlich das strafrechtliche Instrumentarium zur Einwirkung auf den Kläger erschöpft ist, bleibt nur die Beendigung seines Aufenthalts, um sicherzugehen, dass von ihm in nächster Zeit nach der Haftentlassung keine weiteren Straftaten mehr begangen werden.
(3) In der Gesamtabwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das private Interesse des Klägers und seiner Familie an seinem Verbleib im Bundesgebiet.
Für ein Verbleibeinteresse sind außer den o.g. Belangen des Klägers vor allem die familiären Folgen der Aufenthaltsbeendigung zu gewichten. Sie wird die Verlobte des Klägers und vor allem seine Tochter erheblich treffen und weiter destabilisieren. Beide klammern sich an die Erwartung der Haftentlassung des Klägers im Sommer 2020 und seiner Rückkehr zu ihnen. Beide sind schon mit der jetzigen Situation überfordert und nehmen jeweils selbst familienpädagogische und therapeutische Hilfe in Anspruch.
Für das Ausweisungsinteresse fallen allerdings die Folgen für die Allgemeinheit ins Gewicht. Der Kläger hat weit über zwanzig Menschen körperlich angegriffen und teils schwer, 2002 und 2017 sogar menschenverachtend brutal verletzt. Durch die bisherigen erzieherischen Maßnahmen, strafvollzuglichen und therapeutischen Angebote und Trainings ist der Kläger nicht nachhaltig geläutert worden. Da bisher alle staatlichen Maßnahmen erfolglos geblieben sind und der Kläger wiederholt rückfällig geworden ist, besteht die konkrete Gefahr einer erneuten Straffälligkeit (vgl. oben). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht erkennbar, dass diese Gefahr auf ein erträgliches Maß gemindert wäre, denn der Kläger hat zuvor schon nach vermeintlichen therapeutischen Erfolgen im Strafvollzug (vgl. JVA, Führungsbericht vom 11.11.2008: seit August 2006 im regelmäßigen Kontakt mit der anstaltsinternen Alkoholberatung, im Mai, Juni und Juli 2008 an Gruppensitzungen des sozialen Kompetenztrainings teilgenommen, seit 21.10.2008 Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training, zur Bearbeitung seiner Gewalttätigkeit seit dem 29.5.2008 Einzelpsychotherapie bei einem externen Therapeuten, Behördenakte Bl. 584 f.) und einer Phase des Wohlverhaltens sich danach umso brutaler gebärdet (vgl. nur AG, U.v. 21.7.2011 – … – Behördenakte Bl. 794 ff.; AG, U.v. 4.8.2011 – … – Behördenakte Bl. 804 ff.).
Die darauf verhängte Haftstrafe wurde teilweise vollstreckt und der Kläger am 6. Dezember 2013 auf Bewährung aus der Haft entlassen; in der Haft hatte er sich unauffällig und fleißig gezeigt, wenn auch ohne Strafeindruck, er habe aber hinsichtlich der Aggressionsproblematik an einem Training zur Gewaltprävention teilgenommen (vgl. JVA, Führungsbericht vom 31.7.2013, Behördenakte Bl. 1234 f.). Einer Phase von rund dreieinhalb Jahren Wohlverhalten folgte dann erneut der den Ausweisungsanlass bildende Rückfall in frühere überwunden geglaubte Deliktsmuster (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.).
Es ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht hinreichend sicher, dass der Kläger dieses Mal durch den Haftvollzug überhaupt beeindruckt und durch die therapeutischen Angebote innerlich geläutert wäre. Die Einlassungen und der persönliche Eindruck des Klägers sprechen nicht dafür. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass der Kläger sich nur oberflächlich mit seinen Straftaten, ihren Ursachen und ihren Folgen auseinandergesetzt hat und noch nicht über praktikable Strategien verfügt, einen Rückfall in frühere Deliktsmuster zu verhindern.
Angesprochen auf seine letzte Straftaten im Juni 2017 schien ihn zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts mehr zu beschäftigen, dass ihm keine geminderte oder gar fehlende Schuldfähigkeit wegen seiner Alkoholisierung zugestanden worden ist, als die Tatsache, dass und wie er als angeblich alkoholabstinenter Mann eine Alkoholisierung von 2,9 bis 3,1 Promille erreichen und überleben konnte (Protokoll vom 29.1.2020 S. 6, 7). Er meint zu Unrecht, dann könnte er nicht ausgewiesen werden. Er übersieht dabei, dass das Strafgericht von der Milderungsmöglichkeit nach § 21 StGB nur keinen Gebrauch gemacht hat, da der Kläger wisse, dass er unter Alkoholeinfluss straffällig werde; ihm mithin die Verantwortung für seine Alkoholisierung als wesentlichen Tatumstand vorhielt.
Ebenso auffallend war, dass er der Ausländerbehörde die Verantwortung zuschiebt dafür, dass er nicht zur Geburt seines dritten Kindes hätte ausgeführt werden können (Protokoll vom 29.1.2020 S. 6), dabei aber völlig verdrängt, dass allein er für die haftbedingte Trennung von Mutter und Kind durch seine vorangegangene Straftat verantwortlich ist.
Dass er schließlich keine Erklärung für seine auch zuletzt wieder gezeigte Brutalität gegenüber seinen Opfern hat, sondern ausführt, die eine Tat aus dem Jahr 2002 liege lange zurück, 2017 sei die Tat ein Missgeschick gewesen; er sei 37 Jahre alt, damals sei er noch ein Jugendlicher gewesen (Protokoll vom 29.1.2020 S. 7), unterstreicht den Eindruck fehlender Aufarbeitung seiner Delinquenz: Im Jahr 2002 war der Kläger bereits deutlich volljährig und beging in rascher Folge seit dem Jahr 1999 mehrere Körperverletzungen, wobei er seine Opfer in einer menschenverachtenden Geste u.a. mehrfach ins Gesicht getreten hat (AG, U.v. 8.10.2002 – … – Behördenakte Bl. 213 ff.: als das Opfer am Boden lag, dieses mit den beschuhten Füßen gegen den Oberkörper und ins Gesicht getreten; AG, U.v. 16.1.2006 – … u.a. – Behördenakte Bl. 344 ff.: trat der Kläger mit dem Fuß gegen die Brust des am Boden liegenden Opfers, stieg mit dem linken Fuß auf dessen Gesicht, blieb darauf stehen und zertrat dem Opfer das Nasenbein). Und zur Tat aus dem Juni 2017 führte ein Polizeibeamter als Opfer der Aggressivität des Klägers aus, dass ihm ein solch massives und menschenverachtendes Verhalten wie jenes des Klägers noch nicht begegnet sei (AG, U.v. 16.2.2018 – … – Behördenakte Bl. 1391 ff.).
Mit Blick darauf, dass den über zwanzig Opfern des Klägers weitere folgen könnten, würde er nach seiner Haftentlassung wie zuvor rückfällig, überwiegt das Ausweisungsinteresse das Verbleibeinteresse des Klägers und seiner Familie. Das Verwaltungsgericht ist sich bewusst, dass die Ausweisung der Familie des Klägers für mindestens vier Jahre den Partner und Vater nimmt. Doch die Verantwortung für diese belastende Situation trägt allein der Kläger, niemand sonst. Zu den Opfern seiner bisherigen Straftaten kommen seine Verlobte und seine Kinder als Betroffene hinzu, denn durch seine wiederholte Straffälligkeit und Unerreichbarkeit für die bereits abgeschlossenen mehrfachen Therapien und Trainings und den als letzte strafrechtliche Sanktion verbleibenden erneuten Haftvollzug hat ihnen der Kläger selbst für längere Zeiträume den Partner und Vater genommen. Auch die Ursache seiner jetzt verhängten Ausweisung mit einer befristeten, aber nicht durch Besuche in ihren Folgen abmilderbaren Trennung hat allein er gesetzt.
Abgesehen von der persönlichen Bindung führt die Verlobte des Klägers wegen seiner mehrfachen längeren Abwesenheiten ein eigenständiges Leben; die gemeinsamen Kinder haben bei ihr den Lebensmittelpunkt. Wirtschaftlich sind sie auf Sozialleistungen angewiesen, da der derzeit und noch länger inhaftierte Kläger selbst keine Fürsorge oder Unterstützung für von ihm abhängige Angehörige leistet – nicht einmal Unterhaltszahlungen an seine Kinder – und als erwachsener Mann umgekehrt grundsätzlich nicht mehr auf eine lediglich im Bundesgebiet leistbare Fürsorge und Unterstützung angewiesen ist. Das Kind … ist wirtschaftlich dank der sozialen Leistungen des Jugendamts nicht auf den Kläger angewiesen; persönliche und wirtschaftliche Erziehungsbeiträge hat er bisher schon auf Grund seiner in die Zeit vor der Geburt dieses Kindes zurückreichenden Inhaftierung nicht geleistet und kann er auf absehbare Zeit auch wenig leisten. Seine Vaterschaft ist derzeit hier nur rechtlicher und biologischer, aber nicht sozialer Natur. Erst recht gilt dies im Blick auf seine frühere Ehefrau und das Kind …; nennenswerte persönliche und wirtschaftliche Erziehungsbeiträge hat er bisher nicht geleistet und kann er auf Grund seiner unausgereiften und problematischen Persönlichkeitsstruktur, die vor massiven Bedrohungen der Kindesmutter nicht zurückschreckte, gegenwärtig wohl auch wenig leisten. Seine Vaterschaft ist auch hier derzeit nur rechtlicher und biologischer, aber nicht sozialer Natur.
d) Die Ausweisung erweist sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
Nach Völkerrecht ist ein Staat berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Staatsgebiet und ihren Aufenthalt zu regeln. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert keinem Ausländer das Recht, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die Mitgliedstaaten sind befugt, in Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, einen Ausländer auszuweisen, der wegen Straftaten verurteilt worden ist. Soweit Entscheidungen in diesem Bereich in die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte eingreifen können, müssen sie gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig sein (EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 33).
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, die Kenntnis des Ehe- oder Lebenspartners von der Straftat bei Beginn der Beziehung, die Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die der Ehe- oder Lebenspartner und die Kinder wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll, das Kindeswohl und die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 36).
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Schutz des Privat- und Familienlebens des Klägers aus Art. 8 EMRK der Ausweisung als Eingriff in dieses Grundrecht nicht entgegensteht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die obige Abwägung verwiesen (vgl. oben zu § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG), denn auch bei einem sog. faktischen Inländer, bei dem von einem besonders geschützten Familien- und Privatleben auszugehen ist (BVerwG, U.v. 23.10.2007 – 1 C 10/07 – BVerwGE 129, 367), ist eine Ausweisung nicht schlechthin unmöglich. Der Schutz des Privat- und Familienlebens als Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Ausländern und der Gesellschaft, in der sie leben (so EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 34), fordert lediglich, dass die Ausweisung nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf und die besondere Situation eines Ausländers, der sich – wie hier – seit seiner Geburt oder seit frühem Kindesalter im Bundesgebiet aufhält, Berücksichtigung finden muss (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.). Dies ist hier erfolgt.
Angesichts der greifbaren Gefahr weiterer erheblicher Straftaten durch den persönlichkeitsproblematischen, mehrfach einschlägig straffälligen, rückfälligen und bis heute nicht nachweislich mit Erfolg therapierten Kläger ist deshalb der Umstand, dass er in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist und hier sein bisheriges Leben verbracht sowie eine Verlobte und drei Kinder hat, nicht so gewichtig, dass dies unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls der angefochtenen Ausweisungsentscheidung entgegenstehen könnte (zur Wertung BayVGH, B.v. 7.1.2013 – 10 ZB 12.2311 – juris Rn. 6). Seine Ausweisung ist vielmehr nach §§ 53 ff. AufenthG gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig, weil ein milderes erfolgversprechendes Mittel nicht mehr existiert, die umgebende Gesellschaft vor dem sie seit Jahrzehnten und bis heute gefährdenden Kläger wirksam zu schützen. Vielfache strafgerichtliche Verurteilungen, sich steigernd von Geldstrafen über Haftstrafen zunächst mit Bewährungsaussetzung und später mit Haftvollzug sowie therapeutische Angebote wie auch ausländerrechtliche Verwarnungen und die erste, gegen ihn bereits im Jahr 2008 versuchte Ausweisung vermochten nicht, den Kläger zu einem verantwortungsvollen und straffreien Leben zu bewegen. Auch die Geburt zweier seiner Kinder, die zweijährige Ehe mit einer Kindesmutter und die langjährige Beziehung zur anderen Kindesmutter vermochten kein Verantwortungsgefühl in ihm zu wecken, straffrei zu bleiben, um seinen Kindern die Erfahrung eines länger inhaftierten Vaters und das dadurch ausgelöste Verlustgefühl zu ersparen. Alle drei Kinder leben bei ihren jeweiligen Müttern, die alleine oder nur gemeinsam mit dem Kläger das Sorgerecht für die Kinder haben (vgl. oben), so dass die jeweilige Kindesmutter im Leben der Kinder die zentrale Rolle spielt (als Kriterium bei EGMR, U.v. 20.12.2018 – 18706/16 – NVwZ 2019, 1425/1426 Rn. 49).
Umgekehrt ist es den Kindern des Klägers und ihren Müttern nicht unmöglich, den Kläger nach einer Abschiebung in der Türkei zu besuchen und sie können den Kontakt auch durch moderne Kommunikationsmittel aufrecht erhalten (als Kriterium bei EGMR, U.v. 20.12.2018 – 18706/16 – NVwZ 2019, 1425/1426 Rn. 49). Zudem kann der Beklagte dem Kläger kurze Familienbesuche im Bundesgebiet durch Betretenserlaubnisse ermöglichen.
e) Als Inhaber einer Niederlassungserlaubnis ist der Kläger als langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger nach Art. 2 Buchst. b), Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) und Art. 12 RL 2003/109/EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 – Daueraufenthaltsrichtlinie) zwar geschützt, doch rechtfertigen die o.g. Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung selbst dann die Aufenthaltsbeendigung (zur Ausfüllung des unten geprüften Bezugsrahmens des Art. 14 ARB 1/80 durch Art. 12 RL 2003/109/EG vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – Rn. 52 m.w.N.). Ebenso widerspricht die Ausweisung nicht Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (ENA), wonach Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur ausgewiesen werden dürfen, wenn diese Gründe besonders schwerwiegend sind. Dies ist hier der Fall.
f) Der Ausweisung des Klägers steht auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen.
Es ist davon auszugehen, dass der Kläger – wenn nicht nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch seine Ausbildungszeit als Maurergeselle – jedenfalls nach Art. 7 ARB 1/80 vermittelt durch seinen Vater eine Assoziationsberechtigung erlangt hat. Zum Stand der (letzten) mündlichen Verhandlung überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung sein privates Bleibeinteresse aber erheblich, da die vom Kläger ausgehende Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden In- und Ausländer ein hochrangiges Rechtsgut betrifft und ihre wiederholte massive Verletzung durch den Kläger ein unionsrechtlich anerkanntes Grundinteresse am Schutz der Bevölkerung berührt (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 19). Die Ausweisung ist unerlässlich, da alle staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Kläger wirkungslos geblieben sind (vgl. die Ausführungen zu § 53 AufenthG und zu Art. 8 EMRK).
2. Die in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids verfügte Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit – in der mündlichen Verhandlung auf vier statt der ursprünglich fünf Jahre verkürzten – Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Abschiebung bzw. der nachgewiesenen Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
Dass nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG n.F. (Art. 1 Nr. 4, Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.8.2019, BGBl. I S. 1294) ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden muss, macht den angegriffenen Bescheid nicht fehlerhaft, da nach der im Zeitpunkt des Bescheidserlasses geltenden Rechtslage in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F. regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots liegt (BayVGH, B.v. 11.9.2019 – 10 C 18.1821 – juris Rn. 13 m.w.N. auf BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72; BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 13.17 – juris Rn. 23). Daran ist hier festzuhalten.
Die Befristungsdauer steht nach § 11 Abs. 3 AufenthG n.F. im Ermessen der Ausländerbehörde (zur Vorgängerregelung BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.).
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG überschreiten, insbesondere wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von max. zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG n.F. zehn Jahre nicht überschreiten soll. Da der Beklagte in seiner Befristung unterhalb der Grenze von fünf Jahren geblieben ist, liegen die genannten Ausnahmen hier nicht vor.
Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 66), um die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid des Beklagten festgesetzte und nochmals verkürzte Frist nicht zu lang und daher rechtmäßig. Sie schöpft nicht einmal mehr den in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG enthaltenen Rahmen von bis zu fünf Jahren für Regelfälle aus, obwohl der Kläger durch seine langjährigen wiederholten einschlägigen Straftaten und die große Zahl an einzelnen Opfern strafrechtlich außergewöhnlich auffällig geworden ist. Der Beklagte konnte mit Blick auf die in der mündlichen Verhandlung vertieft behandelten familiären Belange des Klägers seine Ermessensentscheidung abändern und im Übrigen aufrechterhalten; durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht:
Der Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG darauf, dass der im Bundesgebiet geborene und langjährig aufhältige Kläger zwar über besonders schützenswerte familiäre oder persönliche Bindungen zu in der Bundesrepublik aufenthaltsberechtigten Personen verfügt, andererseits aber auch langjährig Straftaten begangen und sich überwiegend von Sozialhilfe lebend keine dauerhafte wirtschaftliche Existenz aufgebaut hat. Daher sei in der Gesamtabwägung eine Einreisesperre im unteren Bereich des § 11 AufenthG im Rahmen von null bis fünf Jahren gerechtfertigt. Hiergegen ist nichts zu erinnern.
3. Die Abschiebungsanordnung ist nach § 58 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wegen seiner Inhaftierung wie die hilfsweise Abschiebungsandrohung nicht zu beanstanden. Abschiebungshindernisse, die nach § 59 Abs. 3 AufenthG zwar nicht ihrer Androhung, aber ihrer Vollstreckung entgegenstünden und zu einer Duldung führen könnten, sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen worden.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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