Verwaltungsrecht

Aufenthaltsverbot, Aufhebung, Verwaltungsgerichte, Ausweisungsverfügung, Haftentlassung, Strafvollstreckungskammer, Prognose der Wiederholungsgefahr, Einreise, Bewährungszeit, Rechtsmittelbelehrung, Aufenthaltsbeendigung, Regierungspräsidium, Ausreisefrist, Sozialprognose, Sach- und Rechtslage, Türkische Staatsangehörige, Gefahrenprognose, Ausweisungsverfahren, Straffreiheit, Schutzwürdige Belange

Aktenzeichen  Au 1 K 19.2082

Datum:
26.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 43347
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVwVfG Art. 51
AufenthG §§ 53 ff
AufenthG § 11 Abs. 4

 

Leitsatz

Gründe

I. Gegenstand der Klage ist der Anspruch des Klägers auf Aufhebung der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums … vom 8. Januar 2014 im Wege einer Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens sowie hilfsweise die Verkürzung des mit der Ausweisung verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
II. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung oder Verkürzung der Befristung des mit der Ausweisung verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
1. Der Kläger kann ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der bestandskräf tigen Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums … vom 8. Januar 2014 nach Art. 51 BayVwVfG nicht beanspruchen.
a) Er macht im vorliegenden Verfahren im Wesentlichen geltend, dass die im Rahmen der Ausweisung anzustellende Gefahrenprognose aufgrund seines nach Eintritt der Bestandskraft gezeigten Verhaltens nunmehr anders zu treffen wäre. Eine gegenwärtige schwere Gefährdung ginge von ihm nicht mehr aus. Damit seien die strengen Voraussetzungen entfallen, welche nach dem ARB 1/80 an die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu stellen seien.
Mit diesem Vorbringen weist er ausschließlich auf Umstände hin, die bei der Ausweisungsentscheidung nicht berücksichtigt werden konnten, da sie erst später entstanden sind. Nach Bestandskraft der Ausweisung eingetretene und für den Fortbestand des Ausweisungszwecks relevante Sachverhaltsänderungen rechtfertigen jedoch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens nach Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG nicht (OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 12.7.2017 – OVG 11 B 9.16 – juris Rn. 15). Solchen Sachverhaltsänderungen trägt das Aufenthaltsgesetz dadurch Rechnung, dass es in dem durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I. S. 1386) neu eingefügten § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ausdrücklich vorsieht, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist nach Abs. 2 verkürzt werden kann. Der Begründung des Gesetzesentwurfs ist zu entnehmen, dass durch den neuen § 11 Abs. 4 AufenthG eine spezielle Rechtsgrundlage zur nachträglichen Verlängerung oder Verkürzung der Frist sowie zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geschaffen werden soll. Dabei weist der Gesetzgeber ausdrücklich darauf hin, dass „für Änderungen der Frist der Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder überflüssig und das Verfahren für die Behörden vereinfacht“ werden soll (BT-Drucksache 18/4092, S. 36). Weiter wird in der Begründung des Gesetzentwurfes ausgeführt, dass eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insbesondere angezeigt sei, soweit die general- bzw. spezialpräventiven Gründe für die Sperrwirkung es nicht mehr erfordern. Soweit somit dem Vorbringen des Klägers gefolgt würde, wonach die spezialpräventiven Gründe für die Ausweisung nachträglich entfallen seien, enthält § 11 Abs. 4 AufenthG eine die Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG verdrängende Spezialregelung. Sie ermöglicht die Beseitigung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und damit in den Rechtswirkungen eine Aufhebung der Ausweisung ex nunc.
b) Angesichts dieser Gesetzeslage verbleibt ein Anwendungsbereich des Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG allenfalls bei nachträglichen Änderungen der Sach- und Rechtslage, welche die Rechtmäßigkeit der Ausweisung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde bzw. der Entscheidung des Tatsachengerichts betreffen und eine Aufhebung ex tunc notwendig machen könnten. Dies macht der Kläger nicht geltend und eine Änderung der Sach- und Rechtslage ist auch im Übrigen nicht ersichtlich. Das Regierungspräsidium * hat mit Bescheid vom 8. Januar 2014 den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Es hat dabei im Rahmen einer Ermessensentscheidung die öffentlichen Belange mit den privaten Interessen des Klägers abgewogen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegt. Im Hinblick auf die Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten hat es dabei an die Prognose der Wiederholungsgefahr nicht allzu hohe Anforderungen gestellt und darauf hingewiesen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Integration des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland konnte es nicht feststellen. Weder an der Schwere der begangenen Straftaten, die Anlass der Ausweisungsentscheidung waren, noch der damaligen Annahme einer fehlenden nachhaltigen Integration des Klägers hat sich durch die Verbüßung der Strafhaft und die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aufgrund einer positiven Sozialprognose nachträglich etwas geändert. Selbst bei Annahme eines straffreien Verhaltens in der Haft und in dem kurzen Zeitraum seit der Haftentlassung – was der Beklagte allerdings infrage stellt – ist nicht ersichtlich, dass die Ermessensentscheidung des Regierungspräsidiums * nachträglich fehlerhaft geworden sein könnte. Auch eine für den Kläger günstigere Rechtslage ist nicht ersichtlich, da das Regierungspräsidium * die Rechtsstellung des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 berücksichtigt und deshalb nach pflichtgemäßem Ermessen über die Ausweisung entschieden hat.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG aufhebt oder die Frist verkürzt. Gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Nach § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG ist bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Es im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass der Kläger zur Wahrung seiner schutzwürdigen Belange die Aufhebung oder Verkürzung der Frist beanspruchen kann. Daneben sind auch die spezialpräventiven Gründe, welche der Ausweisung zugrunde liegen, nicht entfallen.
a) An der schutzwürdigen familiären Situation des Klägers hat sich seit der Befris tungsentscheidung des Regierungspräsidiums * nichts geändert. Der Kläger hat nach wie vor weder Ehefrau noch minderjährige Kinder in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bindungen an die in Deutschland lebenden Eltern und Geschwister, welche der Kläger ausweislich seines Vorbringens nach seiner Haftentlassung wieder intensiver pflegt, sind rechtlich nicht von einem derartigen Gewicht, dass eine Verkürzung der Frist zwingend erscheint. Der Schutz des Art. 6 GG umfasst in erster Linie die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen einer Begegnungsgemeinschaft zwischen erwachsenen Kindern und Eltern sowie Geschwistern sind weitaus geringer und wurden bereits bei der Festlegung der streitgegenständlichen Einreise- und Aufenthaltsfrist auf sechs Jahre berücksichtigt. Soweit der Kläger auf seine Erkrankung an paranoider Schizophrenie sowie das Fehlen von Krankenversicherungsschutz in seinem Heimatland verweist, wurde die Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung dieser Erkrankung durch eine Rückkehr in die Türkei bereits im Asylverfahren geprüft und verneint. An diese Entscheidung ist die Ausländerbehörde gebunden (§ 42 Satz 1 AsylG).
b) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass spezialpräventive Gründe eine Ausreise des Klägers nicht mehr erfordern. Der Kläger weist darauf hin, dass ihm seitens der Strafvollstreckungskammer sowie der Bewährungshilfe eine positive Sozialprognose gestellt worden sei und er während der Haft positive Ansätze bei dem Erwerb des Hauptschulabschlusses sowie beim Abschluss des Schweißerlehrganges gezeigt habe.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 11) kommt einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016, Az. 2 BvR 1943/16, juris Rn. 21).
Hier ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und die Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Ausweisung und der Festsetzung der Einreise- und Aufenthaltsfrist um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BayVGH, a.a.O., Rn. 11 m.w.N.).
Das Landgericht … hat in seinem Beschluss vom 8. April 2018 zwar ausgeführt, dass sich aus der Erkrankung des Klägers an paranoider Schizophrenie keinerlei Risiko einer erneuten Straffälligkeit ergebe. Auch angesichts der Persönlichkeitsstruktur sei das Rückfallrisiko als sehr gering einzustufen, da es sich bei ihm nicht um einen kriminellen Menschen handle. Allerdings ist bisher weder die in dem Beschluss geäußerte Erwartung eines Zusammenlebens mit der Freundin noch einer Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach entsprechender Gestattung durch die Ausländerbehörde eingetreten. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Angesichts der besonderen Schwere der Straftaten und der sich aus diesen ergebenden kriminellen Energie des Klägers kann allein einem positiven Verlauf der Strafhaft und einer Aussetzung des Vollzugs nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftzeit keine maßgebliche Bedeutung zugemessen werden. Die Nachholung eines Schulabschlusses und Absolvierung eines Lehrgangs während der Haft sind durchaus Umstände, auf die ein straffreies Leben in der Zukunft aufgebaut werden kann. Allerdings hat sich der Kläger noch nicht über einen längeren Zeitraum bewährt und bewiesen, dass die Erwartung eines künftig straffreien Lebens gerechtfertigt ist. Deshalb führt allein eine schulische und berufliche Qualifizierung sowie ein straffreier Zeitraum von zwei Jahren in Freiheit unter strengen Bewährungsauflagen ausländerrechtlich nicht zu einer für den Kläger positiven Gefahrenprognose und einem Entfallen der spezialpräventiven Gründe.
c) Das Landratsamt hat sein Ermessen im Rahmen des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auch fehlerfrei ausgeübt. Insbesondere kann nicht beanstandet werden, dass es dem Umstand, dass der vollziehbar ausreisepflichtige Kläger bisher nicht ausgereist ist, erhebliches Gewicht beimaß. In § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG kommt zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber als wichtigen abwägungserheblichen Belang bei der Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots den Umstand betrachtet, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist. In diesem Zusammenhang weisen die Vertreter des Beklagten darauf hin, dass am 27. September 2019 ein Linienflug in die Türkei für den Kläger gebucht war, er sich jedoch der Abschiebung entzogen hat. Mit dem damals vorhandenen Nüfus wäre ihm auch eine freiwillige Ausreise möglich gewesen. Es ist nicht zu beanstanden, dass vor dem Hintergrund dieses Verhaltens des Klägers eine Verkürzung oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots noch vor seiner Ausreise im Rahmen des Ermessens abgelehnt wurde.
III. Die Kostenentscheidung basiert auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterliegender Teil hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat seine Grundlage in § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.


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