Verwaltungsrecht

Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG 1992 bei einem außerhalb des Verfolgerstaats geborenen Stammberechtigten.

Aktenzeichen  4 L 85/21

Datum:
15.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 4. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2022:0215.4L85.21.00
Normen:
§ 26 Abs 3 S 1 Nr 2 AsylVfG 1992
§ 26 Abs 5 S 1 AsylVfG 1992
§ 26 Abs 5 S 2 AsylVfG 1992
Art 2 Buchst j EUV 95/2011
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Für eine Anwendbarkeit des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG (juris: AsylVfG 1992) muss das stammberechtigte Kind gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG (juris: AsylVfG 1992) bereits im Verfolgerstaat geboren sein.(Rn.28)


2. Es reicht nicht aus, dass das in Deutschland geborene stammberechtigte Kind in eine Familie hineingeboren wird, die bereits im Verfolgerstaat bestanden hatte.(Rn.28)
2. Eine in Somalia vor einer geistlich bewanderten Person wie einem Sheikh im Juni 2006 geschlossene Ehe ist selbst ohne Registrierung als wirksame Ehe anzusehen.(Rn.47)

Verfahrensgang

vorgehend VG Halle (Saale), 10. Februar 2021, 4 A 28/20 HAL, Urteil

Tenor

Die Berufung der Kläger wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihres Asylfolgeantrags.
Die Kläger zu 1. (geb. am … 1987) und zu 2. (geb. am … 1984) sind die Eltern der 2010 und 2011 in Italien geborenen Kläger zu 3. und zu 4. Nach eigenen Angaben haben sie im … 2006 in Somalia geheiratet und sind im Jahr 2008 (Kläger zu 1.) bzw. 2009 (Klägerin zu 2.) in Italien angekommen und am 5. Juni 2012 in das Gebiet der Beklagten eingereist. Die Kläger zu 1. und 2. sind zudem die Eltern ihrer 2013 im Bundesgebiet geborenen Tochter S.. sowie eines weiteren Kindes.
Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Asylanträge der Kläger abgelehnt hatte, verpflichtete das Verwaltungsgericht Magdeburg mit auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2017 ergangenem Urteil (- 5 A 92/14 MD -) unter teilweiser Einstellung des Klageverfahrens und Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte, der Tochter S. der Kläger zu 1. und zu 2. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und hinsichtlich aller Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen. Das Urteil wurde am 1. November 2017 rechtskräftig.
Die Kläger beantragten beim Bundesamt zunächst die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 3 AsylG. Mit Bescheid vom 18. November 2017 stellte das Bundesamt fest, dass in dem Asylverfahren der Kläger das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Somalia vorliege. Auf eine Mitteilung des Bundesamtes, dass Asylanträge (Folgeanträge) notwendig seien, stellten die Kläger am 6. Dezember 2017 einen Asylfolgeantrag. Sie gaben in der schriftlichen Begründung an, sich seit dem Erstverfahren nicht mehr im Heimatland aufgehalten zu haben und dass sie für den Antrag keine neuen Gründe nennen könnten, die nach Abschluss des Erstverfahrens entstanden seien.
Mit Bescheid vom 11. Dezember 2017 lehnte das Bundesamt den Folgeantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, ein weiteres Asylverfahren sei mangels Vorliegens von Wiederaufgreifensgründen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht durchzuführen. Soweit die Kläger Familienschutz nach § 26 AsylG wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für ihre Tochter bzw. Schwester S. begehrten, liege keine geänderte Sach- oder Rechtslage vor, weil die Familie nicht im Heimatland bestanden habe.
Die Kläger haben am 29. Dezember 2017 bei dem Verwaltungsgericht Halle Klage erhoben. Sie haben vorgetragen, es bestehe ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 3 AsylG. Die Kernfamilie, bestehend aus den Klägern zu 1. und zu 2., habe bereits in Somalia bestanden.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 10. Februar 2021 abgewiesen.
Der ausdrücklich auf die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 11. Dezember 2017 lautende Klageantrag sei sachgerecht nach § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass die Kläger allein die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 11. Dezember 2017 begehrten, da ein „Durchentscheiden“ des Verwaltungsgerichts bei einer nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung nicht möglich sei. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71 Abs. 1 AsylG für die Ablehnung des Asylantrags der Kläger als unzulässig seien gegeben. Es handele sich bei ihrem Antrag vom 6. Dezember 2017 um einen Folgeantrag, für den Wiederaufgreifensgründe i.S.d. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorlägen. Denn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 (hinsichtlich der Kläger zu 3. und 4. i.V.m. Satz 2) i.V.m. Abs. 5 AsylG seien nicht gegeben. Die Eltern-Kind-Verbindung bzw. die geschwisterliche Verbindung müsse bereits im Verfolgerstaat bestanden haben und es genüge nicht, in eine im Herkunftsstaat schon vorhandene “Restfamilie” hineingeboren zu werden. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG verweise auf die Familie als Verbindung zwischen dem jeweiligen Stammberechtigten und demjenigen, der daraus seine Berechtigung ableiten wolle. Das verdeutliche insbesondere der Verweis auf einen anderen Erwachsenen im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU, mit dem der Stammberechtigte ebenfalls eine Familie bilde, ohne dass insofern eine “Restfamilie” existiert habe. Im Hinblick darauf sei es nicht ausreichend, dass die Kläger zu 1. und zu 2. bereits in Somalia eine Familie gebildet hätten, in die die stammberechtigte Tochter der Klägerin (S.) im Gebiet der Beklagten hineingeboren worden sei.
Der beschließende Senat hat auf Antrag der Kläger mit Beschluss vom 31. Mai 2021 die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Zur Begründung der fristgerecht erhobenen Berufung tragen die Kläger vor, der Gesetzeswortlaut in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nummer 2 AsylG enthalte keine Vorgabe, dass die Eltern von ihrem stammberechtigten minderjährigen Kind keinen Schutzstatus ableiten könnten, wenn dieses erst nach der Ausreise aus dem Verfolgerstaat geboren worden sei. Der dort verwendete Begriff „Familie“ sei nicht so eng auszulegen wie die „Familie“ im Sinne von § 26 Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 AsylG. § 26 Abs. 1 AsylG regele das Familienasyl für Ehegatten oder Lebenspartner des Stammberechtigten. § 26 Abs. 3 AsylG betreffe dagegen Fälle, in denen der Stammberechtigte minderjährig sei. Der Gesetzgeber habe hier im Gesetzeswortlaut keine gesetzliche Vorgabe wie in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG gemacht. Daher sei auch eine unterschiedliche Handhabung der Fälle im Hinblick auf diese Problematik gewollt gewesen. Der Telos der Einschränkung, dass die familiären Beziehungen bereits im Verfolgerstaat bestanden haben müssten, liege darin, dass die Ableitung der Asylberechtigung nicht auf der (vorgeblichen) Gründung einer Familie beruhen solle. Im Falle des Verhältnisses von Eltern und Kind sei die Situation anders gelagert. Die Existenz des (geschützten) Bundes der Familie werde zunächst bereits durch das Eingehen der Ehe (oder einer vergleichbaren dauerhaften Beziehung) der Eltern begründet. Eine Ehe, aus der Kinder hervorgingen, stelle gleichsam nur den Inbegriff einer Familie dar, die freilich auch (und gerade) dann in ihrer Einheit unter dem Schutz des Art. 6 GG stehe. Der Zeitpunkt, zu dem ein – später – stammberechtigtes Kind Teil dieser Familie werde, könne hier nicht maßgeblich sein, da dieser Umstand – anders als beim Eingehen der Ehe – nicht auf einem Entschluss des Kindes beruhe, aber anderenfalls einer ähnlichen normativen Wertung unterläge.
Der Gesetzeswortlaut enthalte den Verweis auf die Familie im Sinne von Art. 2 lit. j der Qualifikationsrichtlinie. Dort falle auf, dass die zusätzliche Voraussetzung, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden habe, vor den Spiegelstrichen geregelt sei. Der 1. Spiegelstrich beziehe sich auf die Ehegatten oder Lebenspartner, deren familiäres Verhältnis durch eine Ehe oder eine Gleichbehandlung begründet werde. Hier erscheine die Einschränkung des Bestandes der Familie im Verfolgerstaat sachgerecht. Der Gesetzgeber habe diese Regelung in § 26 Abs. 1 AsylG aufgenommen. Im 2. Spiegelstrich enthalte die Qualifikationsrichtlinie Regelungen für minderjährige Kinder des Stammberechtigten. Der Gesetzgeber habe diese Vorgabe im § 26 Abs. 2 AsylG umgesetzt. Danach hätten in Deutschland geborene Kinder eines stammberechtigten Elternteils Anspruch auf Familienasyl. Dabei fehle es an der Einschränkung, dass die familiäre Verbindung zwischen Kind und Eltern im Herkunftsstaat bestanden haben müsse. Vielmehr sei es ausreichend, dass die Familie zwischen den Eltern im Herkunftsstaat bestanden habe. Dieser Rechtsgedanke sei auch auf den vorliegenden Fall und somit auf die Auslegung des Begriffs „Familie“ in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zu übertragen. Es mache keinen Sinn, zwischen in Deutschland geborenen Kindern stammberechtigter Eltern und der umgekehrten Variante zu differenzieren. Der Erwägungsgrund 36 der Qualifikationsrichtlinie enthalte die vom Bundesverwaltungsgericht schon vorher bestätigte Regelvermutung, dass die Gefährdung für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung aufgrund der familiären Verbindung auch für weitere Familienmitglieder bestehe. Diese Verfolgungsvermutung differenziere nicht danach, ob die familiäre Verbindung von Kind und Eltern bereits im Verfolgerstaat bestanden habe, sondern basiere allein auf dem Verwandtschaftsverhältnis. Eine sachliche Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung im Hinblick auf die Verfolgungsvermutung zwischen in Deutschland geborenen stammberechtigten Kindern im Sinne von § 26 Abs. 3 AsylG und den in Deutschland geborenen Kindern stammberechtigter Eltern sei nicht erkennbar. Diesbezüglich sei auf das Fallbeispiel in dem Aufsatz von Dr. Broscheit in ZAR 2019,174, 177 hinzuweisen, das konkret identisch mit dem hier vorliegenden Fall sei.
Ein weiterer vom Gesetzgeber verfolgter Zweck des Familienasyls bestehe darin, die Integration der Familie zu fördern. Bei der Auslegung des Familienbegriffs von § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG sei neben dieser Intention auch Erwägungsgrund 19 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen. Dort werde explizit ausgeführt, dass bei der Ausweitung des Begriffes „Familienangehörige“ „insbesondere den besonderen Umständen der Abhängigkeit und dem Wohl des Kindes Rechnung zu tragen ist“. Die Zuerkennung des Familienasyls diene der Wahrung der familiären Einheit und gewährleiste, dass die den minderjährigen Stammberechtigten versorgende Familie ebenfalls ein sicheres Aufenthaltsrecht besitzt. Eine Förderung des Kindeswohls komme nicht nur etwa in Betracht, wenn das Kind selbst um Familienasyl nachsuche, sondern auch, wenn es – als Stammberechtigter – dieses für seine nahen Angehörigen gerade erst vermitteln solle. Im Ergebnis bleibe festzustellen, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des Familienbegriffes in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht darauf abstellen könne, ob das minderjährige stammberechtigte Kind erst nach der Ausreise geboren worden sei.
Die Auffassung der Beklagten, dass die Ehe der Kläger zu 1. und 2. unwirksam sei, verkenne, dass nach allen Erkenntnismitteln für Somalia davon auszugehen sei, dass es sich um einen sogenannten „failed state“ handele und dort keine flächendeckende effektive Staatsgewalt existiere. Die Wirksamkeit der Imam-Ehen sei bisher von der Beklagten auch nie infrage gestellt worden. Zudem seien gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG Erwachsene im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Qualifikationsrichtlinie zu den zu berücksichtigenden Personen zu zählen, so dass auch Ehegatten oder nicht verheiratete Partner, mit denen eine dauerhafte Beziehung geführt werde, zu berücksichtigen seien, soweit nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedsstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt würden wie verheiratete Paare. Eine dauerhafte Beziehung zwischen den Klägern zu 1. und zu 2. habe in Somalia bereits bestanden, was durch die Imam-Ehe eindeutig bestätigt werde.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Halle vom 10. Februar 2021 (- 4 A 28/20 HAL -) und ihres Bescheides vom 11. Dezember 2017, zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG zuzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie macht geltend, vor dem Hintergrund des Wortlautes des § 26 Abs. 3 Nr. 2 AsylG werde die Konstellation kontrovers diskutiert, in welcher der stammberechtigte Minderjährige erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsstaat geboren worden sei. Aber selbst wenn man die Ansicht vertrete, dass es nicht allein auf den Geburtsort ankommen könne, scheide im vorliegenden Fall die Ableitung aus. Voraussetzung sei nach beiden Ansichten unter anderem, dass die Familie schon in dem Staat bestanden habe, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt werde. § 26 AsylG bezwecke trotz der Vermutung der Verfolgung der Familienangehörigen eines Asylberechtigten nicht den absoluten und herkunftsunabhängigen Schutz des Familienverbundes. Dies werde insbesondere in der Regelung des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG deutlich, wonach der Ehegatte oder Lebenspartner eines Asylberechtigten nur dann einen Ableitungsanspruch habe, wenn die Ehe bzw. die Lebenspartnerschaft bereits im Verfolgungsstaat bestanden habe, weil nur dann eine Nähe zum Verfolgungsgeschehen und eine eigene Gefährdung des Partners angenommen werden könne. Diese Differenzierung habe das BVerwG in einem Urteil vom 17. Dezember 2020 (- 1 C 30.19 -) zuletzt bestätigt und ausgeführt, dass eine Ehe nicht i.S.d. Regelausschlussgrundes des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG „vor der Flucht” geschlossen worden sei, wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen worden sei. Vorliegend seien alle Kinder in Europa geboren worden und es habe auch keine sogenannte Kernfamilie aus Mutter und Vater im Herkunftsland bestanden, da diese dort nicht wirksam die Ehe eingegangen seien. In ihrer Anhörung hätten die Kläger zu 1. und 2. auf die Frage „Ist die Ehe offiziell registriert worden?“ erklärt: „Nein, es war eine rituelle Heirat vor einem Scheich.“ In der Sammlung systematischer Übersichten über die wesentlichen Rechtsnormen ausländischer Staaten „Standesamt und Ausländer“ werde hinsichtlich der Eheschließung in Somalia (Art. 4 – 9 PerStG) ausgeführt, dass eine vor einem Imam geschlossene Ehe innerhalb von zwei Wochen beim nächsten Distriktsgericht oder einer ermächtigten Behörde zu registrieren sei; in ländlichen Gebieten gelte eine Frist von 40 Tagen. Da die Ehe ausschließlich vor einem Imam geschlossen worden sei, sei sie fehlerhaft, mithin nicht wirksam. Demnach lägen die Voraussetzungen für eine Ableitung des für die Tochter zuerkannten Schutzstatus nicht vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen, der Gegenstand der Beratung gewesen ist.
II.
Der Senat entscheidet über die zulässige Berufung der Kläger gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält. Die Beteiligten haben nach erfolgter Anhörung (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) dieser Vorgehensweise nicht widersprochen. Die Entscheidung hierüber steht im Ermessen des Gerichts, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich eine mündliche Verhandlung nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall darstellt. Eine Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung wäre nur dann ausgeschlossen, wenn die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist oder wenn im konkreten Fall Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. März 2021 – 1 B 4.21 -, juris, Rdnr. 9, vom 10. März 2021 – 1 B 3.21 -, juris, Rdnr. 13, m.w.N., und vom 10. Juli 2019 – 1 B 57.19 -, juris, Rdnr. 6 ff., m.w.N.).
Der Rechtsstreit weist keine solchen außergewöhnlich großen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten auf. Zwar liegt der Schwierigkeitsgrad über dem des Durchschnitts asylrechtlicher Verfahren. Dennoch wirft die Sache keine entscheidungserheblichen Tatsachen- oder Rechtsfragen auf, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Beteiligten angemessen lösen ließen (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2020 – 1 B 27.20 -, juris). Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Sachlage – soweit sie entscheidungserheblich ist – geklärt ist und die Rechtslage durch eine große Zahl verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen und Literaturstimmen zur entscheidungserheblichen Auslegung des § 26 AsylG umfassend aufbereitet ist. Dass die Rechtslage äußerst kontrovers bewertet wird, steht dem nicht entgegen.
Ebenso wenig gebieten Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK oder Art. 47 GRC vorliegend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Schon seinem Wortlaut nach gilt Art. 6 Abs. 1 EMRK nur für Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und für strafrechtliche Anklagen, nicht aber für Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, wozu auch das Asylrecht zählt. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen sind lediglich im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO zu berücksichtigen (so BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 – 1 B 2.20 -, juris Rdnr. 9, und Beschluss vom 10. Juli 2019 – 1 B 57.19 -, juris, Rdnr. 10, jeweils m.w.N.). Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen (vgl. dazu im Einzelnen BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 2019, a.a.O., juris, Rdnr. 11, und Beschluss vom 21. Januar 2020 – 1 B 2.20 -, Rdnr 10, jeweils mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-348/16 -, NVwZ 2017, 1449). Eine Ermessenseinschränkung ergab sich schließlich nicht dadurch, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ohne mündliche Verhandlung ergangen ist. Wenn die Beteiligten – wie hier – in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie – aus welchen Gründen auch immer – freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO grundsätzlich offen (so BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020, a.a.O., Rdnr. 13, und Beschluss vom 10. Juli 2019, a.a.O., juris, Rdnr. 13, jeweils m.w.N.).
Eine erneute Anhörung zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO musste auf Grund des Schriftsatzes der Kläger vom 3. Februar 2022 nicht erfolgen. Die Verfahrensbeteiligten sind nur dann durch eine erneute Anhörungsmitteilung von der fortbestehenden Absicht des Gerichts in Kenntnis zu setzen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, wenn nach der entsprechenden Ankündigung ein erheblicher Beweisantrag gestellt wurde oder sich die prozessuale Lage des Rechtsstreits nach einer Anhörungsmitteilung wesentlich ändert, etwa dadurch, dass ein Prozessbeteiligter seinen bisherigen Sachvortrag in erheblicher Weise ergänzt oder erweitert (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14. April 2016 – 5 B 7.16 -, juris, Rdnr. 4, m.w.N., vom 17. August 2010 – 10 B 19.10 -, juris, Rdnr. 5, m.w.N., und vom 15. Mai 2008 – 2 B 77.07 -, juris, Rdnr. 16, m.w.N.). Eine solche möglicherweise entscheidungserhebliche Änderung der Prozesssituation lag nicht vor.
Das Verwaltungsgericht hat die nach § 88 VwGO als Anfechtungsklage auszulegende Klage (vgl. zur statthaften Klageart gegen eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützte Entscheidung BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 -, juris, Rdnr. 16 ff.; vgl. auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19. Februar 2019 – 4 L 201/17 -, juris) der Kläger zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2017 ist in dem für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 2 AsylG) rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, die nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG im Fall der Stellung eines erneuten Asylantrags nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags (Folgeantrag) für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vorliegen müssen, sind nicht gegeben.
1. Die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage hat sich nach dem allein in Betracht kommenden Wiederaufnahmegrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht nachträglich zugunsten der Betroffenen geändert, indem der Tochter S. der Kläger zu 1. und 2. nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Denn diese Änderung ist nicht geeignet, eine für die Kläger günstigere Entscheidung über ihr Asylgesuch herbeizuführen. Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 5 AsylG (bzw. Nr. 1 bis 4 für die Kläger zu 3. und 4.) in entsprechender Anwendung nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG (für die Kläger zu 1. und 2.) bzw. in entsprechender Anwendung nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 AsylG (für die Kläger zu 3. und 4.) sind nicht gegeben, weil die Vorgabe des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG aufgrund der Geburt der Tochter S. in Deutschland nicht erfüllt ist.
Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn u.a. die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (Nr. 2). Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG entsprechend. Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden und an die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz (§ 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG).
Für eine Anwendbarkeit des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG muss das stammberechtigte Kind (hier die minderjährige, am Klageverfahren nicht beteiligte Tochter S. der Kläger zu 1. und 2.) gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG bereits im Verfolgerstaat (hier also Somalia) geboren sein (VG Regensburg, Urteil vom 9. Juni 2021 – RN 14 K 18.31715 -, juris, Rdnr. 36; VG Augsburg, Urteil vom 23. Juli 2021 – Au 4 K 20.31273 -, juris, Rdnr. 36; VG Aachen, Urteil vom 1. Juni 2021 – 2 K 922/18.A -, juris, Rdnr. 33, 38ff.; VG Hamburg, Urteil vom 20. Februar 2019 – 16 A 146/18 -, juris, Rdnr. 26; Hailbronner, Ausländerrecht, § 26 AsylG Rdnr. 74; GK-AsylG, § 26 Rdnr. 63.1; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rdnr. 41; wohl auch VG Frankfurt a.M., Gerichtsbescheid vom 27. Oktober 2021 – 7 K 3593/17.F.A -, juris; vgl. weiter OVG Bremen, Urteil vom 20. Juli 2021 – 2 LB 96/21 -, juris, Rdnr. 53; VGH Bayern, Urteil vom 5. September 2019 – 21 B 16. 31043 -, juris, Rdnr. 27; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. August 2017 – 11 A 687/17.A – juris, Rdnr. 11; VG Magdeburg, Urteil vom 23. November 2021 – 9 A 221/19 MD -, juris, Rdnr. 26; VG Düsseldorf, Urteil vom 22. November 2021 – 29 K 9053/19.A -, juris, Rdnr. 36). Es reicht nicht aus, dass das in Deutschland geborene stammberechtigte Kind in eine Familie hineingeboren wird, die bereits im Verfolgerstaat bestanden hatte (so aber VG Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 1 K 6953/17.KS.A -, juris, Rdnr. 25; VG Freiburg, Urteil vom 27. August 2020 – A 10 K 8179/17 -, juris, Rdnr. 24 f.; VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 – 11 K 3416/17.A -, juris, Rdnr. 23; VG Trier, Urteil vom 25. Juli 2019 – 5 K 10103/17.TR -, juris, Rdnr. 17; VG Wiesbaden, Urteil vom 26. September 2018 – 7 K 3271/17.WI.A -, juris, Rdnr. 26; Broscheit, ZAR 2019, 174ff.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 26 AsylG, Rdnr. 16; BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, § 26 AsylG, Rdnr. 23b; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 26 AsylG, Rdnr. 28; noch weitergehend VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 – A 17 K 9210/17 -, juris).
Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Die historisch-genetische Auslegung des § 26 AsylG allein ist für die Frage der Bestimmung des Begriffes „Familie“ in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht eindeutig. Sie weist lediglich darauf hin, dass den Angehörigen der (Klein-)Familie des Schutzberechtigten die Herstellung der Familieneinheit auf der Grundlage eines einheitlichen Schutzstatus ermöglicht werden sollte (so BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 – 1 C 8.19 -, juris, Rdnr. 23). Das Bundesverwaltungsgericht führt weiter aus (Urteil vom 17. November 2020, a.a.O., Rdnr. 24 ff.), dass das Institut des Familienasyls in der Beklagten richterrechtlich begründet worden sei. Eine gesetzliche Vorschrift, die den asylrechtlichen Status des Stammberechtigten auf dessen Ehegatten und Kinder erstreckte, habe sich zunächst nicht gefunden. Dass in der Praxis der Anerkennungsbehörden und Verwaltungsgerichte in gewissem Umfang auch Angehörigen des Flüchtlings, vor allem der Ehefrau und den abhängigen minderjährigen Kindern, der Status des ausländischen Flüchtlings zuerkannt worden sei, sei in dem Gedanken des Familienschutzes gegründet gewesen, der sich im nationalen und internationalen Recht durchzusetzen begonnen habe, und in der Erfahrung, dass vielfach diejenigen, die von einem Flüchtling abhängig seien, im Verfolgungsland ebenfalls Verfolgungen, zumindest aber schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt seien, insbesondere dann, wenn in dem Land ein totalitäres System herrsche. Politische Verfolgung einzelner Mitglieder einer Familie sei oftmals durch die übergreifenden mittelbaren Wirkungen der Verfolgungsmaßnahme und den häufig alle Familienmitglieder einschließenden Verfolgungsgrund gekennzeichnet. Die Verfolgungsmaßnahme wirke kraft der gegenseitigen Abhängigkeit sehr oft in die persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen der Familienmitglieder hinein. Eine solche mittelbare Wirkung einer gegen einen anderen gerichteten Verfolgungsmaßnahme könne zur Verfolgungsmaßnahme auch gegen den Drittbetroffenen werden. Bei der prognostischen Einschätzung der dem Ehegatten oder den minderjährigen Kindern eines politisch Verfolgten drohenden Verfolgung sei von einer Regelvermutung des Inhalts ausgegangen worden, dass immer dann, wenn Fälle festgestellt worden seien, in denen ein Staat Repressalien gegen die Ehefrau oder die (minderjährigen) Kinder im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung des Ehemannes oder Vaters ergriffen habe, auch der Ehefrau oder den Kindern, über deren Asylanspruch im konkreten Fall zu entscheiden sei, das gleiche Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Mit Art. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 habe der Gesetzgeber in § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F. erstmals eine gesetzliche Grundlage für das Familienasyl geschaffen. Die Regelung habe auf die „Entlastung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ gezielt, da sie die Möglichkeit eröffnet habe, „von einer u.U. schwierigen Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen eines Asylberechtigten abzusehen”. Sie sei zudem als „sozial gerechtfertigt”, weil der „Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten” förderlich erachtet worden (BT-Drs. 11/6960, S. 29 f.). An dieser auf der gesetzlichen Vermutung einer Verfolgung basierenden Konzeption des Familienasyls habe der Gesetzgeber im Zuge der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes durch Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 und der Schaffung des § 26 AsylVfG im Grundsatz festgehalten (BT-Drs. 12/2718, S. 60). Mit der Zuerkennung von Familienabschiebungsschutz für enge Familienangehörige von Flüchtlingen, die (nur) nach § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannt worden seien, durch Art. 3 Nr. 17 Buchst. d des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 habe er den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten und dem internationalen Flüchtlingsschutz immanenten Gedanken der Familieneinheit gestärkt und das Interesse an einem einheitlichen Rechtsstatus innerhalb einer Familie berücksichtigt (BT-Drs. 15/420, S. 109; vgl. ferner BR-Drs. 22/03, S. 260 f.). Die Neufassung des § 26 AsylG durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 habe der Umsetzung des Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie in nationales Recht gedient. Zusätzlich zu den im nationalen Recht bewährten Schutzformen des Familienasyls und des Familienflüchtlingsschutzes sei ein gemeinsamer Status bei subsidiär Geschützten und ihren Familienangehörigen eingeführt worden. Dies habe die Rechtsanwendung erleichtern und auch der Tatsache Rechnung tragen sollen, dass bei Familienangehörigen häufig eine vergleichbare Bedrohungslage wie bei dem Stammberechtigten vorliege (BT-Drs. 17/13063, S. 21). § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG habe darauf abgezielt, den Familienangehörigen eines Schutzberechtigten zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und der Wahrung des Minderjährigenschutzes die gleichen Rechte wie dem Stammberechtigten zu vermitteln. Zur Erreichung dieses Zieles habe der Gesetzgeber nicht den Weg einer rein aufenthalts- und sozialrechtlichen Umsetzung beschritten; stattdessen habe er sich nicht zuletzt im Interesse einer Verfahrensvereinfachung für eine unionsrechtlich überschießende asylrechtliche Umsetzung der Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie entschieden (BT-Drs. 17/13063, S. 21).
Allerdings ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG, dass die Geburt des Stammberechtigten außerhalb des Verfolgerstaates nicht ausreichend ist. Danach muss die Familie schon in dem Staat bestanden haben, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Für die Bestimmung des Begriffes „Familie“ wird in der Regelung ausdrücklich auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU – QRL – abgestellt, so dass sich die Auslegung nach dieser Norm richtet (so BVerwG, EuGH-Vorlagebeschluss vom 15. August 2019 – 1 C 32.18 -, juris, Rdnr. 13).
Nach Art. 2 Buchst. j QRL bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck „Familienangehörige“ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:
– der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare;
– die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;
– der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist.
Gemäß Art. 23 QRL tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann (Abs. 1). Weiter tragen sie dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist (Abs. 2).
In Art. 2 Buchst. j QRL wird nur der Begriff „Familienangehörige“ definiert, so dass nicht ohne weiteres klar ist, ob unter der „Familie“ i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL der Stammberechtigte mit Familienangehörigen oder auch nur Familienangehörige als (Rest)Familie zu verstehen sind. Der Europäische Gerichtshof hat insoweit zwar ausgeführt, dass sich aus Art. 2 Buchst. j QRL, der für die Zwecke der Richtlinie den Begriff „Familienangehörige“ definiere, in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 QRL ergebe, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf diese Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden sei, erstrecke, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren worden seien, die dort gegründet worden sei (Urteil vom 9. November 2021 – C-91/20 -, juris, Rdnr. 37). Damit definierte das Gericht aber nicht den Begriff „Familie“ i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL oder beschränkte den Regelungsgehalt des Art. 2 Buchst. j QRL auf die genannten Fälle, sondern wandte lediglich anhand der Vorlagefrage die Norm auf die konkrete Fallgestaltung an, in der die Eltern erst außerhalb des Herkunftslandes eine Familie gegründet hatten (vgl. auch Rdnr. 38).
Vielmehr wird in den zu der Entscheidung vom 9. November 2021 ergangenen Schlussanträgen des Generalanwalts vom 12. Mai 2021 (juris, Rdnr. 49 ff., 52, 53, 54) hinsichtlich der Auslegung des Art. 2 Buchst. j QRL dargelegt, dass der Unionsgesetzgeber den Vorteil der Wahrung des Familienverbands auf familiäre Bindungen beschränke, die die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden sei, in ihrem Herkunftsland vor der Gewährung dieses Schutzes geknüpft habe, unabhängig davon, ob diese Bindungen biologischer Art, wie die Geburt eines Kindes, oder rechtlicher Art, wie die Adoption oder die Ehe, seien. Das Bestehen einer Verbindung des Familienangehörigen zum Herkunftsland der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sei ein entscheidender Gesichtspunkt, was sich auch im Wortlaut von Art. 23 Abs. 5 QRL widerspiegele. Es sei daher erforderlich, die Existenz einer vor dem Verlassen des Herkunftslands bestehenden Lebensgemeinschaft in diesem Land nachzuweisen. Die Wahrung des Familienverbands nach Art. 23 Abs. 2 QRL richte sich demzufolge an Familienangehörige, die mit der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden sei, in deren Herkunftsland zusammengelebt hätten.
Diesen Ausführungen lässt sich – unabhängig von der Frage, welches Herkunftsland ein in einem Aufnahmemitgliedstaat geborenes Kind hat – entnehmen, dass zur Familie i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL (und damit auch zu der in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG bezeichneten Familie) zwingend der Stammberechtigte zu zählen sein soll. Dafür spricht neben der Regelung in Art. 23 Abs. 5 QRL, die es erlaubt, den Schutz des Art. 23 Abs. 2 QRL auf andere „enge Verwandte“ auszudehnen, falls sie „zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten“, und den vom Generalanwalt genannten grundsätzlichen Erwägungen auch der Wortlaut des Art. 2 Buchst. j QRL. Zunächst werden die Familienangehörigen in der Spiegelstrichaufzählung der Norm jeweils nur in ihrer familiären Beziehung zum Stammberechtigten definiert: dessen Ehegatte oder Partner, dessen Kind(er) oder dessen Vater, Mutter oder anderer personensorgeberechtigte Erwachsene, wenn der Stammberechtigte minderjährig und unverheiratet ist. Weiterhin besteht zwischen der „Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist“ in Art. 2 Buchst. j HS 1 QRL und dem im Halbsatz weiter unten verwendeten Begriff „Familie“ mit der Wendung „sofern die“ eine derartige Verknüpfung, dass viel für eine Deckungsgleichheit beider Begriffe spricht. Durch diese Verknüpfung ist die Wendung „sofern die“ eigentlich als „sofern diese“ zu lesen. Als „Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist“ kann aber nur die Familie einschließlich dieser Person verstanden werden. Schließlich stellt auch die Regelung im 3. Spiegelstrich des Art. 2 Buchst. j QRL, auf die § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG hinsichtlich einzelner Erwachsener Bezug nimmt, ein Hindernis für die Auslegung dar, dass die Familie i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL auch eine (Rest)Familie ohne den stammberechtigten Minderjährigen sein kann. Denn dann könnte – worauf das Verwaltungsgericht zu Recht verwiesen hat – auch eine einzelne Person eine Familie sein. Dies läge aber nicht mehr im Bereich des möglichen Wortsinns der Norm (vgl. dazu grundsätzlich BVerfG, Beschluss vom 16. August 2021 – 2 BvR 972/21 -, juris, Rdnr. 13).
Dass der Gesetzgeber den § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG mit einem Verweis auf die „Elternschaft“ oder „Erziehungsgemeinschaft“ noch deutlicher hätte formulieren können, ist angesichts der dargestellten Auslegung des Art. 2 Buchst. j QRL kein durchschlagendes Gegenargument. Die Bezugnahme auf die Familie i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL wurde im Übrigen deshalb vorgenommen, weil in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG für die minderjährigen ledigen Geschwister des Stammberechtigten eine entsprechende Geltung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG angeordnet wird. Eine Verwendung des Begriffes „familiäre Beziehung“ hätte gegenüber dem Begriff „Familie“ keine Klarheit geschaffen. Auch der Umstand, dass die Einschränkung in Art. 2 Buchst. j QRL („sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat“) zusammenfassend vor den jeweiligen Spiegelstrichen zu verorten ist, welche die relevanten Verwandtschaftsbeziehungen zum Stammberechtigten auflisten, steht der hier vorgenommenen Auslegung nicht entgegen. Zwar besteht für die im zweiten Spiegelstrich aufgezählten minderjährigen Kinder auf Grund des § 26 Abs. 2 AsylG kein Grund für die Einschränkung, dass die Kinder schon im Verfolgerstaat geboren sein mussten. Aus einer Regelung des Asylgesetzes kann aber kein Rückschluss auf die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie gezogen werden. Der Erwägungsgrund 36 der Qualifikationsrichtlinie („Familienangehörige sind aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann.“) ist für eine andere Auslegung ebenfalls nicht ausreichend. Darin wird zwar für eine mögliche Verfolgung von Familienangehörigen allein auf das Verwandtschaftsverhältnis zum Flüchtling verwiesen. Allerdings soll dies nur in der Regel der Fall sein und es wird ausdrücklich festgestellt, dass dies nur ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus sein kann. Eine Bindung über die in § 23 Abs. 1 und 2 QRL hinaus enthaltenen Vorgaben besteht für die Mitgliedsstaaten nicht. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Qualifikationsrichtlinie eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsehe (so Urteil vom 9. November 2021 – C-91/20 -, Rdnr. 36, juris).
Darüber hinaus streiten Sinn und Zweck der maßgeblichen Normen des AsylG für die hier vertretene Auslegung. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 17. November 2020, a.a.O., Rdnr. 29) sei der internationale Familienschutz nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG neben der Vereinfachung des Verfahrens und der Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte von mitunter schwierigen und langwierigen Prüfungen der dem Familienangehörigen persönlich drohenden Gefahren maßgeblich der Aufrechterhaltung der Familieneinheit zu dienen bestimmt. Der Gedanke der Familieneinheit findet sich auch in Art. 23 QRL und die Einheit des Familienverbandes wird im Erwägungsgrund 18 zur Qualifikationsrichtlinie erwähnt. Daneben wird in den Erwägungsgründen 19 und 38 auf das Wohl des Kindes abgestellt. Aber abgesehen davon, dass sich schon aus der Entstehungsgeschichte des § 26 AsylG und allgemeinen Erwägungen ergibt, dass Sinn und Zweck des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 AsylG nicht nur die Aufrechterhaltung der Familieneinheit ist, folgt dies für § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG schon aus dessen Nr. 2 selbst. Denn wenn bei minderjährigen ledigen Stammberechtigten das Kindeswohl und der damit verbundene Gedanke der Familieneinheit allein maßgeblich wären, wäre der Tatbestand der Nr. 2 nicht nur überflüssig, sondern sogar kontraproduktiv. Daher ist – vor allem in Verbindung mit der Entstehungsgeschichte – davon auszugehen, dass die Nr. 2 deshalb aufgenommen wurde, um eine Anwendung des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG davon abhängig zu machen, dass bei den Familienangehörigen auf Grund der Verfolgung des minderjährigen Stammberechtigten hinreichend wahrscheinlich ebenfalls eine Bedrohungslage vorliegt, so dass aus Gründen der Verfahrensvereinfachung eine automatische Übertragung des Schutzstatus sachgerecht ist. Dies wiederum spricht dafür, das Bestehen einer Familieneinheit von minderjährigem Stammberechtigtem und betroffenen Familienangehörigen schon im Verfolgerstaat zur Voraussetzung zu machen. Die Verfolgung des minderjährigen Stammberechtigten kann sich dadurch auf die übrigen Familienmitglieder auswirken, dass entweder ein alle Familienmitglieder einschließender Verfolgungsgrund vorliegt oder übergreifende mittelbare Wirkungen der Verfolgungsmaßnahme bestehen. Solche Auswirkungen sind bei einer Geburt des Stammberechtigten außerhalb des Verfolgerstaates nicht in gleicher Weise wahrscheinlich, als wenn die Familieneinheit mit den übrigen Familienmitgliedern schon im Verfolgerstaat bestanden hat. Auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass Familienangehörige selbst bei einer Geburt des Stammberechtigten außerhalb des Verfolgerstaates bei einer Rückkehr in den Verfolgerstaat ebenfalls gefährdet wären, ist die Wahrscheinlichkeit dafür nicht so hoch anzusehen, dass eine automatische Übertragung des Schutzstatus geboten ist. Dies zeigen gerade auch die Fälle einer – wie vorliegend – zu befürchtenden Genitalverstümmelung von außerhalb des Verfolgerstaates geborenen minderjährigen Mädchen bei einer Rückkehr in den Verfolgerstaat. Dann ist für die Familienmitglieder nur in besonderen Fällen ebenfalls eine Bedrohungslage gegeben. Eine gegen Art. 3 GG verstoßende Ungleichbehandlung liegt auf Grund der unterschiedlichen Sachlagen nicht vor. Daher wird in § 26 Abs. 2 AsylG für ein minderjähriges lediges Kind eines Stammberechtigten keinerlei Vorgabe hinsichtlich des Bestehens einer Familie im Verfolgerstaat gemacht, während in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylG für Ehegatten oder Lebenspartner eines Stammberechtigten ausdrücklich gefordert wird, dass die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit dem Stammberechtigten schon in dem Verfolgerstaat bestanden haben muss. Diese unterschiedliche Vorgehensweise ist darin begründet, dass bei einem minderjährigen Kind eines Stammberechtigten eine Erstreckung der Bedrohungslage in der Regel unabhängig davon vorliegt, wo das Kind geboren worden ist.
Sollte man dagegen § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG dahingehend auslegen, dass er auch bei außerhalb des Verfolgerstaates geborenen minderjährigen Stammberechtigten Anwendung findet und nur eine „Restfamilie“ im Verfolgerstaat bestanden haben muss, wäre die Norm – wie oben dargestellt – für die in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG ausdrücklich aufgeführten einzelnen Erwachsenen von vornherein nicht anwendbar und würde im Übrigen lediglich die Fälle ausscheiden, bei denen die Eltern des Stammberechtigten nicht im Verfolgerstaat eine Familie gebildet hatten, sondern erst später. Ein solch eingeschränkter Regelungsgehalt der Norm wäre auch angesichts der grundsätzlichen Ziele des § 26 Abs. 3 Satz 1 bzw. des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG (Verfahrensvereinfachung; Familieneinheit; Integration; Wohl der minderjährigen Kinder) nicht sachgerecht. Dass die hier vorgenommene Auslegung zu teilweise widersprüchlichen Ergebnissen führt (Anwendung des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei einem kurz vor Flucht geborenen Kind und keine Anwendung bei einem vor der Flucht gezeugten, aber nach der Flucht geborenen Kind) hat der Gesetzgeber im Hinblick auf die durch die Norm angestrebte Automatik und Pauschalisierung hingenommen. Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist damit nicht verbunden. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Familienangehörigen eines im Gebiet der Beklagten geborenen minderjährigen Schutzberechtigten nicht nur aus eigenem Recht ggfs. Schutzgründe geltend machen können, sondern in der Regel auch über Art. 6 Abs. 1 GG zumindest vor einer Abschiebung geschützt sind.
2. Nicht zu folgen ist allerdings der Ansicht der Beklagten, dass die fehlende Registrierung der unstreitig im Juni 2006 in Somalia vor einem Sheikh (die Bezeichnung „Scheich“ in dem Anhörungsprotokoll des Bundesamtes dürfte auf eine ungenaue Übertragung zurückzuführen sein) erfolgten Eheschließung der Kläger zu 1. und 2. zur Unwirksamkeit dieser Ehe führte.
Grundsätzlich kommt es für die Gültigkeit der Ehe auf das Recht des jeweiligen Herkunftsstaates an (VG Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 1 K 6953/17.KS.A -, juris, Rdnr. 27 f., m.w.N.). Im Rahmen des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG wird als Ehe nur eine bereits im Verfolgerstaat eingegangene und von diesem als Ehe anerkannte und registrierte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau angesehen. Eine nur nach religiösem Ritus mit Eheschließungswillen eingegangene Verbindung, die der Heimatstaat nicht anerkenne, sei keine Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2005 – 1 C 17.03 -, juris, Rdnr. 9). Diese Maßstäbe sind auf die Tatbestände des § 26 AsylG übertragbar, soweit die Gültigkeit einer Ehe in Rede steht.
Nach dem nominell unverändert gültigen somalischen Personalstatusgesetz vom 11. Januar 1975 (vgl. Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht) soll die Ehe vor einem Richter oder einer vom Ministerium für Justiz und religiöse Angelegenheiten ermächtigten Person geschlossen werden (Art. 5 Nr. 1). Wenn dies nicht möglich ist, kann nach Art. 5 Nr. 2 die Eheschließung vor einer Person erfolgen, die vertiefte Kenntnis des islamischen Rechts hat. Gemäß Art. 5 Nr. 4 ist die Eheschließung innerhalb von zwei Wochen (in ländlichen Gebieten 40 Tage) ab ihrer Vornahme beim nächsten Distriktgericht oder der ausdrücklich ermächtigten Behörde zu registrieren.
Offenbleiben kann, ob die in diesem Gesetz vorgeschriebene Registrierung einer nach religiösem Ritus geschlossenen Ehe bei einem Gericht oder einer Behörde lediglich deklaratorisch wirkte und die Ehe deswegen auch ohne Eintragung wirksam war (vgl. Österr. BVwG, Erkenntnis vom 7. November 2017 – W185 2128892-1 -, RIS; vgl. auch VG Oldenburg, Urteil vom 2. Januar 2018 – 3 A 4808/16 -, juris, Rdnr. 21 ff. zur Rechtslage im Irak unter Hinweis auf ein Gutachten des Max-Planck-Instituts).
Jedenfalls muss nach der Überzeugung des Senats den gerichtsbekannten Zuständen in Somalia Rechnung getragen werden. Das Land hat seit 1991 keine funktionierende Regierung mehr und somalische Staatsangehörige hatten seitdem keine Möglichkeit, offizielle Dokumente zu erhalten. Dementsprechend werden nach einer Allgemeinverfügung des Bundesinnenministeriums über die Anerkennung eines ausländischen Passes oder Passersatzes vom 6. April 2016 (BAnz. AT 25. April 2016 BI) alle Pässe und Passersatzpapiere, die in Somalia nach dem 31. Januar 1991 ausgestellt oder verlängert worden sind, von deutschen Behörden grundsätzlich nicht zugelassen. Zudem eroberte Mitte 2006 eine islamische Gruppierung, die Union islamischer Gerichte, Mogadischu und weite Landesteile Somalias. Es ist danach davon auszugehen, dass es im Jahr 2006 keine nationalen oder regionalen Register gab, welche Informationen über Eheschließungen enthielten, und die Vorschrift zur Registrierung einer nach traditionellem Recht geschlossenen Ehe – schon aufgrund der oft gegebenen Undurchführbarkeit – als obsolet zu betrachten war (so auch Österr. BVwG, Erkenntnis vom 7. November 2017, a.a.O.; vgl. weiter Landinfo – Norwegian Country of Origin Information Centre, “Report Somalia: Marriage and divorce” vom 14. Juni 2018, S. 17). Daher ist eine vor einer geistlich bewanderten Person wie einem Sheikh im Juni 2006 geschlossene Ehe selbst ohne Registrierung als wirksame Ehe anzusehen (vgl. auch VG Trier, Gerichtsbescheid vom 4. März 2016 – 5 K 3320/15.TR -, juris, Rdnr. 24 f.; Österr. BVwG, Erkenntnis vom 7. November 2017, a.a.O.).
Im Übrigen wäre auch noch zu prüfen, ob die Eltern des stammberechtigten Kindes im Verfolgerstaat bzw. Herkunftsland überhaupt wirksam verheiratet gewesen sein mussten, damit der Anwendungsbereich des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG eröffnet ist (so VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juni 2019 – A 10 K 9441/17 -, juris, Rdnr. 29 ff.; VG Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 1 K 6953/17.KS.A -, juris, Rdnr. 24; Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 26 AsylG, Rdnr. 16 i.V.m. 12; wohl auch BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, § 26 AsylG, Rdnr. 23b) oder ob es dazu ausreicht, dass die Eltern in einer (familiären) Lebensgemeinschaft – möglicherweise sogar nur in einer Beziehung – gelebt hatten (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 21. September 2018 – 4 Bf 186/18.A -, juris, Rdnr. 29; VG Freiburg, Urteil vom 27. August 2020 – A 10 K 8179/17 -, juris, Rdnr. 33 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 – A 17 K 9210/17 -, juris; GK-AsylG, a.a.O. § 26 Rdnr. 63; vgl. auch Huber/Mantel Aufl. 2021 AufenthG/AsylG, 3. Aufl., § 26 AsylG, Rdnr. 16; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 26 AsylG, Rdnr. 27; unklar VGH Bayern, Urteil vom 5. September 2019 – 21 B 16.31043 -, juris, Rdnr. 27; und Urteil vom 26. April 2018 – 20 B 18.30332 -, juris, Rdnr. 26).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinsichtlich der Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG grundsätzliche Bedeutung hat.


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