Verwaltungsrecht

Aussetzung der Abschiebung (Duldung), Rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise (abgelehnt), Vater eines Säuglings, Rechtskraft früherer Entscheidungen

Aktenzeichen  M 10 E 21.2996

Datum:
18.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 17986
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erneut gegen seine Abschiebung in die Ukraine.
Hinsichtlich des Sachverhalts wird zunächst auf die Gründe des zwischen den Beteiligten ergangenen Beschlusses der Kammer vom 21. Januar 2021 (M 10 E 20.6771) sowie auf den Tatbestand des Urteils vom 6. August 2020 (M 12 K 20.1283), in dem insbesondere die strafrechtliche Vorgeschichte des Antragstellers ausführlich dargestellt wird, Bezug genommen und zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung abgesehen, § 122, § 117 Abs. 3 VwGO. Ergänzend wird ausgeführt:
Bereits im Verfahren M 12 K 20.1283 beantragte der Antragsteller unter anderem, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm eine Duldung zu erteilen. Mit Urteil vom 6. August 2020 wies das Verwaltungsgericht München die Klage ab. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass die Ausreise des Antragstellers nicht deshalb aus rechtlichen Gründen unmöglich sei, weil er sich um das Kind seiner Lebensgefährtin kümmere. Mit Beschluss vom 12. November 2020 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung ab und führte im Hinblick auf die zwischenzeitlich erfolgte Eheschließung aus, dass im Rahmen der gebotenen Einzelfallbetrachtung und Interessenabwägung zulasten des Antragstellers zu berücksichtigen sei, dass er die Ehe in beiderseitigem Wissen um seine vollziehbare Ausreisepflicht und unsichere Aufenthaltsperspektive geschlossen habe.
Im Verfahren M 10 E 20.6771 beantragte der Antragsteller, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, einstweilen von der Durchsetzung seiner Ausreisepflicht durch Abschiebung in die Ukraine abzusehen. Mit Beschluss vom 21. Januar 2021 lehnte das Verwaltungsgericht München den Antrag ab. Mit Beschluss vom 28. Januar 2021 gab der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Beschwerde des Antragstellers statt und verpflichtete die Antragsgegnerin, eine für den 29. Januar 2021 geplante Abschiebung des Antragstellers auszusetzen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 2 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Bezug auf seine Ehe und die bestehende (Risiko-)Schwangerschaft seiner Ehefrau aus Art. 6 GG hinreichend glaubhaft gemacht habe. Der Anspruch ergebe sich zwar noch nicht aus der Eheschließung als solcher, aber aus der hinreichend glaubhaft gemachten Risikoschwangerschaft der Ehefrau. Nach Art. 6 Abs. 4 GG habe jede, insbesondere jede werdende Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft. Der Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG erfasse Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Neben dem verbindlichen Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, der vor allem die Gewährung einer „Schonzeit“ vor und nach der Geburt fordere, sei die Verfassungsnorm Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des öffentlichen und privaten Rechts verbindlich sei. Die Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG für den ausländischen Vater eines noch nicht geborenen deutschen Kindes komme dann in Betracht, wenn eine Gefahrenlage für das ungeborene Kind oder die Mutter (Risikoschwangerschaft) bestehe und die Unterstützung der Schwangeren durch den Abzuschiebenden glaubhaft gemacht werde. Eine bestehende Risikoschwangerschaft und die Gefahr einer Frühgeburt habe der Antragsteller durch Vorlage eines fachärztlichen Attests glaubhaft gemacht. Ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass er die erforderliche Unterstützung bzw. Beistandsleistung nicht erbringen werde, lägen dem Senat aktuell nicht vor. Sollte sich allerdings im weiteren Verlauf der Schwangerschaft ergeben, dass der Antragsteller seine Ehefrau entgegen der jetzigen Einschätzung nicht entsprechend unterstütze, würde die dargelegte Schutzwirkung des Art. 6 GG und damit die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegfallen.
Mit Schriftsatz vom 15. Januar 2021 erhob der Antragsteller zudem Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragt erneut, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm eine Duldung zu erteilen (M 10 K 21.310).
Aufgrund der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Januar 2021 erteilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller zunächst eine bis 26. Februar 2021 gültige Duldung und verlängerte diese laufend, letztmals am 14. Mai 2021 bis 8. Juni 2021 (BA Bl. 1001, 1053).
Ausweislich einer vorgelegten Meldebestätigung der Gemeinde … vom 12. Februar 2021 zog der Antragsteller am 29. Januar 2021 in die von seiner Ehefrau bewohnte Wohnung in …
Mit E-Mail vom 15. Februar 2021 übertrug das Landratsamt München der Antragsgegnerin gemäß Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG die ausländerrechtliche Zuständigkeit für das Verfahren.
Am 9. April 2021 wurde der Sohn des Antragstellers geboren.
Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2021 trug die Antragsgegnerin im Verfahren M 10 K 21.310 vor, dem dort Bevollmächtigten sei in einem Telefonat am 9. April 2021 mitgeteilt worden, dass der Antragsteller acht Wochen ab Geburt geduldet werde und dann aus Sicht der Antragsgegnerin keine Duldungsgründe mehr vorlägen. Dem Antragsteller sei ab dem 5. Juni 2021 die Ausreise (wieder) zumutbar (BA Bl. 1934).
Mit Schreiben vom 19. Mai 2021 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller auf, bis spätestens 8. Juni 2021 ein Flugticket mit Flugtermin bis spätestens 16. Juni 2021 vorzulegen. Andernfalls behalte sie sich vor, erneut Vollzugsmaßnahmen einzuleiten (BA Bl. 1049).
Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2021 beantragt der Antragsteller:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Abschiebung bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts im Verfahren M 10 K 21.310 auszusetzen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden könnten. Die Abschiebung des Antragstellers in die Ukraine verletze Art. 6 GG in dreifacher Hinsicht. Die Abschiebung würde die Rechtsordnung deutlich empfindlicher berühren, als der Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet dies tun würde.
Zu Art. 6 Abs. 1 GG wird unter anderem ausgeführt, dass nicht nur die Beziehung des Antragstellers zu seiner Ehefrau sowie seinem leiblichen Kind, sondern auch zu seinem Stiefsohn von der Schutzwirkung des Art. 6 GG erfasst sei. Die Abschiebung würde das Zusammenleben – jedenfalls in Deutschland – auf Zeit unmöglich machen. Das Grundrecht sei vorbehaltlos gewährleistet und könne nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. An die Rechtfertigung eines Eingriffs seien daher hohe Anforderungen zu stellen. Als kollidierendes Verfassungsgut komme allenfalls das staatliche Interesse an einer geordneten Ausländer- bzw. Migrationspolitik in Betracht, jedoch nicht das (verfassungsrechtlich kaum ausfindig zu machende) „Recht der Bevölkerung auf Schutz vor Straftätern“. Dieser Schutz sei der Strafrechtspflege und ihren Sanktionsmechanismen sowie den Maßregeln der Sicherung und Besserung vorbehalten, nicht aber der Ausländerbehörde. Der Antragsteller sei überdies seit geraumer Zeit nicht mehr straffällig geworden und stehe unter positiver Legalprognose. Die Antragsgegnerin habe ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von mindestens sechs Jahren angeordnet, sodass eine Einreise mittels Visums bei einer Ausreise 2021 frühestens 2027 möglich sein würde.
Auch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sei verletzt. Die Gesamtverantwortung der Eltern erstrecke sich auf alles, was die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes beeinflusse und gestalte. Die Abschiebung des Kindsvaters stelle für beide Kinder eine Trennung von einer ihrer wichtigsten Bezugspersonen dar und müsse daher von der Rechtfertigungslast dem gerecht werden, wie es eine Maßnahme nach Art. 6 Abs. 3 GG müsse. Dies sei offenkundig nicht der Fall. Weder liege ein (erzieherisch zu bestimmendes) Versagen des Antragstellers vor, noch bestehe eine sonstige Kindeswohlgefährdung. Der Grundrechtseingriff sei im Übrigen unverhältnismäßig.
Überdies bestehe der sich aus Art. 6 Abs. 4 GG ergebende Fürsorgeanspruch der Mutter, welchen der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in den Mittelpunkt seines Beschlusses vom 28. Januar 2021 gestellt habe, unverändert fort. Er sei insbesondere nicht auf die acht Wochen nach der Geburt beschränkt. Der Schutz- und Fürsorgeanspruch des Art. 6 Abs. 4 GG erstrecke sich in zeitlicher Hinsicht nicht nur auf Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit bzw. die für die Erholung erforderliche Zeit nach der Geburt. Angesichts dessen, dass es an einer entsprechenden Einschränkung des Wortlauts fehle, beziehe sich dieser Anspruch vielmehr auch auf spätere Lebensphasen, sofern Belastungen ausgeglichen werden sollten, die auf der Mutterschaft beruhten. Diese Maßstäbe zugrunde legend, begegne eine Abschiebung des Antragstellers kurz nach der in § 3 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (Mutterschutzgesetz – MuSchG) geregelten Schutzfrist durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, zumal die Schutzfrist nach Entbindung wegen der Risikoschwangerschaft zwölf Wochen betrage (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 2 MuSchG). Die Ehefrau des Antragstellers sei weiterhin auf dessen Fürsorge und Hilfe angewiesen, weil sie – gerade in der Corona-Pandemie – die Versorgung von zwei Kleinkindern alleine nicht gewährleisten könne. So seien etwa Arztbesuche nur mit einem Kind möglich, weil pandemiebedingt von der Mitnahme des anderen Kindes dringend abgeraten werde. Die Problematik werde dadurch verschärft, dass das zuletzt geborene Kind wegen der angeborenen Klumpfüße in absehbarer Zeit auf ständige ärztliche Begleitung angewiesen sei. Auch Erledigungen des täglichen Lebens seien ohne zusätzliche Inanspruchnahme von Hilfe kaum denkbar. Durch die Abschiebung des Antragstellers würde die Ehefrau faktisch zur Alleinerziehenden werden und das, obwohl sowohl eine intakte Ehe als auch eine intakte familiäre Lebensgemeinschaft bestehe.
Die Antragsgegnerin stelle die Sachlage bisweilen so dar, als sei die nationale Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland von dem Vollzug der Ausweisung abhängig. Dem werde die Realität keineswegs gerecht. Die zugrundeliegende Ausweisung liege 13 Jahre zurück. In dieser Zeit habe die Antragsgegnerin, ohne dass es Abschiebungshindernisse gegeben habe, jedwede Bemühung zum Vollzug der Ausweisung unterlassen. Sie habe vielmehr damit gewartet, bis der Antragsteller nunmehr als junger Familienvater fest in der Verantwortung nicht nur für sich selbst stehe und damit ihr „Recht auf Vollzug“ in einem denkbar schlechten Zeitpunkt zur Geltung gebracht. Wenn die Antragsgegnerin bislang einen so langen Zeitraum abgewartet habe, müsse sie gewichtige Gründe vortragen, aus denen sich das Bedürfnis eines sofortigen Vollzugs ergebe. Solche Gründe seien ersichtlich nicht gegeben. Bei der Abwägung seien auch die Rechtspositionen der übrigen Beteiligten zu berücksichtigten. Die Ehefrau, der Stiefsohn und der leibliche Sohn seien deutsche Staatsangehörige, denen nicht ohne weiteres zugemutet werden könne, ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland aufzugeben, um die familiäre Einheit aufrechtzuerhalten. Die bisherigen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte stünden den Rechtsausführungen nicht entgegen. Im Übrigen wird auf die Begründung Bezug genommen.
In einer eidesstattlichen Versicherung vom 7. Juni 2021 führte die Ehefrau des Antragstellers aus, ihr Sohn aus einer früheren Beziehung sehe den Antragsteller als Ersatzvater. Der Antragsteller bringe den Sohn täglich in den Kindergarten und hole ihn auch ab. Er sei während und nach der Geburt eine wichtige Stütze für sie gewesen. Gerade in der Pandemie sei es unmöglich, zwei Kinder gleichzeitig zu umsorgen, zumal sie mit dem jüngeren Sohn häufig zum Arzt müsse. Dort sei sie aber angehalten, wegen bestehender Ansteckungsgefahr immer alleine mit dem Kind zu kommen. Mit dem Antragsteller zusammen sei das aber gut machbar. Im Übrigen wird auf den Inhalt der Versicherung Bezug genommen.
Außerdem wurde ein Bericht eines Facharztes für Orthopädie und Kinderorthopädie vom 28. Mai 2021 vorgelegt. Danach sei der Sohn des Antragstellers aufgrund angeborenen Klumpfußes in Behandlung. Für vier bis sechs Wochen müssten einmal pro Woche Repressionsgipse angelegt werden. Die Dauer der Behandlung in der Praxis betrage (jeweils) zwischen 30 und 60 Minuten. Coronabedingt sei die Anwesenheit von Geschwisterkindern in der Praxis aus medizinischer Sicht nicht erwünscht. Sollte zusätzlich eine operative Achillessehnendurchtrennung notwendig sein, würde post-operativ nochmals vier Wochen lang eine Gipsanlage erfolgen.
Mit Schriftsatz vom 15. Juni 2021 beantragt die Antragsgegnerin:
Der Antrag wird abgelehnt.
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte, auch in den Verfahren M 12 K 20.1283, M 12 S 20.1284, M 10 K 21.310 und M 10 E 20.6771, Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zum Teil zulässig, bleibt in der Sache jedoch ohne Erfolg.
1. Der erneute Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist insoweit zulässig, als mit ihm ein neuer Sachverhalt geltend gemacht wird.
Soweit der Antragsteller Umstände vorträgt, die bereits in dem Verfahren M 12 K 20.1283 geltend gemacht wurden, steht dem Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits die Rechtskraft der dortigen Entscheidung entgegen. Mit Beschluss vom 12. November 2020 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil vom 6. August 2020 ab (10 ZB 20.2257 – juris), sodass das Urteil des Verwaltungsgerichts in Rechtskraft erwachsen ist. Die Rechtskraft erstreckt sich dabei auf den Streitgegenstand des damaligen Verfahrens, nach dem herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstand damit auf den Klageanspruch und den Klagegrund, also den tatsächlichen Lebenssachverhalt, aus dem der Antragsteller die begehrte Rechtsfolge herleitete (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 121 Rn. 23). Daher scheidet insbesondere die Beziehung des Antragstellers zu dem Sohn seiner Ehefrau aus einer früheren Beziehung als Grundlage für einen Anordnungsanspruch aus. Auch die Ehe des Antragstellers war bereits Gegenstand des Zulassungsverfahrens und begründete nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs keine Unmöglichkeit der Ausreise. In seiner Entscheidung vom 28. Januar 2021 (10 CE 21.313) stellte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof erneut fest, dass sich aus der bestehenden Ehe des Antragstellers als solcher noch kein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung ergibt (Rn. 7). Auch insoweit scheidet eine erneute Aussetzung der Abschiebung aus.
2. Im Übrigen ist der Antrag nach § 123 VwGO unbegründet, da der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung). Insbesondere liegt keine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor.
Ein rechtliches Ausreisehindernis ergibt sich insbesondere nicht unter Berücksichtigung der familiären Situation des Antragstellers aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK.
Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK gewähren einen unmittelbaren Anspruch des Ausländers auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde und das Gericht, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 f.). Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehöriger ist und ihm wegen der Beziehungen zu seinem anderen Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Rechtspositionen des Kindes und seiner Eltern im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere sei deshalb maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit bestehe, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris; B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris; vgl. auch BVerwG, U.v. 20.2.2003 – 1 C 13/02 – BVerwGE 117, 380, 390 f.).
Im vorliegenden Fall führt die gebotene Einzelfallbetrachtung und Interessenabwägung nicht zu einer Unmöglichkeit der Ausreise. Die einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland treten im Fall des Antragstellers nicht gegenüber der Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, zurück. Das öffentliche Interesse am Vollzug der Ausreisepflicht des Antragstellers wiegt schwerer als die familiären Belange des Antragstellers.
a) Eine Unmöglichkeit der Ausreise folgt nicht nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG aus der Beziehung des Antragstellers zu seinem am 9. April 2021 geborenen Sohn.
Zwar ist dem Antragsteller darin zuzustimmen, dass seine Abschiebung einen gravierenden Einschnitt in seine Beziehung zu seinem Sohn und damit einen erheblichen Eingriff in Art. 6 GG darstellt. Aufgrund seines aktuellen Alters ist der Sohn in besonders hohem Maße auf die Fürsorge seiner Eltern angewiesen. Der Beitrag des Antragstellers als Vater lässt sich dabei auch nicht durch Dritte, insbesondere die Kindsmutter, ersetzen. Gleichwohl lässt sich der Grundrechtseingriff nach Auffassung der Kammer vorliegend rechtfertigen. Eine Unzumutbarkeit der Ausreise liegt insoweit nicht vor. Wie der Bevollmächtigte des Antragstellers selbst einräumt, besteht ein Interesse der Öffentlichkeit an einer geordneten Ausländer- und Migrationspolitik. Dazu zählt auch, dass der Aufenthalt derjenigen Ausländer, die nicht zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt sind, grundsätzlich beendet wird. Nur dann entfaltet das geltende Ausländerrecht volle Wirkung. Ein öffentliches Interesse daran, dass sich nur Personen in Deutschland aufhalten, die zum Aufenthalt berechtigt sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Dabei ist das öffentliche Interesse an der Abschiebung von Straftätern als besonders hoch zu gewichten. Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers ausführt, dass sich kein „Recht der Bevölkerung auf Schutz vor Straftätern“ ausfindig machen lasse, ist dem entgegenzuhalten, dass beispielsweise bereits aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG das Recht auf körperliche Unversehrtheit und aus Art. 14 Abs. 1 GG die Eigentumsgarantie folgen. Mittel zum Schutz der Bevölkerung sind dabei nicht nur die der Strafrechtspflege, sondern auch die der Ausländerbehörde zustehende Befugnis zur Ausweisung von Straftätern und in der Folge deren Abschiebung.
Aufgrund der Vielzahl der zurückliegenden Straftaten und des bekannten aggressiven Auftretens des Antragstellers besteht weiterhin eine hohe vom Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr. Eine positive Legalprognose vermag die Kammer entgegen den Ausführungen des Antragstellers nicht festzustellen. In diesem Zusammenhang ist nochmals die bereits geäußerte Auffassung der Kammer zu wiederholen, dass aufgrund des in der Vergangenheit gezeigten Verhaltens des Antragstellers auch eine erneute Inhaftierung nicht ausgeschlossen werden kann, die ebenfalls einen gravierenden Eingriff in die Beziehung des Antragstellers zu seinem Sohn bedeuten würde.
b) Eine Unmöglichkeit der Ausreise folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 4 GG.
Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers ausführt, dass die gesetzliche Schutzfrist im Falle der Ehefrau des Antragstellers vorliegend aufgrund der zurückliegenden Risikoschwangerschaft nach § 3 Abs. 2 Satz 2 MuSchuG zwölf Wochen betrage, kann dem derzeit nicht gefolgt werden. Eine Frühgeburt liegt nicht bereits dann vor, wenn das Kind wenige Tage vor dem errechneten Entbindungstermin zur Welt kommt. Eine Frühgeburt im medizinischen Sinn meint die Entbindung eines Kindes vor dem errechneten Geburtstermin, das bei der Geburt weniger als 2.500 g wiegt oder trotz höheren Körpergewichts noch nicht alle medizinisch festgelegten Reifezeichen aufweist (z.B. an Rumpf oder Nägeln) und einen wesentlich höheren Pflegebedarf hat, wobei derartige Feststellungen dem Arzt oder der Hebamme obliegen (Dahm in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Arbeitsrecht, 59. Edition, Stand: 1.3.2021, § 3 MuSchG Rn. 24).
Weder zum Gewicht des Kindes bei Geburt, noch zur damaligen Entwicklung des Kindes wurden Nachweise vorgelegt. Der vorgelegte Auszug aus dem Untersuchungsheft spricht gegen das Vorliegen der genannten Voraussetzungen. So hatte der Sohn des Antragstellers am 25. Mai 2021 mit beidseitigem Gips ein Körpergewicht von 4.670 g und wurde als „fitter Junge“ beschrieben. Zudem wurde sein Sohn nach dem eigenen Vortrag des Antragstellers lediglich knapp eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin geboren, was eine unvollständige Entwicklung des Kindes nochmals unwahrscheinlicher erscheinen lässt. Auch ein Antrag auf Verlängerung der Schutzfrist aufgrund einer ärztlich festgestellten Behinderung nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3, Satz 4 MuSchG wurde nicht glaubhaft gemacht. Nach § 3 Abs. 2 Satz 3 MuSchG verlängert sich die Schutzfrist jedoch um die Zeit, um die die Schutzfrist vor der Entbindung aufgrund einer Geburt vor dem errechneten Geburtstermin nach § 3 Abs. 1 Satz 4 MuSchG verkürzt wurde. Auch unter Einbeziehung dieser Verlängerung ist die Schutzfrist jedoch jedenfalls abgelaufen, immerhin liegt die Geburt inzwischen bereits zehn Wochen zurück.
Dass die von der Antragsgegnerin erteilte Duldung offenbar an die Schutzfristen des Mutterschutzgesetzes anknüpft, ist nicht rechtsfehlerhaft. Der der Schutzfrist zugrundeliegende Gedanke, dass einer Mutter nach der Entbindung gerade in diesem Zeitraum noch keine Arbeitstätigkeit zugemutet werden kann, lässt sich auch auf die erforderliche Dauer der Duldung des Kindsvaters übertragen. Während dieses Zeitraums sollte die Belastung für die Mutter möglichst gering gehalten und ihr eine Erholung von der Geburt ermöglicht werden. Nach Ablauf der Schutzfrist ist der Mutter nach der gesetzlichen Regelung jedoch auch eine Erwerbstätigkeit wieder zumutbar. Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, wieso die Mutter ab diesem Zeitpunkt weiterhin unbedingt auf die Anwesenheit des Kindsvaters angewiesen wäre und einwanderungspolitische Belange auch nach Ablauf der Schutzfrist grundsätzlich zurücktreten müssten. Umstände, die vorliegend eine längere Unterstützung zwingend erfordern würden, sind nicht ersichtlich.
Dass die Abwesenheit des Antragstellers im Hinblick auf die Versorgung und Erziehung der Kinder zu einer vermehrten Belastung seiner Ehefrau führt, steht der Abschiebung nicht entgegen. Auch insoweit lässt sich der Eingriff rechtfertigen, wobei zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen unter a) verwiesen wird. Auch dem Vortrag des Antragstellers, seine Ehefrau sei aufgrund der aktuellen pandemiebedingten Einschränkungen verstärkt auf seine Unterstützung angewiesen, ist nicht zu folgen. Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass Geschwisterkinder aktuell bei der Untersuchung eines Kindes in der Praxis nicht erwünscht seien, folgt daraus keine erhebliche Erschwernis für die Ehefrau. Ausweislich ihrer eidesstattlichen Versicherung geht ihr älterer Sohn in den Kindergarten. Ein Besuch beim Arzt mit dem jüngeren Sohn wäre daher am Vormittag ohne weiteres möglich. Auch lässt sich nicht ausschließen, dass mit den betreffenden Arztpraxen im Einzelfall Möglichkeiten zur Anwesenheit des Geschwisterkindes gefunden werden können, immerhin ist dessen Anwesenheit nach Angaben des Kinderorthopäden lediglich „nicht erwünscht“.
c) Ein Zurücktreten des öffentlichen Interesses am Vollzug der Ausreisepflicht lässt sich auch nicht deshalb annehmen, weil die Antragsgegnerin mit dem Vollzug so lange gewartet hat, dass der Antragsteller inzwischen Familienvater ist. Wie bereits mehrfach in den ergangenen Gerichtsentscheidungen ausgeführt, war dem Antragsteller bereits vor der Eheschließung und vor Beginn der Schwangerschaft bewusst, dass er vollziehbar ausreisepflichtig war. Dass er dieser Ausreisepflicht so lange nicht nachkam und schließlich in der Bundesrepublik Deutschland eine Familie gründete, ist damit in erster Linie ihm zuzurechnen. Dass sein Aufenthalt von der Antragsgegnerin so lange nicht beendet wurde, stellt für ihn grundsätzlich einen Vorteil dar. Auch der Ehefrau des Antragstellers war bei der Eheschließung und unter Umständen auch bei Beginn der Schwangerschaft – ausweislich ihrer eidesstattlichen Versicherung erfuhr sie Mitte 2020 von der drohenden Abschiebung und im August 2020 von der Schwangerschaft – bewusst, dass dem Antragsteller eine Abschiebung droht.
d) Soweit der Antragsteller zudem vortragen lässt, eine Unzumutbarkeit der Ausreise ergebe sich auch aus dem Umstand, dass ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG aufgrund des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots in den nächsten Jahren nicht erteilt werden dürfe, ist dem entgegenzuhalten, dass für den Antragsteller die Möglichkeit besteht, eine Verkürzung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch einen entsprechenden Antrag zu erreichen. Im Rahmen dieses Verfahrens sind seine familiären Belange ebenfalls zu berücksichtigen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs 2013.


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