Verwaltungsrecht

Ausweisung eines jordanischen Staatsangehörigen, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von wegen mehrfacher Körperverletzung gegenüber der volljährigen Schwester, Einwendungen gegen das Strafurteil, Interessenabwägung, erfolgloser Asylfolgeantrag

Aktenzeichen  10 ZB 21.1725

Datum:
5.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30904
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3
AufenthG § 53, § 60 Abs. 5 und 7

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 24 K 20.67 2021-04-22 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 22. April 2021, mit dem seine Klage gegen den Bescheid vom 10. Dezember 2019 abgewiesen wurde. Die Beklagte hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid die Ausweisung des Klägers verfügt, für die Dauer von zehn Jahren ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und die Abschiebung nach Jordanien angedroht.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.).
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass der Kläger, der durch Urteil des Amtsgerichts Wolfratshausen vom 28. Juni 2018 (im Rechtsfolgenausspruch geändert durch Urteil des Landgerichts München II vom 25. Februar 2019) wegen Körperverletzung zu Lasten seiner älteren Schwester in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden war, erneut erheblich straffällig werde. Der Kläger habe keine echte Reue gezeigt, was bereits das Landgericht ausgeführt habe und auch im Führungsbericht der JVA vom 24. März 2021 Erwähnung finde. Zwar befinde sich das Tatopfer in einem Zeugenschutzprogramm, die jüngere Schwester des Klägers habe inzwischen aber ebenfalls das Teenageralter erreicht, sodass erneut eine Situation wie beim Tatopfer, der älteren Schwester des Klägers, entstehen könnte. Zudem bestehe auch ein generalpräventives Interesse an der Ausweisung. Mit der Ausweisung werde konkret verdeutlicht, dass Gewalt zur Aufrechterhaltung der „Ehre“, zumal in der vorliegend schweren Form mit dem brutalen Vorgehen des Klägers zu Lasten seiner Schwester, in Deutschland nicht hingenommen werde. Das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiege das Bleibeinteresse. Der Kläger sei ledig und kinderlos. Sonstige schützenswerte soziale Bindungen im Bundesgebiet habe er nicht. Die geltend gemachten Gefahren bei einer Rückkehr nach Jordanien seien zielstaatsbezogene Aspekte, hinsichtlich derer das Gericht gem. § 42 AsylG an die entsprechende (ablehnende) Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gebunden sei.
Das Zulassungsvorbringen führt hierzu aus, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht vom Vorliegen einer Wiederholungsgefahr ausgegangen sei. Die vom Kläger verübten Straftaten seien nicht im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. Die Schwester des Klägers sei dadurch auch nicht nachhaltig und schwer verletzt worden. Gegen den Kläger sei eine deutlich überhöhte Strafe verhängt worden, eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten sei nicht gerechtfertigt gewesen. Das Erstgericht habe bei der Prognoseentscheidung nicht berücksichtigt, dass die Schwester in der Pubertät gewesen sei und sie sich zum Teil in nicht nachvollziehbarer Weise ihrer Mutter widersetzt habe und diese dabei als alleinerziehende Mutter in Erziehungsaufgaben überfordert gewesen sei. Der Kläger sei bei der Tat erst 23 Jahre alt gewesen und von seiner Mutter angestiftet worden. Zu Unrecht sei das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger die Taten aus einer Gesinnung, die tief in der Familie gewurzelt habe, begangen habe. Der Kläger habe sich zum Tatzeitpunkt erst seit drei Jahren im Bundesgebiet aufgehalten, insofern könne ihm die tiefe Verwurzelung in seiner Herkunftskultur nicht vorgeworfen werden. Tatsächlich gehe das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon aus, dass der Kläger tief in die Zwänge der Clankultur eingebunden sei. Dies habe er lediglich im Hinblick auf in Jordanien drohende Gefahren durch den Clan vorgetragen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass das Erstgericht davon ausgehe, er habe keine echte Reue gezeigt; noch in der mündlichen Verhandlung habe er auf Knien um Vergebung gebeten. Zu seiner jüngeren Schwester bestehe eine sehr gute Beziehung, sodass dieser keine Gefahr drohe. Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr hätte das Verwaltungsgericht vielmehr berücksichtigen müssen, dass der Kläger seine Taten lediglich über einen kurzen Zeitraum hinweg begangen habe, er bislang nicht straffällig gewesen sei, die Taten nicht der Schwerkriminalität zuzuordnen seien, die Straftaten nur gegen die damals 19-jährige Schwester begangen worden seien, er aufgrund des Todes des Vaters psychisch angespannt gewesen, die Mutter mit der Erziehung ihrer vier Kinder gänzlich auf sich allein gestellt gewesen sei, er infolge der abschreckenden dreijährigen Hafterfahrung in Zukunft keine Körperverletzung mehr begehen werde, er Opfer von unberechtigten Anschuldigungen seiner Schwester geworden sei und der Schwester nicht klar gewesen sei, welche Folgen die Anzeige der Taten nach sich ziehen werde. Auch generalpräventive Gründe lägen nicht vor, das Erstgericht habe insofern den Einzelfall prüfen und weniger einschneidende Maßnahmen wie ein Antigewalttraining oder Therapiemaßnahmen in Betracht ziehen müssen. Zudem bestünden schwerwiegende Bleibeinteressen. Die minderjährige Schwester verfüge zwar nur über eine Duldung, sie habe aber infolge ihres hohen Integrationsstatus einen Aufenthaltstitel nach § 25a AufenthG beantragt, über diesen Antrag sei ein gerichtliches Verfahren anhängig. Abgeleitet von der Tochter könne auch der Mutter auf Aufenthaltsrecht zustehen. Zudem leide der Kläger an Panikstörungen und Depressionen, im Falle der Rückkehr drohe ihm Gefahr durch den Clan, weil er ohne seine ältere Schwester zurückkehre. Daraus ließe sich ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ableiten. Insoweit werde auf das Stammesurteil vom 17. Januar 2018 verwiesen. In diesem Zusammenhang habe das Erstgericht auch nicht die neueste Rechtsprechung des EuGH bezüglich straffällig gewordener Flüchtlinge berücksichtigt (Entscheidung vom 14.5.2019, C-391/16).
Dieses Vorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils.
Das Verwaltungsgericht ist zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten begehen wird und hat dabei einen Prognosemaßstab zugrunde gelegt, der die Schadenswahrscheinlichkeit mit dem Schadensausmaß in Relation setzt (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 10 ZB 19.777 – juris Rn.7. m.w.N.). Angesichts der Wertigkeit des gefährdeten Schutzguts körperliche Unversehrtheit reicht auch eine nur entferntere Möglichkeit eines weiteren Schadenseintritts aus.
Entgegen der Auffassung des Klägers durfte das Verwaltungsgericht die strafrechtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen bei der Feststellung des Vorliegens einer Wiederholungsgefahr ohne weitere Nachprüfung zugrunde legen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, B.v. 24.2.1998 – 1 B 21.98 – juris zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990; B. v. 8.5.1989 – 1 B 77.89 – InfAuslR 1989, 269 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965, jeweils m.w.N.) erfordert die Anwendung der auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung abstellenden Ausweisungstatbestände keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Soweit es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung etwa auf die Umstände der Tatbegehung ankommt – z.B. im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr – besteht zwar keine derartige strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Es ist aber geklärt, dass die Ausländerbehörden – und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte – in dieser Beziehung ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen können und die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen dürfen (OVG NRW, B.v. 8.12.2015 – 18 A 2462/13 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 5.9.2018 – 10 ZB 18.1121 – juris). Etwas Anderes gilt nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür dargetan werden, dass sich dem Verwaltungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.
Solche konkreten Anhaltspunkte ergeben sich weder aus dem Vorbringen in der ersten Instanz noch aus dem Zulassungsvorbringen. Die Einwände zur Strafhöhe setzen lediglich die eigene Auffassung zur Schuldschwere an die Stelle der Bewertung der Strafgerichte, ohne sich mit deren Strafzumessungserwägungen auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Auch der Einwand des Klägers, seine Schwester habe ihn zu Unrecht beschuldigt, lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass er die der strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Straftaten begangen hat und den Taten die vom Strafgericht angenommene Motivation zugrunde lag. Das Strafgericht hat sich ausführlich mit der Glaubwürdigkeit der Schwester und der vernommenen Zeugen beschäftigt; es hält sie für glaubwürdig und deren Angaben für glaubhaft. Dagegen überzeugt das Vorbringen des Klägers, zum „spätpubertären“ Verhalten des Tatopfers nicht. Die Schwester war zum Zeitpunkt der Körperverletzungsdelikte bereits 19 Jahre alt und damit weit jenseits der Pubertät. Die körperlichen Übergriffe des Klägers endeten auch nicht, weil er das Unrecht seines Tuns einsah, sondern weil seine Schwester am 17. Juni 2016 in das Frauenhaus floh. Da der Kläger, sein Bruder und seine Mutter versuchten, das Tatopfer ausfindig zu machen, um sie zur Wiederherstellung der Familienehre zu töten, lebt diese seither in einem Zeugen- bzw. Opferschutzprogramm und hat ihre frühere Identität abgelegt.
Das Verwaltungsgericht ist daher zu Recht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit – insbesondere der minderjährigen Schwester – durch den Kläger ausgegangen. Insbesondere kann der Senat noch immer keine echte Reue beim Kläger erkennen. Im Führungsbericht der JVA Landsberg am Lech vom 24. März 2021 ist ausgeführt, es sei beim Kläger keine Tateinsicht erkennbar, vielmehr sehe er das Problem nach wie vor bei seiner Schwester, dem Tatopfer. Diese Haltung wird auch im Zulassungsverfahren erkennbar. Das gesamte Zulassungsvorbringen zur Tat relativiert das Tatgeschehen und gipfelt in Schuldzuweisungen an das Opfer. Eine von Einsicht getragene Reue kommt darin nicht zum Ausdruck. Auch das Vorbringen zur von Straf- und Verwaltungsgericht angenommenen kulturell bedingten Tatmotivation ist bestenfalls widersprüchlich, wenn der Kläger einerseits vorträgt, dass Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht von einer tiefen Einbindung in traditionelle Vorstellungen aus und gleichzeitig anführt, er habe sich zum Tatzeitpunkt erst seit drei Jahren im Bundesgebiet aufgehalten, weswegen ihm die „tiefe Verwurzelung in seiner Herkunftskultur“ nicht vorgeworfen werden könne. Die Tatsache, dass er „Erstverbüßer“ ist und sich nach eigener Darstellung in der Strafhaft ohne Beanstandungen führe (was laut dem Führungsbericht der JVA nicht einschränkungslos zutrifft), führt zu keiner günstigeren Gefahrenprognose. Die Justizvollzugsanstalt kam in ihrer Stellungnahme vom 24. März 2021 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass vom Kläger eine massive Bedrohung für das Tatopfer ausgehe.
Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht die Ausweisung zu Recht auch als aus generalpräventiven Gründen für gerechtfertigt angesehen.
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Nach der Rechtsprechung des Senats können im Einzelfall auch Falschangaben zur Erlangung einer Duldung (BayVGH, B.v. 10.12.2018 – 10 ZB 16.1511 – juris Rn. 19; B.v. 17.9.2020 – 10 C 20.1895 – juris Rn. 10), eine Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde (BayVGH, B.v. 6.3.2020 – 10 ZB 19.2419 – juris Rn. 5), Falschangaben im Visumverfahren (BayVGH, B.v. 28.12.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13), die Verletzung der Passpflicht (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 20.666 – juris Rn. 8), Körperverletzung (BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 7) oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (BayVGH, U.v. 12.11.2020 – 10 ZB 20.1852 – juris Rn. 8 ff.) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2020, § 53 AufenthG Rn. 32). Eine angemessene generalpräventive Wirkung der Ausweisung ist nicht zu erwarten bzw. ein Bedürfnis für ein generalpräventives Einschreiten besteht nicht, wenn der Sachverhalt Besonderheiten, insbesondere derart singuläre Züge aufweist, dass die beabsichtigte Abschreckungswirkung nicht eintritt.
Solche Besonderheiten zeigt das Zulassungsvorbringen im Falle des Klägers nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zu Recht ausgeführt, dass ein besonderes öffentliches Interesse daran besteht, andere Ausländer von der gewaltsamen Durchsetzung außerrechtlicher Ehrvorstellungen abzuschrecken. Dass – wie der Kläger anführt – andere Maßnahmen wie eine Verpflichtung zu einer Therapie oder zu einem Antigewalttraining – eine auch nur ansatzweise vergleichbare abschreckende Wirkung erzielen würden, vermag der Senat nicht zu erkennen.
Das Verwaltungsgericht hat auch zutreffend festgestellt, dass unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG). Hierbei hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf abgestellt, dass die Beziehung zu seiner minderjährigen Schwester und seiner Mutter, die im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein Aufenthaltsrecht haben, nicht so schwer wiegt, dass sie das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen könnte. Dass seine Verwandten auf die Hilfe oder den Beistand des Klägers angewiesen wären, ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Kläger selbst ist in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht integriert. Er hat bis zum 15. Lebensjahr in Jordanien gelebt und ist mit den dortigen Verhältnissen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut.
Soweit sich der Kläger auf seine Erkrankung und die angebliche Bedrohung durch die Familie oder den Clan bei einer Rückkehr nach Jordanien beruft, macht er zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote geltend. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Folgeantrag des Klägers mit Bescheid vom 5. Mai 2020 jedoch abgelehnt und die Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bestehen, nicht abgeändert. Das Verwaltungsgericht durfte bei der Interessenabwägung daher davon ausgehen, dass zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nicht bestehen (§ 42 AsylG), etwas Anderes folgt auch nicht aus der vom Kläger angeführten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, zumal der Kläger nicht als Flüchtling anerkannt ist. Unabhängig davon würde auch ein bestehendes Abschiebungsverbot die Ausweisung für sich genommen nicht rechtswidrig machen. Die Frage eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG) erlangt erst bei der Vollstreckung der Abschiebungsanordnung/-drohung Bedeutung und lässt die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung grundsätzlich unberührt (BayVGH, B.v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 11; B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 10; B.v. 12.8.2019 – 10 ZB 19.1004 – juris Rn. 6; B.v. 13.1.2020 – 10 ZB 19.1599 – juris Rn. 14; B.v. 28.1.2020 – 10 ZB 19.2452 – juris Rn. 6; OVG Bremen, U.v. 5.7.2019 – 2 B 98.18 – juris Rn. 12 m.w.N.). Die spezial- und generalpräventiven Zwecke der Ausweisung können durch die Verschlechterung der aufenthaltsrechtlichen Situation und die damit einhergehende Verhinderung einer Aufenthaltsverfestigung auch dann erreicht werden, wenn eine Abschiebung aufgrund eines Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht möglich ist (BayVGH, B.v. 27.7.2021 – 10 C 21.1318 – juris Rn. 6; vgl. zur sog. inlandsbezogenen Ausweisung Bauer in Bergmann/Dienelt, AufenthG, 13. Auflage 2020, vor § 53 Rn. 24 m.w.N.).
2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist bereits nicht hinreichend dargelegt.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 4; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht annähernd. Der Kläger hat schon keine Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert. Eine solche lässt sich dem Zulassungsvorbringen auch nicht entnehmen. Der Verweis auf die Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 liegt schon deshalb neben der Sache, weil der Kläger nicht als Flüchtling anerkannt ist.
Die Kostenentscheidung beruf auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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