Verwaltungsrecht

Ausweisung nach wiederholten Straftaten – Prognose zur Wiederholungsgefahr

Aktenzeichen  10 ZB 19.777

Datum:
11.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9464
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53
VwGO § 124

 

Leitsatz

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, kann von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 17.4756 2019-03-13 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids des Landratsamts P. a. d. Ilm vom 11. September 2017, mit dem er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.). Auch weist die Rechtssache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (2.) oder eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (3.) auf.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier in Bezug auf die Ausweisung des Klägers nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen einer Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG und insbesondere die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten damit begründet, dass der Kläger wiederholt straffällig geworden sei und die Straftaten eine zunehmende Intensität aufgewiesen hätten. Die zuletzt begangene Straftat sei während offener Bewährung erfolgt und habe sich durch eine hohe kriminelle Energie ausgezeichnet. Der Kläger habe bewaffnet und gemeinsam mit einem anderen eine alleinstehende 75-jährige Frau in deren Haus überfallen, gefesselt und ausgeraubt. In der Strafhaft habe er wegen Verstößen gegen die Arbeitspflicht und Nichtbefolgung der Anweisungen des Personals mehrfach disziplinarisch geahndet werden müssen, eine Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung sei nicht erfolgt. Mangels Einsicht in die Notwendigkeit, sich in eine Arbeitsumgebung einzuordnen, sei zu befürchten, dass er auch nach Haftentlassung den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht gewachsen sei. Problematisch sei insofern auch die vom Kläger gegenüber einem Gutachter und in der mündlichen Verhandlung eingeräumte Alkohol- und Drogenproblematik. In der Haft habe er keine entsprechende Therapie absolviert, weil dies in der betreffenden Vollzugsanstalt nicht angeboten worden sei. Im Übrigen bestehe auch ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Bei Abwägung des aufgrund der Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses einerseits und des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses andererseits überwiege das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung. Der Kläger halte sich zwar seit seinem fünften Lebensjahr im Bundesgebiet auf, sei im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und verfüge über Bindungen an seine hier lebenden Eltern. Er habe sich allerdings vor der Haft nicht wirtschaftlich integrieren können. Zwei Ausbildungen habe er begonnen aber nicht abgeschlossen, Zeiten der Beschäftigung bei verschiedenen Firmen und im Restaurant seiner Eltern hätten sich mit Zeiten der Arbeitslosigkeit abgewechselt. Erst in der Haft habe er den Mittelschulabschluss nachgeholt und einen qualifizierenden Abschluss erworben. Auch habe er in der Haft eine Ausbildung zum Metallbauer begonnen, sei aber seit einiger Zeit aufgrund eigenen Verschuldens von der Arbeit ausgeschlossen. Dem Kläger sei eine Rückkehr in die Russische Föderation zumutbar. Er verfüge dort über eine Tante und eine Großmutter. Auch sei davon auszugehen, dass der Kläger über ausbaufähige Russischkenntnisse verfüge. Der Kläger sei jung und gesund und könne sich deshalb eine Existenz aufbauen.
Demgegenüber rügt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht vorliege. Der Kläger sei inzwischen vorzeitig aus der JVA entlassen worden. In der Haft habe er erfolgreich eine sozialtherapeutische Einrichtung besucht. Bereits aus der Haft heraus habe er Kontakt zur Drogenberatung … e.V. aufgenommen, mittlerweile hätten dort sechs Beratungsgespräche stattgefunden. In der Haft habe er an 14 Sitzungen des sozialen Kompetenztrainings teilgenommen, ebenso an diversen Terminen der externen Suchtberatung. Nach der Haftentlassung habe der Kläger sich bei der psychosozialen Beratungsstelle … in I. gemeldet und wolle dort Beratungsstunden wahrnehmen. Er habe eine Arbeitsstelle finden können. Außerdem lebe seine ganze Familie in Deutschland.
Diese Einwände begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils insbesondere hinsichtlich der Annahme einer Wiederholungsgefahr.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
Gemessen an diesen Grundsätzen kommt der Senat zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung zu der Bewertung, dass nach dem Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass er erneut durch vergleichbare Straftaten die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt.
Der Kläger ist wiederholt und mit steigender Intensität straffällig geworden ist und wurde zuletzt vom Landgericht Ingolstadt mit Urteil vom 2. Dezember 2015 wegen gemeinschaftlich begangenen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung unter Einbeziehung einer Verurteilung wegen Besitzes und Führens einer verbotenen Waffe und Beleidigung zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die letzte Straftat ereignete sich am 8. Februar 2015 während offener Bewährung. Das Landgericht Ingolstadt hat in seiner Urteilsbegründung beim Kläger schädliche Neigungen festgestellt und ausgeführt, der Kläger bedürfe einer längeren Gesamterziehung, um der Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten zu begegnen. Dass eine solche Gesamterziehung durch die Verbüßung der Jugendstrafe mittlerweile dazu geführt haben könnte, dass vom Kläger keine Gefahr mehr ausgeht, ist – auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens – nicht zu erkennen. Der Kläger musste auch in der Strafhaft mehrfach disziplinarisch belangt werden, die im Zulassungsvorbringen erwähnte Sozialtherapie wurde nach Feststellung des Verwaltungsgerichts (S. 4 des UA) vorzeitig abgebrochen. Das Amtsgericht Nördlingen schildert hierzu in seinem Beschluss über die (abgelehnte) Aussetzung der Vollstreckung vom 30. September 2018, der Kläger zeige sich im Hinblick auf die Sozialtherapie nach wie vor uneinsichtig und ablehnend. Unter anderem deswegen sei eine Reststrafenaussetzung abzulehnen. Die im Zulassungsvorbingen angeführte „vorzeitige“ Haftentlassung stellt sich lediglich als Haftverkürzung im Umfang von zehn Tagen dar. Soweit der Kläger auf seine Absicht verweist, eine Alkohol- und Drogentherapie zu beginnen, ist zunächst festzustellen, dass das Landgericht Ingolstadt im Strafurteil vom 2. Dezember 2015 keinen Zusammenhang zwischen einer Abhängigkeit des Klägers und der zuletzt abgeurteilten Straftat festgestellt hat. Sollte der Kläger mit seinem Verweis auf die Alkohol- und Drogenproblematik andeuten wollen, dass eine abgeschlossene Suchttherapie die von ihm ausgehende Gefahr der Begehung weiterer erheblichen Straftaten entfallen lassen würde, würde auch dies derzeit nichts an der Gefahrenprognose ändern. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. vom 16.9.2019 – 10 ZB 19.1614 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.801 – juris Rn. 7; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.) kann bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat.
Im Hinblick auf das (auch) generalpräventiv begründete Ausweisungsinteresse bestehen ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung. Insbesondere ist das generalpräventiv begründete Ausweisungsinteresse gemessen an den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Maßstäben (vgl. U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23; U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 19) zum maßgeblichen Zeitpunkt noch aktuell, die Tilgungsfrist für die gegen den Kläger verhängte Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten beträgt zehn Jahre (§ 46 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c BZRG). Auch die weiteren in der Zulassungsbegründung vorgebrachten Einwände betreffend die Rechtmäßigkeit der Abwägungsentscheidung sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zu begründen. Für die Behauptung im Zulassungsverfahren, der Kläger habe eine Arbeit finden können, gibt es keinen Nachweis. Die weiter angeführten familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet hat das Verwaltungsgericht gewürdigt und zutreffend ausgeführt, dass er und seine Verwandten nicht auf gegenseitige Lebenshilfe angewiesen sind. Angesichts dessen und der erheblichen Gefahr, die vom Kläger ausgeht, ist gegen die Abwägungsentscheidung des Verwaltungsgerichts auch zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Berufungszulassung rechtlich nichts zu erinnern.
2. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten, die die Zulassung der Berufung im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO rechtfertigen würden, liegen ebenfalls nicht vor.
Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 15; B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 17 m.w.N.). Es ist eine Begründung dafür anzugeben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 10 ZB 18.2343 – juris 18). Hierzu ist mit dem Zulassungsantrag nichts vorgetragen.
3. Die Berufung ist schließlich nicht wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Der Zulassungsantrag enthält hierzu keinerlei Ausführungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben