Verwaltungsrecht

Ausweisung nach wiederholten Straftaten, Wiederholungsgefahr, Verhältnismäßigkeit

Aktenzeichen  10 ZB 21.2180

Datum:
17.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30886
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1 und 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 4 K 19.3116 2021-06-29 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 31. Mai 2019, mit dem er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, seine Abschiebung aus der Haft nach Bosnien und Herzegowina angeordnet bzw. nach Haftentlassung angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf fünf Jahre befristet wurde, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (2.).
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Vom Aufenthalt des Klägers gehe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Er habe eine Vielzahl von gravierenden Straftaten, insbesondere Eigentumsdelikte zur Finanzierung seiner Betäubungsmittelabhängigkeit, begangen. Es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers als „faktischer Inländer“ und Besitzer einer Niederlassungserlaubnis und stelle sich auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK als verhältnismäßig dar.
Das Zulassungsvorbringen des Klägers begründet – auch zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25) – keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung.
a) Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der weitere Aufenthalt des Klägers, der seit seiner Jugend betäubungsmittelabhängig ist, wegen zahlreicher Taten strafrechtlich belangt und (rechtskräftig) zuletzt mit Urteil des Amtsgericht München vom 28. November 2017 wegen Diebstahls in 17 tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung und 22 tatmehrheitlichen Fällen des versuchten Diebstahls jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt wurde, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG ausgeht. Dabei ist das Verwaltungsgericht auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens zu Recht davon ausgegangen, dass vom Kläger auch aktuell eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18) und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; zuletzt B.v. 24.3.2020 – 10 ZB 20.138 – Rn. 2) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Ausgehend hiervon teilt der Senat die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Das Verwaltungsgericht hat sich umfassend und detailliert mit den zahlreichen Straftaten des Klägers auseinandergesetzt und ist insbesondere zu Recht von einer vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr ausgegangen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 5.5.2020 – 10 ZB 20.399 – juris Rn. 7; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – juris Rn. 9; B.v. vom 16.9.2019 – 10 ZB 19.1614 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.) kann bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat. Davon kann beim Kläger, der sich noch immer in Therapie befindet, nicht die Rede sein. An dieser Einschätzung vermag auch das im Strafverfahren vom Amtsgericht eingeholte forensische Gutachten nichts ändern. Die damalige Prognose, dass eine Therapie erfolgreich sein könne, ist – worauf das Verwaltungsgericht zu Recht hinweist – überholt. Der Kläger hat im stationären Maßregelvollzug wiederholt Betäubungsmittel konsumiert und erwarb noch am Tag der Entlassung im April 2020 Cannabis zum Eigenkonsum.
b) Auch die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 bis 3, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechts-treu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476). Bei der Abwägung zu berücksichtigen sind danach die Art und die Schwere der begangenen Straftaten, wobei die vom Gesetzgeber vorgenommene typisierende Gewichtung zu beachten ist, das Verhalten des Ausländers nach der Tatbegehung sowie die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat. Die abwägungserheblichen Interessen sind zutreffend zu ermitteln und zu gewichten. Es ist ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen herzustellen, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Ausgehend hiervon werden die Ausführungen des Verwaltungsgerichts weder hinsichtlich der Gewichtung der einzelnen Gesichtspunkte noch hinsichtlich der Gesamtabwägung durch das Zulassungsvorbringen ernstlich in Zweifel gezogen.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass es sich beim Kläger um einen faktischen Inländer mit Niederlassungserlaubnis handelt, der hier aufgewachsen ist und eine reguläre Schulausbildung abgeschlossen hat. Es hat sich auch mit der Behauptung des Klägers auseinandergesetzt, dass er der leibliche Vater eines noch ungeborenen Kindes sei, diese Behauptung als wahr unterstellt und fehlerfrei gewürdigt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12 m.w.N.). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind – wie hier – nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 13 f. m.w.N.). Eine Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose – ist nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen. Das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl hat nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse (BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5).
Gemessen daran ist nicht ersichtlich, dass durch die Ausweisung unverhältnismäßig in eine Vater-Kind-Bindung eingegriffen würde. Abgesehen davon, dass auch mit dem Zulassungsvorbringen nicht dargelegt wird, dass der Kläger tatsächlich Vater des Kindes ist, räumt der Kläger selbst ein, dass eine irgendwie geartete Beziehung zum Kind erst noch „aufgebaut“ werden müsse. Auch die beabsichtigte Eheschließung „nach Beendigung der Therapie“ begründet derzeit für sich genommen und auch zusammen mit den anderen für den Kläger sprechenden Gesichtspunkten keine Bleibeinteresse, das eine Aufenthaltsbeendigung als unverhältnismäßig erscheinen ließe.
2. Der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.
Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 15; B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 17 m.w.N.). Es ist eine Begründung dafür anzugeben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 10 ZB 18.2343 – juris 18). Hierzu ist mit dem Zulassungsantrag nichts Substantielles vorgetragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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