Verwaltungsrecht

Ausweisungsverfügung nach sexuellem Missbrauch von Kindern

Aktenzeichen  M 10 K 18.3238

Datum:
22.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 41185
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53, § 54, § 55
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Die behördliche Entscheidung über die Ausweisung ist durch das Gericht in vollem Umfang überprüfbar; entscheidungserheblich für die Überprüfung ist der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei einer (spezialpräventiven) Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Bescheid des Beklagten vom 19. Juni 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO.
1. Die Ausweisungsverfügung in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist nach Maßgabe der §§ 53 ff. AufenthG nicht zu beanstanden.
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Bei der dabei zutreffenden Abwägung sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG).
Die behördliche Entscheidung über die Ausweisung ist durch das Gericht in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BayVGH‚ B.v. 21.3.2016 – 10 ZB 15.1968 – juris Rn. 9 m.w.N.; vgl. auch BT-Drs. 18/4097, S. 49; BR-Drs. 612/14, S. 56). Entscheidungserheblich für die Überprüfung ist der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
Im zu entscheidenden Fall kommt das Gericht bei der Beurteilung der behördlichen Ausweisungsentscheidung zu dem Ergebnis‚ dass zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt das Ausweisungsinteresse unter Abwägung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien gegenüber dem Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
a. Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist beim Kläger gegeben.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer (spezialpräventiven) Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG‚ U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose‚ ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht‚ sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen‚ insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat‚ die Umstände ihrer Begehung‚ das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH‚ U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 32; B.v. 2.11.2016 – 10 ZB 15.2656 – juris Rn. 10 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Gemessen an diesen Vorgaben ist die Kammer davon überzeugt, dass nach dem Gesamtbild des Klägers, das in erster Linie durch sein Verhalten gekennzeichnet ist, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass er erneut Straftaten begehen wird und er damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.
Der Kläger ist während seines Aufenthalts in Deutschland wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten.
Zum einen wurde er mehrfach wegen diverser Vermögensdelikte (Diebstahl) verurteilt. Er hat sich auch durch die dabei verhängte Freiheitsstrafe nicht beeindrucken lassen, eine ausgesprochene Strafaussetzung zur Bewährung musste widerrufen werden.
Zuletzt hat er sich des sexuellen Missbrauchs von Kindern strafbar gemacht.
Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind höchst persönlichkeits- und sozialschädlich, es gehen weitreichende Konsequenzen von ihnen aus. Bei den betroffenen Schutzgütern der sexuellen Selbstbestimmung, der Würde des Opfers und seiner körperlichen und seelischen Integrität handelt es sich um Rechtsgüter von höchstem verfassungsrechtlichen Rang. Mit Straftaten, die sich hiergegen richten, werden den Opfern erhebliche körperliche und seelische Schäden zugefügt, die sich schlimmstenfalls ein Leben lang auswirken können. Daher ist der Schutz vor Sexualdelikten allgemein, insbesondere aber bei Kindern, eine wichtige Aufgabe und ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Unter Zugrundelegung entsprechend geringerer Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts geht das Gericht prognostisch davon aus, dass vom Kläger weiterhin eine Gefahr ausgeht.
Nach den Feststellungen des Strafgerichts hat der Kläger an einem Sonntagnachmittag in den öffentlichen Herrenduschen des städtischen Freibads … einem 11-jährigen Jungen vorne in die Badehose gegriffen und an dessen Geschlechtsteil gelangt, um sich sexuell zu erregen.
Dieses vom Kläger begangene Sexualverbrechen an einem Minderjährigen und insbesondere der Tatort, der Tatzeitpunkt und die weiteren Umstände bei der Begehung indizieren zur Überzeugung des Gerichts eine Wiederholungsgefahr. Nach Auffassung der Kammer lässt sich nicht ausschließen, dass der Kläger in einer vergleichbaren Situation erneut primäres sexuelles Interesse an einem Kind entwickelt, er seinen Impulsen unreflektiert nachgibt und wiederum einen sexuellen Übergriff begeht.
Der Kläger hat sich mit der Problematik seiner Sexualpräferenz auch bisher nicht ausreichend auseinandergesetzt.
Der Kläger hat den Tatvorwurf bis zum Schluss geleugnet. Das Strafgericht hat ihm eine negative Sozialprognose bescheinigt und eine Strafaussetzung zur Bewährung ausdrücklich für nicht gerechtfertigt erachtet. Eine aus Sicht des Sozialdienstes der Justizvollzugsanstalt … erforderliche Therapie wurde nach nur drei Einzelsitzungen mit einer externen Therapeutin abgebrochen, nachdem der Kläger das Sexualdelikt weiter geleugnet habe und deshalb keine Deliktsbearbeitung möglich gewesen sei.
Dementsprechend wurde dem Kläger auch seitens des Sozialdienstes eine negative Sozialprognose ausgestellt.
Auch die Tatsache, dass der Kläger im Rahmen des HEADS-Programms als Risikoproband eingestuft worden ist und entsprechend überwacht wird, zeigt, dass er als besonders rückfallgefährdet gilt.
Dass der Kläger nach eigenen Angaben seit drei Wochen eine Sexualtherapie mit geplant wöchentlichen Sitzungen absolviert, rechtfertigt nicht ansatzweise die Annahme, dass von ihm nunmehr keine Wiederholungsgefahr mehr ausgeht. Eine nachweisliche Aufarbeitung der Straftat im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung des Klägers mit seiner Sexualpräferenz und der daraus resultierenden Verantwortung hat bislang nicht stattgefunden. Vielmehr liegt der Gedanke nahe, dass die erst kürzlich begonnene Therapie vor allem unter dem Druck der drohenden Abschiebung aufgenommen wurde.
Hinzu kommt, dass der Kläger nach wie vor weder über eine Arbeitsstelle noch über einen festen Wohnsitz verfügt. Aktuell hält er sich bei einem Bekannten auf. In den ihm zuvor zugewiesenen Asylbewerberunterkünften war es laut Bewährungshilfebericht vom 24. September 2018 zu Konflikten des Klägers mit Mitbewohnern sowie mit dem Security-Dienst vor Ort gekommen.
b. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmende Interessenabwägung fällt hier zulasten des Klägers aus.
Eine Gegenüberstellung der gegenläufigen Interessen anhand der im Aufenthaltsgesetz typisierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen ergibt, dass beim Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt, da er durch Beschluss des Amtsgerichts … vom 18. Mai 2016 unter Einbeziehung der Strafurteile vom 7. März 2016 und vom 21. Dezember 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt wurde. Die Bildung einer solchen nachträglichen Gesamtstrafe nach §§ 53 Abs. 1, 55 Abs. 1 StGB reicht für die Annahme eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses aus (vgl. Tanneberger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.8.2018, § 5 AufenthG Rn. 11). Auch ohne Berücksichtigung der nachträglichen Gesamtstrafenbildung liegt jedenfalls mit der letzten Verurteilung vom 7. März 2016 ein schweres Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor.
Dem Ausweisungsinteresse steht kein typisiertes besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG gegenüber; insbesondere besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung keine familiäre Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).
Erforderlich ist insoweit, dass zwischen den Eheleuten nicht nur ein formalrechtliches Band besteht, sondern sie in „ehelicher Lebensgemeinschaft“ leben. Dies entspricht hinsichtlich der Ehe der verfassungsrechtlichen Ausgangslage, weil Art. 6 GG allein die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern schützt (Tanneberger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.5.2018, § 55 AufenthG Rn. 17 m.w.N.). Dabei kommt es darauf an, dass die Eheleute in einer die persönliche Verbundenheit zum Ausdruck bringenden Beistandsgemeinschaft leben, die nach außen regelmäßig in einer gemeinsamen Lebensführung, also in dem erkennbaren Bemühen dokumentiert wird, die alltäglichen Dinge des Lebens miteinander in organisatorischer, emotionaler und geistiger Verbundenheit zu bewältigen. Maßgeblich ist im Einzelfall der nachweisbar betätigte Wille, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen (BVerwG, B.v. 22.5.2013 – 1 B 25.12 – BeckRS 2013, 52673).
Bei inhaftierten Ausländern kann auf den Zeitpunkt vor Beginn der Haft abgestellt werden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Lebensgemeinschaft nach der Haftentlassung nicht fortgesetzt werden soll (Tanneberger a.a.O. Rn. 18 m.w.N.).
Die Ehefrau des Klägers ist am 11. Oktober 2018 verstorben. Ungeachtet dessen lag aber auch im Zeitpunkt ihres Todes bei den Eheleuten keine aufenthaltsrechtlich beachtliche Lebensgemeinschaft vor. Nach Aktenlage war die Ehefrau nach der Haftentlassung des Klägers am 9. Juli 2018 nicht bereit, eine die Lebensgemeinschaft mit dem Kläger fortzuführen bzw. eine solche wiederaufzunehmen.
Während seiner Strafhaft hat sie den Kläger ausweislich der Besuchsliste der Justizvollzugsanstalt … in der Zeit von 11. Mai 2016 bis zu seiner Entlassung am 9. Juli 2018 dort insgesamt lediglich fünfmal besucht, zuletzt am 30. November 2016. Zudem hatte die Ehefrau des Klägers laut Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt vom 23. April 2018 dem dortigen Sozialdienst bereits im Juli 2017 mitgeteilt, dass sie mit dem Kläger nichts mehr zu tun haben wolle, weil er sie finanziell ruiniert habe; es gebe keine gemeinsame Zukunft mehr, sie wolle sich scheiden lassen. Zwar übermittelte der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers der Ausländerbehörde unter dem 18. Juli 2018 eine Erklärung der Ehefrau vom 16. Juli 2018, worin sie angab, dass sie sich mit dem Kläger versöhnt habe und die beiden gerade nach einer gemeinsamen Wohnung suchten. Gegenteiliges lässt sich aber der späteren (in einem Aktenvermerk dokumentierten) telefonischen Erklärung der Ehefrau gegenüber einem Polizeibeamten im Rahmen der HEADS-Führungsaufsicht von 18. Juli 2018 entnehmen, wonach zu viel passiert sei, um dem Kläger noch eine „2. Chance“ zu geben, sowie dem mit dem Bewährungshilfebericht vom 24. September 2018 vorgelegten Chat-Verlauf vom 21. September 2018.
Nicht nur die in seinen Straftaten zum Ausdruck kommenden mangelnde Rechtstreue des Klägers spricht gegen seine gelungene Integration im Bundesgebiet; auch unter Berücksichtigung der weiteren nach § 53 Abs. 2 AufenthG beachtlichen Umstände ist insbesondere keine schützenswerte soziale und wirtschaftliche Verwurzelung festzustellen.
Der Kläger kam im Jahr 2012, also im Alter von 35 Jahren, nach Deutschland und durchlief erfolglos ein Asylverfahren. Außer seiner zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau hat er hier keine familiären Bindungen.
Der Kläger bezog zunächst Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, ab Mai 2014 arbeitete er nach Aktenlage in Teilzeit als Hausmeister-Helfer. Seit seiner Haftentlassung ist er arbeitslos und verfügt über keine eigene Wohnung.
Demgegenüber sind keine Umstände ersichtlich, weshalb dem Kläger eine Reintegration in Tunesien, wo er aufgewachsen ist, nicht gelingen sollte. Nach Aktenlage leben dort auch noch Familienangehörige.
Insgesamt stellt sich die Ausweisung des Klägers auch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK nicht als unverhältnismäßig dar. Diese Vorschriften vermitteln keinen unmittelbaren Aufenthaltsanspruch; Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet die Ausländerbehörde bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen jedoch, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (Tanneberger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.5.2018, § 55 AufenthG Rn. 44 f. m.w.N.).
Wie ausgeführt ist davon auszugehen, dass nach seiner Haftentlassung eine grundgesetzlich geschützte eheliche Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner Ehefrau nicht mehr bestanden hat bzw. nicht mehr aufgenommen wurde. Jedenfalls sind nach dem Tod der Ehefrau keine sonstigen familiären Bindungen gegeben, die eine Ausweisungsentscheidung unzumutbar erscheinen lassen könnten.
c. Schließlich sprechen, wie auch der Beklagte im angegriffenen Bescheid zu Recht festgestellt hat, zudem generalpräventive Aspekte für eine Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik.
Das Ziel einer generalpräventiven Ausweisung besteht darin, mit der Ausweisung des straffälligen Ausländers andere Ausländer davon abzuhalten, Straftaten zu be-gehen. Die generalpräventive Ausweisung ist unionsrechtlich gegenüber Unionsbürgern und sonstigen Freizügigkeitsberechtigten unzulässig, begegnet ansonsten aber keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfG, B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77 – NJW 1979, 1100). So hat auch der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur Neufassung des Ausweisungsrechts nochmals ausdrücklich die Zulässigkeit generalpräventiver Erwägungen unterstrichen, soweit nicht die in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten Personengruppen betroffen sind (vgl. BT-Drs. 18/4097, 49; vgl. auch BayVGH, B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris Rn. 34).
Eine Ausweisung ist allerdings nur dann geeignet, eine generalpräventive Wirkung zu erzielen, wenn die Anlasstat nicht derartig singuläre Züge aufweist, dass die an sie anknüpfende Ausweisung keine abschreckende Wirkung entfalten könnte, und wenn angesichts der Schwere der Straftat ein dringendes Bedürfnis auch für eine ordnungsrechtliche Prävention besteht (BVerwG, B.v. 2.2.1979 – 1 B 238/78 – DÖV 1979, 375; B.v. 16.8.1995 – 1 B 43.95 – InfAuslR 1995, 404). Grundsätzlich müssen daher auch bei einer generalpräventiv motivierten Ausweisung die konkreten Umstände der Straftat und die Lebensumstände des Ausländers individuell gewürdigt werden (BVerfG, B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06 – NVwZ 2007, 1300).
Vorliegend besitzt die Anlasstat mit Blick auf die von ihr angegriffenen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung insbesondere bei Kindern hohes Gewicht und bedarf der ordnungsrechtlichen Prävention. Die Ausweisung ist hier auch geeignet, abschreckende Wirkung für andere Ausländer zu entfalten.
Auch unter Würdigung der konkreten Lebensumstände des Klägers, insbesondere mit Blick auf seine fehlende soziale und wirtschaftliche Integration, ist seine Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen nicht unverhältnismäßig.
2. Darüber hinaus weist auch die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheids auf sechs Jahre keine Rechtsfehler auf. Der Kläger hat – so verstanden als „Minus“ zum Anfechtungsantrag – keinen Anspruch auf eine gerichtliche Verpflichtung des Beklagten zu einer Aufhebung bzw. zur Neuverbescheidung der Wiedereinreisesperrfrist.
Die Ausweisung eines Ausländers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein gesetzliches Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge, welches von Amts wegen zu befristen ist, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt (vgl. die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/4097 S. 36 sowie BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – BVerwGE 157, 356), kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
Der Beklagte hat hier bei der Bestimmung der Länge der Frist zum einen die wiederholte Straffälligkeit des Klägers, insbesondere das Gewicht der von ihm begangenen Sexualstraftat, das weiterhin von ihm ausgehende Gefährdungspotenzial sowie ferner den mit der Ausweisung verfolgten Zweck des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung berücksichtigt.
Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK (vgl. dazu BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – InfAuslR 2017, 336) ist er in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid verfügten Wiedereinreisesperre von sechs Jahren gekommen.
3. Schließlich hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären (§ 27 ff. AufenthG) oder sonstigen Gründen.
a. Ein Anspruch zum Ehegattennachzug auf der Grundlage von § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG scheidet nach dem Tod der Ehefrau schon tatbestandlich aus.
b. Der Kläger kann auch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG beanspruchen. Zwar waren der Kläger und seine Ehefrau zum Zeitpunkt ihres Versterbens noch verheiratet. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG knüpft aber gerade nicht an den formal-rechtlichen Bestand einer Ehe an, sondern wiederum an die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft. Eine solche lag, wie ausgeführt, im Zeitpunkt des Todes der Ehefrau nicht vor.
c. Ungeachtet dessen sowie der weiteren allgemeinen Voraussetzung steht der Erteilung jeglicher Aufenthaltserlaubnis hier auch die Titelerteilungssperre nach § 11 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG entgegen.
Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, auch bei Vorliegen der aufenthaltsgesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen kein Aufenthaltstitel erteilt. Entsprechendes gilt für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 8 Abs. 1 AufenthG).
Zwar ist die in Ziffer 1 des Bescheids vom 19. Juni 2018 verfügte Ausweisung des Klägers noch nicht bestandskräftig oder vollziehbar, weil die dagegen gerichtete Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung entfaltet; nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist sie aber trotzdem wirksam. Dies genügt für die Auslösung der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG (vgl. schon BVerfG, B.v. 29.3.2007 – 2 BvR 1977/06 – juris Rn. 26, HessVGH, B.v. 17.8.1995 – 13 TH 3304/94 – noch zu den entsprechenden Vorschriften des AuslG, NVwZ-RR 1996, 112 = juris Ls 1).
4. Vor diesem Hintergrund sind auch die Regelungen in Ziffer 4 und 5 des Bescheids des Beklagten vom 19. Juni 2018 (Ausreiseaufforderung unter Androhung der Abschiebung) rechtmäßig.
Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG, § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig, da er – unabhängig von der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ausweisungsverfügung – nach Entfall der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG infolge der Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keinen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel (mehr) besitzt. Sein Gesuch auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Gericht mit Beschluss vom 27. September 2018 – M 10 S 18.3239 – abgelehnt.
Die Abschiebungsandrohung für den (eingetretenen) Fall, dass eine Abschiebung vor Haftentlassung nicht möglich ist, ist nach Maßgabe des § 59 AufenthG ebenfalls nicht zu beanstanden. Insbesondere erscheint die Ausreisefrist von sieben Tagen nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht von vornherein als unangemessen, zumal der Kläger derzeit über keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik verfügt, den er auflösen müsste. Ggf. kann der Kläger mit entsprechender Begründung Fristverlängerung beantragen (§ 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).
5. Die Klage war daher insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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