Verwaltungsrecht

Begriff des Arbeitgebers im arbeitsschutzrechtlichen Sinn, Generalunternehmer, Störerauswahl, Auswahlermessen

Aktenzeichen  AN 4 S 22.01071

Datum:
6.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12033
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ArbSchG § 2 Abs. 3
ArbSchG § 22 Abs. 3 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die Bescheide vom 15. März 2022, schriftlich gefasst am 18. März 2022, und vom 17. März 2022, schriftlich gefasst am 23. März 2022, wird wiederhergestellt.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen zwei Anordnungen des Antragsgegners, mit denen dieser der Antragstellerin aufgibt, die Arbeiten auf der Geschossdecke über dem 1. Obergeschoss an „dem vorderen Haus direkt an der Straße“, sowie an den Häusern, … und … auf einer Baustelle auf der … … in … vorläufig einzustellen.
Mit Handbescheid vom 15. März 2022, nochmals schriftlich gefasst am 18. März 2022, ordnet der Beklagte an:
1. Die Arbeiten auf der Geschossdecke über dem 1. OG des vorderen Hauses direkt an der …, sind ab sofort solange einzustellen, bis die Beschäftigten durch Einrichtungen gegen Absturz gesichert sind und das Fassadengerüst nach Aufbau und Verwendungsanleitung des Herstellers unter der Aufsicht einer fachkundigen Person aufgebaut wird. Vor der Verwendung ist das Fassadengerüst durch eine befähigte Person zu prüfen und zu kennzeichnen.
2. Die Anordnung nach Nr. 1 wird für sofort vollziehbar erklärt.
3. Falls Sie die Verpflichtung in Nr. 1 nicht bzw. nicht vollständig nachkommen, wird ein Zwangsgeld in Höhe von 2.000,00 Euro fällig.
4. Sie haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Im Rahmen einer Besichtigung der Baustelle am 15. März 2022 sei festgestellt worden, dass drei Arbeitnehmer der Antragstellerin Betonarbeiten auf der Geschossdecke oberhalb des 1. Obergeschosses durchgeführt hätten. Die Arbeitnehmer seien nicht ausreichend gesichert gewesen. Der Zugang habe ausschließlich über ein Gerüst erfolgen können, welches weder nach Aufbau und Verwendungsanleitung des Herstellers aufgebaut, noch durch eine befähigte Person freigegeben gewesen sei. Die Absturzhöhe von der Decke habe ca. 2,5 m betragen.
Die Antragstellerin habe nach § 3a Abs. 1 ArbStättV die Pflicht, die Arbeitsstätte nach ArbStättV, sonstigen Arbeitsschutz- und Berufsgenossenschaftlichen Vorschriften sowie den allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln und den sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen einzurichten und zu betreiben.
Gemäß § 3a Abs. 1 ArbStättV i. V. m. Nr. 2.1 des Anhanges zur ArbStättV müssten Arbeitsplätze und Verkehrswege, bei denen Absturzgefahren bestehen oder die an Gefahrenbereiche grenzen, mit Eingängen versehen sein, die verhindern, dass Arbeitnehmer abstürzen oder in den Gefahrenbereich ragen. Gemäß § 14 Absatz 1 Betriebssicherheitsverordnung dürften nur geprüfte und sichere Arbeitsmittel verwendet werden.
Die Baustelle sei somit nicht so eingerichtet, dass die Arbeitnehmer ausreichend gegen Gefahren für Leben und Gesundheit geschützt gewesen seien.
Die dort beschäftigten Arbeitnehmer seien wegen unmittelbarer Absturzgefahr erheblich gefährdet gewesen.
Auf den weiteren Inhalt des Bescheides wird Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 18. März 2022 wurde das Zwangsgeld in Höhe von 2.000,00 Euro fällig gestellt. Die auferlegte Verpflichtung sei nicht erfüllt worden.
Mit weiterem Handbescheid vom 17. März 2022, nochmals schriftlich gefasst am 23. März 2022, ordnete der Beklagte eine wortgleiche sofortige Baueinstellung ebenfalls für die Häuser, … und … an. Die schriftliche Fassung der Gründe des Bescheides entsprachen dem bereits erlassenen Bescheid.
Auf den Inhalt des Bescheides wird Bezug genommen.
Mit zwei selbständigen Schriftsätzen vom 9. April 2022 ließ die Antragstellerin durch ihren anwaltlichen Vertreter Klage gegen die Baueinstellungsverfügungen vom 15. und vom 17. März 2022 erheben und beantragte zugleich jeweils Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die sofortige Vollziehbarkeit wird wiederhergestellt, hilfsweise die Vollziehung aufgehoben.
Zur Begründung verweist die Antragstellerin im Wesentlichen auf ihre Stellung als Generalunternehmerin, die als solche Bauvorhaben weitgehend schlüsselfertig erstelle. Sie sei daher, anders als in den Bescheiden dargestellt, nicht die für Arbeitsschutz verantwortliche Arbeitgeberin. Da sie nicht die richtige Adressatin sei, habe die Antragstellerin die Bescheide im Original zurückgeschickt, hierzu aber keine Rückmeldung erhalten. Daher sei Klage erforderlich.
Die handwerklichen Leistungen auf der Baustelle würden an Handwerksunternehmen der jeweiligen Gewerke vergeben werden, die die Arbeiten vor Ort mit eigenem Personal erledigten. Dies gelte auch für Maurer-, Beton- und Gerüstbauarbeiten. Die Antragstellerin habe am 15. und am 17. März keine Arbeitnehmer vor Ort gehabt und aus den Bescheiden ergebe sich auch nicht, welche Mitarbeiter angetroffen worden seien, so dass die Antragstellerin hierzu nichts sagen könne.
Die Antragstellerin lässt mit Schreiben vom 5. Mai 2022 ergänzend vortragen.
Der Beklagte erwidert mit Schreiben vom 22. April 2022 und beantragt am 2. Mai 2022 der Antrag wird abgelehnt.
Der Beklagte sei aufgrund eines Beschwerdeeinganges vom 22. Februar 2022 sowie einer Ereignismeldung der Polizeiinspektion … vom 24. Februar 2022 tätig geworden (vgl. Bl. 1-18 d.A.). Das zuständige Gewerbeaufsichtsamt habe daraufhin am 15. März 2022 eine Kontrolle auf der Baustelle … … in … durchgeführt. Es seien eklatante Mängel bzgl. der vorgehaltenen Absturzsicherungen der Fassadengerüste festgestellt worden. Zudem habe keine Freigabe der Gerüste durch eine befähigte Person vorgelegen (Bl. 19-30 d.A.). Das Gerüst sei aufgrund der drohenden Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschäftigten per Handbescheid unter Anwendung des Sofortvollzugs gesperrt und die Arbeiten eingestellt worden.
Zum Besichtigungszeitpunkt habe sich Herr … O … als Aufsichtsführender der bauausführenden Firma … zu erkennen gegeben. Der betreffende Handbescheid sei durch Herrn O … gegengezeichnet worden. Das Original des Handbescheids sei ihm mit der Bitte um Übermittlung an den Firmenverantwortlichen übergeben worden.
Im Nachgang sei mit dem Geschäftsführer der Antragstellerin telefonisch Kontakt aufgenommen (Bl. 31 und 32 d.A.) und insbesondere auf die Zwangsgeldandrohung hingewiesen worden. Dieser habe umgehende Mangelbeseitigung zugesagt. Der zuständige Architekt habe dem Beklagten eine Liste der Projektbeteiligten übermittelt, in der als verantwortlicher Generalunternehmer Hochbau die Antragstellerin bezeichnet werde.
Im Rahmen einer erneuten Vor-Ort-Kontrolle am 17. März 2022 seien weitere eklatante Mängel festgestellt worden. Im Rahmen der erneuten telefonischen Kontaktaufnahme habe sich der Geschäftsführer der Antragstellerin uneinsichtig gegeben. Er sei aufgefordert worden, den einschlägigen Bescheidsadressaten zu benennen, wozu er sich nicht eingelassen habe. Er habe weiter erklärt, dass die Poliere seiner Firma vor Ort für die Arbeitsschutzvorschriften zuständig und verantwortlich seien. Im Anschluss sei dem Antragsgegner mit Mail vom 18. März 2022 eine Übertragung der arbeitsschutzrechtlichen Arbeitgeberpflichten an Herrn O … zugesandt worden.
Bei einer weiteren Begehung der Baustelle am 20. April 2022 wurden erneut erhebliche Mängel festgestellt. Bei einem vorhandenen Fassadengerüst habe trotz bestehender Mängel eine Freigabeerklärung des Gerüsterstellers, Fa. … GmbH, vorgelegen. Auftraggeber dieser Arbeiten sei die Antragstellerin. Der Geschäftsführer der Antragstellerin sei im Übrigen identisch mit dem Geschäftsführer der … Hoch- und Tiefbau GmbH.
Der Antragsgegner führt mit Schreiben vom 2. Mai 2022 ergänzend aus. Die Anordnungen basierten auf § 22 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 3 ArbSchG. Dem Antragsgegner stehe ein Auswahlermessen zu (VG München, Urteil v. 19.03.2012, M 16 K 11.5809). Maßgebliches Kriterium sei dabei die Frage, wer am ehesten die Gewähr für eine umgehende Abwendung der Gefahr biete (vgl. Landmann/Rohmer GewO/Wiebauer ArbSchG § 22 Rn. 145).
Der Antragsgegner gehe davon aus, dass der sich am 15. und am 17. März 2022 vor Ort angetroffene Herr O …, der gemeinsam mit zwei anderen Beschäftigten Betonierarbeiten auf der Geschossdecke des 1. Obergeschosses ausführte, Arbeitnehmer der Antragstellerin sei. Die vom Geschäftsführer der Antragstellerin vorgetragene schriftliche Übertragung der Verantwortung auf seine Poliere sei bzgl. Herrn O … mit Schreiben der … Projektbau GmbH vom 18.03.2022 vorgelegt worden (vgl. Bl. 59 der Akte), nicht etwa von der … Hoch- und Tiefbau GmbH. Die Antragstellerin sei weiter als Generalunternehmerin Hochbau (Bl. 33 u. 34 der Akte) und Bauleitung (Baustellenvorankündigung vom 02.02.2022, Bl. 147 der Akte) für die Sicherheit auf der Baustelle … …, … …, verantwortlich (vgl. OLG Brandenburg, Urteil v. 18.12.2001, 11 U 134/99). Laut Angaben von Herrn H … der Gerüstbaufirma … GmbH seien die Gerüstbauarbeiten weiter von der Antragstellerin in Auftrag gegeben worden und würden über diese abgerechnet (Vermerk vom 21.04.2022, Bl. 98 und 99 d.A.). Zu berücksichtigen sei auch, dass der Geschäftsführer der Antragstellerin auf Nachfrage der Gewerbeaufsicht nicht bereit war zu sagen, welche der Firmen der richtige Adressat sei (vgl. Vermerk vom 18.03.2022auf Bl. 57 d.A.). Der Antragsgegner sei nach § 22 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG befugt gewesen, diese Auskunft zu verlangen.
Aufgrund der Mängel am Gerüst, der drohenden Absturzhöhe von 2,5m und der damit verbundenen Verletzungsgefahr habe die Durchsetzung des Auskunftsanspruches bis zu einer erst anschließenden Arbeitseinstellung nicht zugewartet werden können. In der Gesamtschau habe die Antragstellerin am ehesten die Gewähr für eine umgehende Abwendung der Gefahr geboten, sodass die streitgegenständlichen Bescheide zu Recht an sie adressiert worden sei.
Die Anordnungen unter Ziff. 1 der Bescheide vom 18.03.2022 und 23.03.2022 seien ferner hinreichend bestimmt i. S. v. Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG. Insbesondere hinsichtlich der Forderung nach Sicherung der Beschäftigten durch Einrichtungen gegen Absturz ist für die Antragstellerin bestimmbar, welche Absturzsicherung das Gewerbeaufsichtsamt „im Auge hatte“, auch wenn in den Bescheiden keine Auflistung der Mängel und Abhilfemaßnahmen erfolgt sei. Die Mängel seien bei der Besichtigung der Baustelle mit Herrn O … erläutert worden. Er sei auch bei der Fertigung der Lichtbilder anwesend gewesen, die die Mängel am Gerüst zeigten (vgl. Bl. 37 bis 53). Herr O … habe ferner die Handbescheide entgegengenommen und sei jedenfalls Wissensvertreter der Antragstellerin.
Die Mängel auf der Baustelle, wie sie sich durch die Besichtigungen dargestellt hätten, seien dem Geschäftsführer der Antragstellerin telefonisch am 18.03.2022 erläutert worden (vgl. Bl. 57 ff. d.A.). Als Mängel seien angeführt worden: oberste Lage Gerüst nicht fest, Bodenöffnungen nicht abgedeckt, Konsolen ausgehängt, Absturzsicherungen lückenhaft bzw. nicht vorhanden, Absturz vom Gerüst nach innen durch fehlende Absturzsicherung, am hinteren Gebäude wurde durch seine Mitarbeiter der Giebel gemauert, obwohl keinerlei Gerüst vorhanden. Es sei der Antragstellerin daher bewusst gewesen, wo Absturzsicherungen fehlten und im Übrigen gäben die einschlägigen Arbeitsschutzbestimmungen dies vor.
In Anbetracht der im Raum stehenden Gefahren für Leib und Leben der Beschäftigten sei das Ermessen der auf § 22 Abs. 3 Satz 1 ArbSchG basierenden Anordnungen vor dem Hintergrund der festgestellten und mit Lichtbildern dokumentierten Mängeln am Gerüst sowie der Äußerungen des Geschäftsführers der Antragstellerin, insbesondere, dass er Fristen einzuhalten habe, auf Null reduziert gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtssowie die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
Die nach Auslegung zulässigen Anträge auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klagen vom 9. April 2022 haben in der Sache Erfolg.
1. Die Anträge waren nach § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass die Anträge auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklagen gerichtet sind. Die Sofortvollzugsanordnung in Ziffer 2 der streitgegenständlichen Bescheide ist Grundlage für den Entfall der aufschiebenden Wirkung der Klagen gegen Ziffer 1 und nicht selbst Gegenstand der Anfechtungsklagen, wie der wörtlich verstandene Antrag impliziert.
Die anwaltlich vertretene Antragstellerin hat sich nicht gesondert gegen die Fälligstellung des Zwangsgeldes gerichtet, so dass diese als solche nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist.
2. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht in den Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage aufgrund behördlicher Anordnung entfällt, diese ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Ermessensentscheidung, bei der es zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts und dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abwägt. Wesentliches – aber nicht alleiniges – Kriterium für die Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Ergibt die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene summarische Prüfung, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich Erfolg hat, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Erweist sich der Verwaltungsakt hingegen als voraussichtlich rechtmäßig und das Hauptsacheverfahren damit als voraussichtlich erfolglos, überwiegt das öffentliche Vollziehungsinteresse, wenn nicht ausnahmsweise besondere Umstände des Einzelfalls eine abweichende Entscheidung rechtfertigen (vgl. zu allem BayVGH, B.v. 23.2.2012 – 14 CS 11.2837 – juris Rn. 38; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn. 146, 152 f., 158 f.). Bei offenen Erfolgsaussichten muss eine reine Interessenabwägung erfolgen (BVerwG, B.v. 29.4.1974 – IV C 21.74 – juris Rn. 8 f.; B.v. 17.5.2004 – 1 VR 1/04 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 12.12.2017 – 21 CS 17.1332 – juris Rn. 9; Gersdorf in BeckOK, VwGO, 58. Ed., Stand: 01.07.2021, § 80 Rn. 187, 191; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 93).
Vorliegend überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Vollziehungsinteresse. Es ist nach vorläufiger Einschätzung des Gerichts nicht ersichtlich, dass sich der Beklagte nähere Gedanken über die Bestimmung der Antragstellerin als arbeitsschutzrechtlich Verantwortlichen gemacht hat, so dass jedenfalls ein Ausfall des Störerauswahlermessens vorliegen dürfte. Der Bescheid ist damit nach derzeitigem Stand voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (lit. b). Daneben erscheinen die Gründe des Gesundheitsschutzes nicht so zwingend, dass ausnahmsweise von einer Aussetzung abgesehen werden kann (lit. c).
a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung wurde entsprechend der Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ausreichend begründet.
§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO normiert formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts. Die Vollziehungsanordnung ist grundsätzlich mit einer auf den konkreten Einzelfall abgestellten und nicht formelhaften Begründung des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung zu versehen. Zweck der Begründung ist dabei, die Betroffenen in die Lage zu versetzen, durch Kenntnis der Gründe, die die Behörde zur Vollziehungsanordnung veranlasst haben, ihre Rechte wirksam wahrzunehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels abzuschätzen (Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 54). Aus der Eigenschaft als formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung folgt, dass es nicht darauf ankommt, ob die Erwägungen der Behörde auch inhaltlich im Sinne des objektiven Rechts und der Interessen der Beteiligten vollständig zutreffend sind. Dies ist erst bei der umfassenden vom Gericht vorzunehmenden Interessenabwägung im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO zu prüfen. Die Anforderungen an eine Begründung im Sinne von § 80 Abs. 3 VwGO dürfen nicht überspannt werden (OVG Rheinland-Pfalz, B.v. 3.4.2012 – 1 B 10136712 – juris). Die streitgegenständlichen Bescheide enthalten eine diesen Anforderungen entsprechende individuelle Begründung.
b) Die Klagen haben in der Hauptsache voraussichtlich Erfolg. Die Bescheide vom 15. März 2022 und vom 17. März 2022 sind nach derzeitigem Sachstand rechtswidrig und verletzen die Antragstellerin als Adressatin einer belastenden Verfügung jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es liegt zumindest ein Ausfall des Störerauswahlermessens für die Inanspruchnahme der Antragstellerin vor.
Nach unwidersprochenen Vorbringen der Antragstellerin ist diese Generalunternehmerin der Baustelle, auf dem der Antragsgegner Vor-Ort-Kontrollen hat durchführen lassen, und damit lediglich als Unternehmen den Bau durch weitere, ggf. auch verbundene, Unternehmen durchführen lässt. In ihrem Antrag begründet die Antragstellerin weiter, dass sie nicht die verantwortliche Arbeitgeberin ist. Der vor Ort angetroffene Herr O … ist nach Vortrag nicht bei der Antragstellerin angestellt, sondern bei der … Hoch- und Tiefbau GmbH. Die Inanspruchnahme der Antragstellerin wäre darzulegen gewesen.
Der Arbeitgeberbegriff des Arbeitsschutzgesetzes ist in § 2 Abs. 3 ArbSchG definiert und knüpft an die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Sinne des § 2 Abs. 2 ArbSchG an. Mit Blick auf den Zweck des Arbeitsschutzgesetzes, insbesondere Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern, ist der Begriff des Arbeitgebers grundsätzlich weit zu verstehen. Auch der Generalunternehmer einer Baustelle, der für die einzelnen Gewerke andere Unternehmen mit der Erbringung von Werkleistungen beauftragt, ist selbst Arbeitgeber im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes, da er als beauftragendes Unternehmer die auf der Baustelle stattfindende Beschäftigung initiiert hat und ihm die Letztverantwortung auf der Baustelle zukommt, unabhängig von der Zahl der zwischengeschalteten zivilrechtlichen Vertragsverhältnisse zum letztlich Beschäftigten (vgl. Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz, 4. Aufl. 2021, § 2 Rn. 124).
Durch das weite Verständnis des Begriffs der Beschäftigung kommen als arbeitsschutzrechtliche Arbeitgeber im Umkehrschluss mehrere Verantwortliche in Betracht, deren Auswahl im Ermessen der Behörde steht. Dabei ist es zulässig, denjenigen in Anspruch zu nehmen, der am besten Gewähr für eine umgehende Abwendung der Gefahr bietet, wie der Antragsgegner grundsätzlich zu Recht ausführt (Wiebauer in Landmann/Rohmer GewO, Stand: 86. EL Februar 2021, ArbSchG § 22 Rn. 145; VG München, U.v. 19.03.2012, M 16 K 11.5809 – juris Rn. 17). Das kann im Einzelfall auch der Generalunternehmer sein, insbesondere, wenn die Verhältnisse auf der Baustelle unklar sind. Bei Ermessensentscheidungen richtet sich die gerichtliche Kontrolle nach Maßgabe des § 114 Satz 1 VwGO, wonach das Gericht prüft, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass überhaupt erkennbar eine Auswahlentscheidung stattgefunden hat.
Obwohl die Frage des Adressaten der arbeitsschutzrechtlichen Verfügung im Verwaltungsverfahren eine Rolle gespielt hat, findet sich hierzu kein Wort in den schriftlichen Abfassungen der streitgegenständlichen Bescheide und auch nicht aus den Aufzeichnungen zur mündlichen Anordnung, aus der sich zunächst lediglich „…“ als Adressat der Anordnung ergibt. Die Ausübung von Ermessen wird lediglich in Nr. 2 der Bescheide, im Zusammenhang mit der sofortigen Vollziehung, erwähnt. Die streitgegenständlichen Verwaltungsakte sind daher aufgrund eines Ermessensausfalls im Hinblick auf das Störerauswahlermessen rechtswidrig, was vorliegend auch nicht nach § 114 Satz 2 VwGO durch das Nachschieben von Ermessenserwägungen geheilt werden kann. Denn auch für eine Heilung von Ermessensfehlern muss zunächst Ermessen ausgeübt worden sein (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 90).
Wird eine arbeitsschutzrechtliche Maßnahme vor Ort durch Handbescheid erlassen, so ist gerade die Funktion des bestätigenden schriftlichen Bescheides, die maßgeblichen Erwägungen in nachvollziehbarer Weise darzulegen. Die in den Bescheiden festgehaltene Sachverhaltsermittlung beschränkt sich vorliegend auf die Behauptung des Verstoßes sowie auf die Behauptung der Verantwortlichkeit der Antragstellerin. Aus dem (feststellenden) Bescheid ergibt sich nicht, mit wem gesprochen wurde, auf welchen Feststellungen die behaupteten Verstöße gegen die ArbStättV basieren und weshalb die Antragstellerin in Anspruch genommen wird. Im krassen Gegensatz dazu steht die Dokumentation in der Akte, aus der hervorgeht, welche Verstöße in Betracht kommen und mit wem gesprochen wurde. Aber selbst aus der Akte ist für das Gericht nicht klar erkennbar, weshalb der Antragsgegner die Antragstellerin in Verantwortung genommen hat oder ob und inwieweit der Antragsgegner überhaupt erkannt hat, dass mehrere Adressaten in Frage kommen.
c) Besondere Gründe gegen eine Vollzugsanordnung sind vorliegend nicht ersichtlich. Die Antragstellerin hat ein erhebliches wirtschaftliches Interesse am Fortgang der Baustelle und damit an dem Suspensivinteresse. Für die vom Antragsgegner vorgetragene Gefahr für Leben und Gesundheit, ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass mit der Suspendierung des Bescheides nicht von den entsprechenden Anforderungen des Arbeitsschutzes befreit. Vielmehr gehen die Verantwortlichen für den Fall eines Schadens bei unveränderten Verhältnissen auf der Baustelle ein erhebliches zivil- und strafrechtliches Risiko ein. Die gerichtliche Entscheidung steht im Übrigen einem korrekten weiteren Verwaltungsverfahren nicht im Weg.
3. Die Kostenentscheidung basiert auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Streitwertkatalog 2013. Für das Eilverfahren wurde jeweils der halbe Regelstreitwert angenommen und die einzelnen Streitwerte der beiden Verfahren addiert.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben