Verwaltungsrecht

Begründeter Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wegen Abschiebungshindernis aufgrund einer HIV-Infektion

Aktenzeichen  M 16 S 16.30302

Datum:
10.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 34
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Aufgrund der Schwachstellen der medizinischen Versorgung in Russland für AIDS-Kranke besteht bei einer Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung sowie die erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller
gegen die in dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Februar 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller zu1), seine Ehefrau, die Antragstellerin zu 2) sowie deren minderjährige Kinder, die Antragstellerin zu 3) und der Antragsteller zu 4) sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.
Am 25. September 2014 stellten sie bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) Asylanträge.
Bei der informatorischen Anhörung des Antragstellers zu1) am 22. Dezember 2015 vor dem Bundesamt im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gab dieser im Wesentlichen an, er sei Tschetschene. Er habe bereits in Polen einen Antrag gestellt und eine Ablehnung erhalten. Sie hätten sich zwei Jahre in Polen aufgehalten. Am 11. September 2014 seien sie nach … gekommen. In seinem Herkunftsland werde er von der Regierung verfolgt, weil er während des Kriegs auf Seite der Rebellen gegen die Regierung gekämpft habe. Er sei regelmäßig durch Militärs der Regierung von zu Hause abgeholt und gefoltert worden. Dies sei in der Zeit von 2005 bis 2007 gewesen und danach wieder ungefähr ab 2010. Weiter schilderte der Antragsteller Einzelheiten zu dem letzten Vorfall Ende 2011, der besonders schlimm gewesen sei. Danach habe er nicht mehr zu Hause übernachtet, nur bei Freunden und Verwandten. Wenn diese Leute erfahren würden, dass er zurück sei, werde er sofort und am gleichen Tag abgeholt. Die Angst um ihn habe er nicht mehr, aber er habe große Angst um seine Kinder und seine Ehefrau. Eine gesonderte Anhörung der Antragstellerin zu 2) erfolgt am selben Tag.
Mit Bescheid vom … Februar 2016, zugestellt am 12. Februar 2016, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Durchführung von weiteren Asylverfahren ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen Staat angedroht, in den die Antragsteller einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es handle sich um einen Zweitantrag i. S. v. § 71a AsylG. Das Verfahren in Polen sei erfolglos abgeschlossen worden. Ein weiteres Asylverfahren gemäß § 71a Abs. 1 AsylG sei nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt seien. Der Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. Zur Begründung der erneuten Asylanträge sei kein neuer Sachverhalt vorgetragen worden. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK liege nicht vor. Nach dem Sachvortrag der Antragsteller drohe ihnen keine durch einen nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Die Antragsteller zu 1) und 2) hätten zwar geltend gemacht, von der Regierung verfolgt worden zu sein. Sie hätten ihre begründete Furcht vor Verfolgung durch die Regierung jedoch nicht glaubhaft gemacht. Das Vorbringen der Antragsteller weiche in wesentlichen Punkten voneinander ab. Für die Antragsteller bestehe außerdem interner Schutz innerhalb der Russischen Föderation. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragsteller eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Es drohe den Antragstellern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. In Bezug auf die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2) sei davon auszugehen, dass das Existenzminimum der Antragsteller auch mit einem weiteren Kind bei einer Rückkehr gewährleistet sei. Ob durch den baldigen Geburtstermin ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis vorliege, sei von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen.
Gegen diesen Bescheid erhoben die Bevollmächtigten der Antragsteller am 19. Februar 2016 Klage mit dem Antrag, die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom … Februar 2016, zugestellt am 12. Februar 2016, zu verpflichten festzustellen, dass für die Antragsteller ein Abschiebungsverbot bestehe. Zudem beantragten sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamts vom … Februar 2016 anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, für die Antragstellerin zu 2) bestehe bei einer Abschiebung in die Russische Föderation sowohl die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung (§ 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK) als auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib bzw. Leben gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Sie sei schwer erkrankt. Bei ihr sei erstmals am 11. November 2014 eine HIV-Infektion festgestellt worden. Dabei habe es sich um eine bereits fortgeschrittene Infektion mit dringender Behandlungsindikation bei stark erniedrigten Helferzellenwerten und einer hohen Viruslast gehandelt. Die Antragstellerin zu 2) sei dann schwanger geworden. Sie habe am … 2016 mittels Kaiserschnitt entbunden. Um eine Infektion des Ungeborenen zu verhindern, habe die antiretrovirale Therapie intensiviert werden müssen. Aus medizinischer Sicht sei die Fortführung der antiretroviralen Therapie unabdingbar. Die Antragstellerin zu 2) müsse auch kurzfristig jederzeit einen Spezialisten aufsuchen können, um auf eine Verschlechterung der Krankheits- und Immunsituation oder das Auftreten von Infektionen mit eventueller Todesfolge rechtzeitig reagieren zu können. Eine Abschiebung würde zu einer lebensbedrohlichen Unterbrechung der Therapie und der ärztlichen Kontrolle und damit zu einem hohen Mortalitätsrisiko und einer stark verkürzten Lebenserwartung führen. Eine ausreichende lebenserhaltende Therapie wäre in der Russischen Föderation nicht sichergestellt. Sowohl die kontinuierliche Behandlung mit den erforderlichen Medikamenten als auch die engmaschige fachärztliche Kontrolle und Überwachung finde dort nur für einen geringen Teil der Infizierten statt. Es fehle dort an Medikamenten. Derzeit würden nur Schwerkranke versorgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Klageverfahren M 16 K 16.30301 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig. Insbesondere wurde die Wochenfrist des § 71a Abs. 4 AsylG iV.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG eingehalten.
Der Antrag ist auch begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen (vgl. § 71a Abs. 4 AsylG i. V. m. § 36 Abs. 4 AsylG).
Gemäß § 71a Abs. 4 AsylG i. V. m. § 36 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Aussetzung der Abschiebung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Im Hinblick auf die Erkrankung der Antragstellerin zu 2) und eines damit möglicherweise vorliegenden (auch zielstaatsbezogenen) Abschiebungsverbots bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der insoweit seitens des Bundesamts getroffenen Entscheidung. Es sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die angefochtene Maßnahme jedenfalls in dem für diese Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Regelung erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben (z. B. Reiseunfähigkeit), nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis kann gegeben sein, wenn die Gefahr besteht, dass sich eine vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich die Krankheit im Heimatstaat aufgrund unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert oder wenn der betroffene Ausländer die medizinische Versorgung aus sonstigen Umständen tatsächlich nicht erlangen kann (BVerwG, B. v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 u.a – juris; BayVGH, U. v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris Rn. 34). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden (OVG NRW, B. v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 56).
Ein (ausländerrechtlicher) Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn) (vgl. BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14).
Im Fall der Antragstellerin zu 2) dürfte nach dem vorgelegten ärztlichen Befundbericht vom … Februar 2016 unzweifelhaft davon auszugehen sein, dass eine Reiseunfähigkeit vorliegt. Darüber hinaus ergeben sich aus dem Befundbericht aber auch hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass zusätzlich auch ein – im Rahmen des Asylverfahrens relevantes – zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis im dargestellten Sinne vorliegen könnte. Dies hängt davon ab, ob im Herkunftsland der Antragstellerin zu 2) ausreichende Behandlungsmöglichkeiten vorliegen, um eine wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustands verhindern können, und ob die Antragstellerin zu 2) diese medizinische Versorgung auch tatsächlich erlangen kann. Da hierüber nach dem derzeitigen Kenntnisstand und der gegenwärtigen allgemeinen Auskunftslage keine konkreten und verlässlichen Aussagen möglich sind und auch eine Prüfung diesbezüglich durch das Bundesamt noch nicht erfolgt ist, muss die nähere Klärung dieser Fragen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
In dem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: Januar 2016; vgl. dort S. 27 f.) wird zwar erwähnt, dass die Zahl der AIDS-Kranken in Russland in den letzten Jahren weiter gestiegen sei, auf die medizinische Versorgung dieser Gruppe wird jedoch nicht näher eingegangen. Es finden sich nur allgemeine Ausführungen zur medizinischen Versorgung in Russland, die auf einfachem Niveau, aber grundsätzlich ausreichend sei. Es wird allerdings auch auf Schwachstellen hingewiesen. Die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems steige seit Beginn der Wirtschaftskrise weiter an. Das Hauptproblem sei weniger die fehlende technische Ausstattung, sondern ein gravierender Ärztemangel und eine unzureichende Aus- und Fortbildung. Russische Bürger hätten ein Recht auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis würden nahezu alle Gesundheitsdienstleistungen erst nach verdeckter privater Zuzahlung geleistet. Die Versorgung mit Medikamenten sei zumindest in den Großstädten gewährleistet, aber nicht kostenfrei. Zudem wäre vorliegend auch die individuelle Situation der Antragsteller zu berücksichtigen. Wie in dem Lagebericht weiter ausgeführt wird (vgl. dort S. 29), stehe Tschetschenen wie allen russischen Staatsbürgern (zwar) das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu, jedoch werde der legale Zuzug an vielen Orten durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. In dem Länderinformationsblatt „Russische Föderation“ von IOM (Juni 2014) wird „AIDS/HIV“ zwar als Krankheit genannt, die nach einer Liste Patienten dazu berechtige, Medikamente kostenlos zu erhalten, jedoch setzt auch dies offenbar voraus, dass dem Betroffenen staatliche Unterstützung zuerkannt worden sein muss und dieser wohl auch über eine Krankenversicherung verfügen muss. Einzelheiten gehen auch aus dieser Auskunft nicht hervor, insbesondere auch nicht die Art der Medikamente und der Umfang bzw. die konkrete Indikation für die (kostenlose) Medikation.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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