Verwaltungsrecht

Beschwerde, Duldung, Reiseunfähigkeit, Suizidalität, Suizidversuch

Aktenzeichen  10 CE 22.355

Datum:
8.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3128
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 146
VwGO § 123 Abs. 1 und 3
ZPO § 920 Abs. 2
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
AufenthG § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 4 E 22.573 2022-02-08 VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. In Abänderung der Nr. I. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Februar 2022 wird der Antragsgegner verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers einstweilen auszusetzen.
II. In Abänderung der Nr. II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Februar 2022 trägt der Antragsgegner die Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,– Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seiner heute eingelegten Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner zu verpflichten, seine für heute Abend geplante Abschiebung nach Pakistan einstweilen auszusetzen.
Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2022 hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht – unter Vorlage eines psychiatrischen Gutachtens vom 3. Februar 2022 − beantragt, dem Antragsgegner einstweilen zu untersagen, den Antragsteller abzuschieben. Zur Begründung hat er angeführt, dass er − entgegen dem medizinischen Sachverständigengutachten vom 11. Januar 2022 − im engeren und weiteren Sinne wegen Suizidgefahr reiseunfähig sei. Nach dem nunmehr vorgelegten Gutachten vom 3. Februar 2022 habe der Antragsteller seine Suizidgedanken immer schlechter kontrollieren können, so dass bei zusätzlicher Belastung jederzeit eine unkontrollierbare Suizidhandlung erfolgen könne und außerdem entgegen dem Gutachten vom 11. Januar 2022 eine sofortige Behandlung bei Ankunft im Heimatland erforderlich sei.
Mit Schreiben vom 7. Februar 2022 hat der Antragsgegner darauf erwidert und unter anderem vorgetragen, dass der Antragsteller, wie sich aus dem Gutachten vom 11. Januar 2022 ergebe, (weiterhin) reisefähig sei. Der Antragsteller halte sich derzeit im Bezirkskrankenhaus in Hof auf, da er am 6. Februar 2022 in der Abschiebehaft den Versuch unternommen habe, sich mit einem Schnürsenkel selbst zu verletzen. Die Rückführung nach Pakistan werde mit Sicherheitsbegleitung durch Kräfte der Bundespolizei sowie unter ärztlicher Begleitung durchgeführt werden.
Mit angegriffenem Beschluss vom 8. Februar 2022 hat das Verwaltungsgericht den Eilantrag des Antragstellers abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen angeführt, dass das vorgelegte Gutachten vom 3. Februar 2022 nicht den Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG genüge. Insbesondere fehle insoweit eine tragfähige Basis, als die Gutachterin ersichtlich davon ausgegangen sei, dass die Schilderungen des Antragstellers glaubhaft seien. Dies könne jedoch nicht zweifelsfrei angenommen werden. Das Verwaltungsgericht könne zudem den Schilderungen des Antragstellers gegenüber der Gutachterin nicht entnehmen, dass dieser sich bereits konkrete Vorstellungen über die Durchführung eines Suizids gemacht habe. Überdies seien Suizidhandlungen nach dem Gutachten vom 11. Januar 2022 als Zweckreaktion gegen die Abschiebung einzuschätzen. Selbst bei Annahme einer nicht völlig auszuschließen Suizidgefahr liege nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vor. Die Abschiebung sei von den Ausländerbehörden so zu gestalten, dass einer Suizidgefahr wirksam begegnet werden könne. Es sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Antragsgegner seiner Schutzpflicht, möglichen suizidalen Handlungen vorzubeugen, nicht nachkommen würde. Dass am Ort der Abschiebung ebenfalls weitere Schutzmaßnahmen zu ergreifen seien, habe der Gutachter in dem Gutachten vom 11. Januar 2022 nicht für erforderlich gehalten. Die abweichende Einschätzung in dem Gutachten vom 3. Februar 2022 überzeuge das Verwaltungsgericht nicht.
Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2022 um 15.09 Uhr hat der Antragsteller hiergegen Beschwerde erhoben mit dem Antrag,
dem Antragsgegner − unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom gleichen Tag – vorläufig zu untersagen, den Antragsteller abzuschieben.
Zur Begründung trägt die Antragstellerseite vor, dass der Antragsteller entgegen dem Verwaltungsgericht suizidgefährdet sei. Der Vollzug der Abschiebung, erst Recht ohne Absicherung der Übernahme des Antragstellers durch einen Facharzt am Ankunftsort, brächte den Antragsteller in akute Lebensgefahr. Das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass das Gutachten vom 3. Februar 2022 nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genüge. Außerdem habe das Verwaltungsgericht gegen seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen. Nach dem Schreiben des Antragsgegners vom 7. Februar 2022 habe der Antragsteller am Tag zuvor einen Suizidversuch unternommen, sich dabei Verletzungen am Kopf zugezogen und sei in das Klinikum in Hof und dann in die Psychiatrie des Bezirksklinikums Rehau verbracht worden. Das Verwaltungsgericht habe die ärztlichen und fachärztlichen Stellungnahmen und Arztbriefe des Klinikums Hof, des Bezirkskrankenhauses Rehau sowie des medizinischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Hof nicht eingeholt. Zwar müsse der Antragsteller den Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft machen, dies entbinde das Verwaltungsgericht jedoch nicht von seiner Pflicht, im Rahmen des Vorbringens eigene Ermittlungen anzustellen, soweit sich dies aufdränge. Dies gelte umso mehr, wenn eine Gefahr für Leib, Leben und Gesundheit geltend gemacht werde und bereits in Suizidversuch unternommen worden sei.
Der Antragsgegner beantragt − unter Vorlage des ärztlichen Berichts des Bezirksklinikums Rehau vom 7. Februar 2022 – ebenfalls am 8. Februar 2022 um 18.05 Uhr,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist der Antragsgegner auf den erstinstanzlichen Beschluss und den vorgelegten ärztlichen Bericht vom 7. Februar 2022. Im Übrigen bestätigt der Antragsgegner, dass die Rückführung des Antragstellers mit Sicherheitsbegleitung und ärztlicher Begleitung durchgeführt würde.
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Überprüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt es, eine von dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom heutigen Tag abweichende Entscheidung zu treffen.
Der geltend gemachte Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Art und Weise glaubhaft gemacht.
a) Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt insbesondere dann vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Gefahr für das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Rechtsgut Leib und Leben zu befürchten ist. Erforderlich ist, dass infolge der Abschiebung als solcher − unabhängig von dem konkreten Zielstaat − eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der betroffenen Person konkret droht. Zum einen scheidet daher eine Abschiebung aus, wenn und solange die Person wegen der Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich der Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Transport wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht − sog. Reiseunfähigkeit im engeren Sinn. Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn – außerhalb des Transports – das ernsthafte Risiko besteht, dass der Gesundheitszustand der Person unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig von dem konkreten Zielstaat) sich wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert – Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne (vgl. BayVGH, B.v. 15.4.2020 − 10 CE 20.369 – juris Rn. 6; B.v. 9.5.2017 – 10 CE 17.750 – juris Rn. 3 m.w.N.).
Dabei wird nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
b) Im vorliegenden Fall sind im Beschwerdeverfahren Umstände glaubhaft gemacht, die es nahelegen, dass die Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG derzeit rechtlich unmöglich ist.
Dabei kann offenbleiben, ob das Verwaltungsgericht, wie von Antragstellerseite geltend gemacht, gegen die Amtsermittlungspflicht des § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen hat. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerseite im Beschwerdeverfahren nicht geltend gemacht hat, dass sie den ärztlichen Bericht beziehungsweise die Stellungnahme der Fachklinik, deren fehlende Berücksichtigung durch das Verwaltungsgericht sie rügt, nicht selbst habe erlangen und dem Verwaltungsgericht nicht habe vorlegen können.
Des Weiteren kann offenbleiben, ob und inwieweit das Gutachten vom 3. Februar 2022 den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügt oder nicht. Denn der von Seiten des Antragsgegners vorgelegte fachärztliche Bericht vom 7. Februar 2022 bestätigt in wesentlichen Punkten die fachärztlichen Feststellungen in dem Gutachten vom 3. Februar 2022.
Der Bericht des Bezirksklinikums Rehau vom 7. Februar 2022 legt nach Auffassung des Senats nahe, dass im vorliegenden Fall das ernsthafte Risiko besteht, der Gesundheitszustand des Antragstellers werde sich unmittelbar durch die Abschiebung als solche – außerhalb des Transports − wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern. Danach ist der Antragsteller wegen eines Suizidversuchs durch Strangulation psychiatrisch aufgenommen worden. In dem Bericht wird unter anderem die Diagnose „Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode“ ausgestellt. Durch einen Dolmetscher sei zudem eruiert worden, dass noch Suizidgedanken vorhanden seien. Es bestehe ein Risiko einer akuten Entgleisung der Erkrankung. Neben einer Sicherheitsbegleitung und einer medizinischen Begleitung wird daher in dem fachärztlichen Bericht vom 7. Februar 2022 empfohlen, eine antidepressive Behandlung im Heimatland fortzuführen.
Soweit das Verwaltungsgericht ein krankheitsbedingtes (rechtliches) Abschiebungshindernis beim Antragsteller „selbst bei Annahme einer nicht völlig auszuschließenden Suizidgefahr“ verneint, weil nicht ersichtlich sei, dass der Antragsgegner seiner diesbezüglichen Schutzpflicht nicht nachkommen und die hierfür erforderlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Abschiebung ergreifen werde, ist diese entscheidungstragende Feststellung im Beschwerdeverfahren unter Berücksichtigung des vorgelegten fachärztlichen Bericht vom 7. Februar 2022 letztlich nicht mehr hinreichend tragfähig. Denn auch wenn bei der Abschiebung des Antragstellers sowohl eine Sicherheitsbegleitung als auch eine erforderliche medizinische Begleitung auf dem Transportflug sichergestellt wird (vgl. BA S. 14 Rn. 49), wie der Antragsgegner auch im Beschwerdeverfahren bekräftigt hat, ist nicht sichergestellt, dass am Ort der Abschiebung in Pakistan erforderliche ärztliche Schutzmaßnahmen bei dem akut suizidgefährdeten Antragsteller zur Verfügung stehen. Soweit das Erstgericht derartige Schutzmaßnahmen am Ort der Abschiebung für nicht erforderlich gehalten hat, ist diese auf dem Gutachten vom 11. Januar 2022 beruhende Einschätzung durch den im Beschwerdeverfahren vorgelegten fachärztlichen Bericht vom 7. Februar 2022 ernstlich infrage gestellt.
2. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
4. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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