Verwaltungsrecht

Betretungsverbot von gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen

Aktenzeichen  RO 14 S 20.1002

Datum:
17.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 13622
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123 Abs. 1
IfSG § 28 Abs.1
BayEUG Art. 37 Abs. 1 S. 1
GG Art. 2 Abs. 2
BayKiBiG Art. 21 Abs. 5 S. 6
SGB VIII § 24 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung gebieten es im Einzelfall, dass die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes nicht erst dann einsetzt, wenn auch ein Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Entfallen der regulären Betreuungsangebote und das Verbot des Besuchs einer gebäudebezogenen Kindertageseinrichtung finden in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG keine hinreichende gesetzliche Grundlage (mehr). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Angesichts der Vielzahl der getroffenen Ausnahmen bestehen Zweifel an der Eignung des angeordneten Entfallens regulärer Betreuungsangebote und des Betretungsverbotes. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen die Ziffer 1 der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29.5.2020, Az. G51b-G8000-2020/122-344, wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2500,- € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Regelungen in der vom Antragsgegner verabschiedeten Allgemeinverfügung betreffend Maßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie im Bereich der Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen vom 29.5.2020 und möchten auf diesem Wege erreichen, dass ihr Sohn R. den Kindergarten U. in A. ab 15.6.2020 wieder besuchen kann.
Bei den Antragstellern handelt es sich um die Eltern des am …2015 geborenen Kindes R. Dieser verfügt nach Angaben der Eltern über einen Kindergartenplatz im U. A., der derzeit nicht in Anspruch genommen werden könne. R. erfülle nicht die Voraussetzungen der ab 15.6.2020 geltenden Allgemeinverfügung, sodass er auch ab diesem Zeitpunkt den Kindergarten nicht besuchen könne.
Die Allgemeinverfügung des bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29.5.2020, Az. G51b-G8000-2020/122-344 enthält auszugsweise folgende Regelungen, die für den von den Antragstellern begehrten Rechtsschutz relevant sind:
„Allgemeinverfügung
1. Es wird Folgendes angeordnet:
1.1 An allen gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen entfallen die regulären Betreuungsangebote.
1.2 Kinder dürfen gebäudebezogene Kindertageseinrichtungen für den oben genannten Zweck nicht betreten.
2. Der Träger einer gebäudebezogenen Kindertageseinrichtung soll ein Betreuungsangebot zur Verfügung stellen. Kinder die nach den Nrn. 3 und 4 zu dessen Inanspruchnahme berechtigt sind, sind vom Verbot nach den Nrn. 1.1 und 1.2 ausgenommen (…).
3. Das Betreuungsangebot nach Nr. 2 darf in Anspruch genommen werden von
3.1.
(…)
3.4. Kindern, die für eine Einschulung zum Schuljahr 2020/2021 an einer Grundoder Förderschule angemeldet sind,
3.5 Kindern, die zum Schuljahr 2021/2022 gemäß Art. 37 Abs. 1 Satz 1 BayEUG schulpflichtig werden,
3.6 Kindern im dritten Lebensjahr,
3.7 Kindern im vierten Lebensjahr, für die nach Art. 21 Abs. 5 Satz 5 BayKiBiG der Gewichtungsfaktor 2,0 gilt bzw. für die nach Art. 21 Abs. 5 Satz 6 BayKiBiG der Gewichtungsfaktor 2,0 derzeit geleistet wird oder geleistet werden kann,
3.8 Kindern, die mit einem Kind, das nach den Nrn. 3.2 oder 3.4 bis 3.7 das Betreuungsangebot in Anspruch nehmen darf, in einem gemeinsamen Haushalt leben und dieselbe Kindertageseinrichtung besuchen.
4.
(…)
8. Diese Allgemeinverfügung tritt am 15. Juni 2020 in Kraft und mit Ablauf des 30. Juni 2020 außer Kraft.
Begründung (…)
Aus den genannten Gründen ist zur Verlangsamung des Infektionsgeschehens in Bayern und zum Schutz vulnerable Gruppen eine weitere Schließung der Kindertageseinrichtungen bis zum 30.6.2020 fachlich geboten. Dadurch werden infektionsrelevante Kontakte für zwei weitere Wochen unterbunden (…).
Die mit dieser Allgemeinverfügung einhergehenden Ausweitungen der zum Besuch der Notbetreuung berechtigten Kindern trägt der Tatsache Rechnung, dass das Infektionsgeschehen in den vergangenen Wochen rückläufig war. Dennoch ist es insbesondere notwendig, die Gruppen, in denen die Kinder betreut werden, möglichst konstant und klein zu halten. Daher ist weiterhin ein Betretungsverbot für rund 1/5 der Kinder notwendig, um diese kleineren Gruppen gewährleisten zu können.
Aus den genannten Gründen ist nach Abwägung aller relevanten Umstände die vorliegende, zeitlich befristete Anordnung verhältnismäßig und gerechtfertigt, um den vorrangigen Gesundheitsschutz der Bevölkerung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) Rechnung zu tragen. Die Rechte und Interessen der Kinder, der Eltern und des Personals der Einrichtungen treten demgegenüber zurück.
(…)“
Die Antragsteller sind der Auffassung, dass die in der Allgemeinverfügung getroffenen Regelungen willkürlich seien und die Rechte ihres Sohnes verletzten. 80% der Kinder dürften in den Kindergarten gehen, auch alle Freunde des Sohnes. Dieser leide sehr darunter. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Infektionsgefahr von Kindern, welche die Voraussetzungen der Allgemeinverfügung nicht erfüllten, besonders hoch sein sollte.
Die Antragsteller wenden sich insbesondere gegen die Regelung in Nummer 3.5 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020, wonach Kinder, die zum Schuljahr 2021/2022 gemäß Art. 37 Abs. 1 Satz 1 BayEUG schulpflichtig werden, ab dem 15.6.2020 wieder in dem Kindergarten betreut würden. Dabei handele es sich um Kinder, die nur etwas älter seien als ihr Sohn und von denen die gleiche Gefahr der Ansteckung ausgehe. Ob diese Kinder zurückgestellt würden oder ihr Sohn vorzeitig eingeschult werde, werde sich erst im kommenden Jahr entscheiden. Insofern sei dieses Kriterium willkürlich. Hier hätte der Antragsgegner in der Zeit seit Schließung der Betreuungseinrichtungen die Möglichkeit gehabt, differenzierte Regelungen zu erarbeiten. In dem betroffenen Kindergarten seien alle Erzieher(-innen) einsatzbereit. Die Anzahl der durch die jeweiligen Einrichtungen überhaupt betreubaren Kinder habe aber keinen Einfluss auf die Maßnahme.
Am 9.6.2020 haben die Antragsteller zu Protokoll der Geschäftsstelle beim Verwaltungsgericht Regensburg um Eilrechtsschutz nachgesucht. Dabei haben sie deutlich zum Ausdruck gebracht, das Ziel ihres Antrags ist, dass ihr Sohn R. trotz der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29.5.2020 ab dem 15.6.2020 den Kindergarten wieder besuchen kann.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29.5.2020, Az. G51b-G8000-2020/122-344 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sei bereits unzulässig. Nach Auslegung des Antrags begehrten die Antragsteller eine Rückkehr zum Regelbetrieb der bayerischen Kindergärten und damit eine Aufhebung der Ziffer 1 der Allgemeinverfügung. Bisher sei jedoch keine Anfechtungsklage erhoben worden, deren aufschiebende Wirkung angeordnet werden könne. Außerdem seien die Antragsteller in ihrer Rolle als Eltern auch nicht antragsbefugt, weil sie nicht unmittelbar in eigenen Rechten verletzt wären. Die streitgegenständliche Anordnung richte sich gegen den Träger der jeweiligen Einrichtung. Die Eltern hätten grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Betreuung ihres Kindes in einer Kindertageseinrichtung, dieser Anspruch stehe nach dem eindeutigen Wortlaut des § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII dem Kind zu.
Außerdem sei der Antrag unbegründet. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG (Infektionsschutzgesetz) treffe die zuständige Behörde alle notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich sei. Es handele sich um eine Generalklausel, welche die zuständige Behörde zum Handeln verpflichte (gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen sei der Behörde ein Ermessen eingeräumt. Das behördliche Ermessen werde dabei dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige“ Schutzmaßnahmen handeln müsse. Die Einstellung des Regelbetriebes in der Kinderbetreuung nach Ziffer 1.1 der Allgemeinverfügung stelle eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG dar. Sowohl die Einstellung des Regelbetriebes der Kinderbetreuung, die Anordnung eines Betretungsverbotes als auch die konkrete Ausgestaltung der Notbetreuungsangebote seien verhältnismäßig und verstießen nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen das Grundrecht auf Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) und den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Um das Ansteckungsrisiko zu minimieren, stehe vorübergehend nur eine begrenzte Kapazität an Notbetreuungsmöglichkeiten zur Verfügung, sodass diese Betreuungsplätze nach sachgerechten Kriterien zu vergeben seien. Die Allgemeinverfügung sei zeitlich befristet und werde fortlaufend danach evaluiert, ob sämtliche Maßnahmen noch gerechtfertigt seien. Die aktuell geltende Allgemeinverfügung trete mit Ablauf des 30.6.2020 außer Kraft. Ab dem 1.7.2020 könnten voraussichtlich alle Kinder wieder regulär ihre Kindertageseinrichtung besuchen. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass nach § 3 S. 1 und S. 2 der 5. BayIfSMV (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung) auch alternative Betreuungsmöglichkeiten in Betracht kämen. Nach summarischer Prüfung sei die Allgemeinverfügung daher rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachund Streitstands wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Die Antragsteller wenden sich bei verständiger Würdigung ihres Vorbringens gegen das durch Ziffer 1 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 angeordnete Betretungsverbot von gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen und das Entfallen regulärer Betreuungsangebote für Kinder, die nicht den in den Nummern 3 und 4 der Allgemeinverfügung einzelnen aufgelisteten Ausnahmetatbeständen unterfallen.
Das Gericht hat nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO das im Klageantrag und im gesamten Parteivorbringen zum Ausdruck kommende Rechtsschutzziel zu ermitteln und seiner Entscheidung zugrunde zu legen (BVerwG, U. v. 23.2.1993 – 1 C 16/87 – juris, Rn. 13). Das Klageziel ist nicht allein dem Klageantrag zu entnehmen, sondern dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere auch der Klagebegründung. Maßgeblich kommt es insoweit auf das erkennbare Klageziel an, so wie sich dieses dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung aufgrund des gesamten Parteivorbringens und Akteninhalts dargestellt.
Dies zugrunde gelegt möchten die Antragsteller erreichen, dass das in Ziffer 1 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 geregelte Betretensverbot von gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen und das Entfallen regulärer Betreuungsangebote ihnen gegenüber nicht sofort vollziehbar ist. Die sofortige Vollziehbarkeit dieser Maßnahmen ergibt sich aus § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Der Antrag kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO auch schon vor Erhebung der Anfechtungsklage eingereicht werden. Das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung gebieten es im vorliegenden Fall, dass die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes nicht erst dann einsetzt, wenn auch ein Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt ist. Dies ergibt sich auch aus einer entsprechenden Anwendung des Rechtsgedankens des § 123 Abs. 1 VwGO (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 80 Rn. 139). Im vorliegenden Fall, in dem aufgrund der Eilbedürftigkeit der Entscheidung von vorneherein absehbar ist, dass eine Entscheidung in der Hauptsache nicht rechtzeitig ergehen kann, ist ein Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auch unabhängig von einer Klageerhebung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zulässig (vgl. auch § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die Allgemeinverfügung vom 29.5.2020, die im Bayerischen Ministerialblatt vom 29.5.2020 bekannt gemacht wurde, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts noch nicht bestandskräftig. Die Klagefrist ist noch nicht abgelaufen.
b) Die Antragsteller sind auch antragsbefugt.
Offenbleiben kann dabei, ob die Antragsteller zu 1 und 2 auch als gesetzliche Vertreter für ihren Sohn einen Antrag stellen wollten und dieser nicht als weiterer Antragsteller mit in den Antrag aufgenommen werden müsste. Die nicht anwaltschaftlich vertretenen Antragsteller haben zu Protokoll vor dem Urkundsbeamten des Verwaltungsgerichts Regensburg ihren Antrag gestellt. Eindeutig erkennbares Ziel dieses Antrags ist es, dass ihr Sohn R. trotz der Geltung der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege vom 29.5.2020 ab dem 15.6.2020 wieder den Kindergarten besuchen kann. Als prozessuale Willenserklärungen sind auch die Parteibezeichnungen nach ihrem erkennbaren objektiven Sinn auszulegen. Falsche Bezeichnungen sind unschädlich, wenn nach dem Inhalt der Klage jedenfalls erkennbar ist, wer Partei sein soll und in welcher Prozessrolle (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 82 Rn. 3). Aufgrund der Eilbedürftigkeit der Entscheidung konnte allerdings keine Rückfrage bei den Eltern nach dem vollständigen Namen des Kindes stattfinden, so dass dieser nicht kurzfristig seitens des Gerichts als weiterer Antragsteller aufgenommen werden konnte.
Ziffer 1 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 enthält jedenfalls auch Einschränkungen für die Eltern, sodass auch die Antragsteller zu 1 und 2 antragsbefugt sind. Die Regelung in Ziffer 1 der Allgemeinverfügung macht es den Eltern unmöglich, die Kinder in der Kindertagesstätte entsprechend der zwischen den Eltern und dem Träger der Kindertagesstätte bestehenden rechtlichen Beziehungen betreuen zu lassen und betrifft demnach auch eigene Rechte der Eltern (so auch Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, B. v. 30.4.2020 – 1 B 66/20 – juris, Rn. 2 zu der dort geltenden im Wesentlichen gleichlautenden Allgemeinverfügung). Auch ein Eingriff in die Grundrechte der Eltern, beispielsweise die Berufsausübungsfreiheit, den Gleichheitsgrundsatz, das Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie, die allgemeine Handlungsfreiheit und die Freiheit der Person, sind durch die Allgemeinverfügung möglich. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Frage der Rechtsbetroffenheit der Eltern durch die Allgemeinverfügung in seinem Beschluss vom 18.5.2020 (20 CS 20.1056 – juris, Rn. 3) ausdrücklich offen gelassen und diese schwierige Rechtsfrage der Klärung in der Hauptsache vorbehalten. Käme man allerdings wie der Antragsgegner zu der Auffassung, dass sich die Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 allein an den Träger der Kindertageseinrichtung richtet, würde dies dazu führen, dass die von dieser Regelung vor allem Betroffenen Eltern und Kinder im Ergebnis rechtlos gestellt würden.
c) Den Antragstellern fehlt auch nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 mit Ablauf des 30.6.2020 außer Kraft tritt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese erst am 15.6.2020 in Kraft getreten ist und damit fast die gesamte Gültigkeitsdauer der Allgemeinverfügung noch aussteht. Zudem handelt es sich bereits um die 7. Regelung, die die Antragsgegnerin hinsichtlich der Kindertageseinrichtungen bereits erlassen hat. Es war für die Antragsteller jedenfalls zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht absehbar, ob es sich dabei tatsächlich um die letzte Regelung handelt und ihr Sohn wirklich am 1.7.2020 wieder den Kindergarten besuchen können wird. Vor diesem Hintergrund kann es den Antragstellern zum jetzigen Zeitpunkt nicht verwehrt werden, einstweiligen Rechtsschutz gegen die streitgegenständliche Allgemeinverfügung in Anspruch zu nehmen.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene, originäre Ermessensentscheidung. Es hat dabei zwischen dem in der gesetzlichen Regelung zum Ausdruck kommenden Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich die zugrunde liegende Allgemeinverfügung bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Bei summarischer Prüfung spricht viel dafür, dass die Ziffer 1 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29.5.2020 zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig ist und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Interessenabwägung fällt daher vorliegend zugunsten der Antragsteller aus.
a) Das Gericht geht bereits davon aus, dass das in Ziffer 1 der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege verfügte Entfallen der regulären Betreuungsangebote und das Verbot des Besuchs einer gebäudebezogenen Kindertageseinrichtung in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG keine hinreichende gesetzliche Grundlage (mehr) findet.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
Bei § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG handelt es sich um eine Generalklausel, die die zuständigen Behörden zum Handeln verpflichtet (gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ des Eingreifens – ist der Behörde jedoch ein Ermessen eingeräumt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-) Verbreitung der Krankheit geboten sind. Der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ ist umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen, welche durch die Notwendigkeit der Maßnahme in Einzelfall begrenzt wird (BayVGH, B. v. 30.3.2020 – 20 CS 20.611 – juris). Schutzmaßnahmen sind nur erlaubt, soweit dies inhaltlich („soweit“) und zeitlich („solange“) erforderlich ist. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.
Ob die Schutzmaßnahme, konkret das Entfallen der regulären Betreuungsangebote und das Betreten gebäudebezogener Kindertageseinrichtungen inhaltlich und zeitlich erforderlich und damit verhältnismäßig ist, beurteilt sich nach dem Infektionsgeschehen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat eine Güterabwägung zu erfolgen zwischen den Grundrechtseinschränkungen durch die getroffenen Maßnahmen einerseits und dem Schutz der Bevölkerung, insbesondere vulnerablen Personengruppen vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 und dem Ziel, eine Überforderung der Kapazitäten des Gesundheitssystems zu verhindern, andererseits. Die Gerichte kamen bisher übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass angesichts neuer Erkenntnisse und des sich kontinuierlich ändernden Infektionsgeschehens der Verordnungsgeber stets prüfen müsse, ob die bisherigen gravierenden Grundeinschränkungen wieder zu lockern sind (BVerfG, B.v. 10.4.2020 – 1 BvQ 31/20 – juris, Rn. 16; BayVerfGH. B.v. 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris, Rn. 103; BayVGH, B. v. 30.3.2020 – 20 NE 20.632 – juris).
aa) Zweifel bestehen bereits daran, ob das in Ziffer 1.1 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 angeordnete Entfallen regulärer Betreuungsangebote und das in Ziffer 1.2. angeordnete Betretungsverbot angesichts der Vielzahl der in den Ziffern 3 und 4 getroffenen Ausnahmen überhaupt noch geeignet ist, das in § 1 Abs. 1 IfSG vorgegebene Ziel – Vorbeugung übertragbarer Krankheiten beim Menschen, frühzeitige Erkennung von Infektionen und Verhinderung ihrer Weiterverbreitung – zu erreichen.
Zur Frage, inwieweit Kinder und Jugendliche zur Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung beitragen, lagen bislang nur wenige Daten vor. In den meisten Studien zeigte sich, dass Kinder durch Erwachsene infiziert wurden. Da die Betreuungs- und Bildungseinrichtungen während der meisten Untersuchungen geschlossen bzw. nur eingeschränkt geöffnet waren, sind die Ergebnisse nicht auf die Alltagssituationen übertragbar (RKI-Coronavirus SARS-CoV-2- Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Corona Virus, „Was ist über COVID-19 bei Kindern bekannt?“, Stand: 29.5.2020).
Erste Ergebnisse einer vom Land Baden-Württemberg in Auftrag gegebenen Studie zeigen allerdings, dass Kinder anscheinend seltener an COVID-19 erkranken und auch seltener durch das SARS-CoV-2-Virus infiziert werden. In einer Screening-Studie, an der sich die 4 Universitätskliniken in Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm beteiligt haben, wurden rund 2500 Kinder im Alter von einem bis 10 Jahren und jeweils ein zugehöriger Elternteil, also insgesamt rund 5000 Studienteilnehmende untersucht, um festzustellen, ob zum Zeitpunkt der Testung eine unbemerkte Infektion mit SARS-CoV-2 vorlag oder die Testpersonen bereits Antikörper nach einer überstandenen, aber unbemerkt gebliebenen Corona Virus-Infektion gebildet hatten. 64 Getestete hatten Antikörper gebildet und weitgehend unbemerkt eine Corona-Infektion durchlaufen, was einer Häufigkeit von 1,3% entspreche. Unter den 64 Getesteten hätten sich 45 Elternteile und 19 Kinder befunden, sodass der Unterschied in der Antikörper-Bildung zwischen Kindern und Erwachsenen statistisch hochsignifikant sei. Weniger als 1/3 der auf Antikörper positiv getesteten Personen seien Kinder. Kinder zwischen 1 und 5 Jahren seien mit 7 Fällen (von 1122) noch seltener antikörper-positiv als ältere Kinder zwischen 6 und 10 Jahren (12 Fälle von 1358). Bei 13 Eltern-Kind-Paaren seien beide infiziert, das heißt die Erkrankung eines Elternteils führe nicht zwingend zur Erkrankung des Kindes und umgekehrt. Die Ergebnisse der Studie ließen keine Aussage darüber zu, wer sich in einer Familie zuerst angesteckt habe und inwieweit Wohnsituation und Beruf der Eltern hierbei eine Rolle spielen. Aufgrund der insgesamt geringen Anzahl von Kindern mit überstandener Infektion sei es schwierig signifikante Unterschiede zwischen Kindern, die in einer Notbetreuung gewesen seien und solchen, die ausschließlich in der Kernfamilie gelebt hatten, zu finden. Dies müsse in einer Folgestudie untersucht werden (https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/erste-ergebnisse-der-studie-ueber-corona-bei-kindern/; https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/newsroom/vorlaeufige-ergebnisse-der-eltern-kind-covid-19-studie-in-baden-wuerttemberg/).
Bisher von der Rechtsprechung herangezogene wissenschaftliche Studien wie beispielsweise die in Bezug auf Großbritannien und die USA durchgeführte Studie des Imperial College London („Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortalitiy and healthcare demand, 16 March 2020, abrufbar unter https://www.imperial.ac.uk/mcr-global-infectious-disease-analysis/news…wuhan-coronavirus) oder das Epidemiologische Gutachten 19/20 “Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen-Überlegungen, Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen“ vom 7.5.2020 sind zur Untermauerung der Wirksamkeit der in der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 getroffenen Maßnahmen (Ausschluss von 1/5 der Kinder von der Betreuung) wenig geeignet, nachdem sich diese auf die Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen als wichtiger und entscheidender Baustein bei der Verlangsamung der Ausbreitung der Infektion bezogen, auf der Grundlage der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 aber nicht mehr von einer Schließung von Kindertageseinrichtungen ausgegangen werden kann. Aus der Begründung der Allgemeinverfügung ist ersichtlich, dass auf der Grundlage der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung 4/5 der Kinder wieder in der Kindertageseinrichtung betreut werden und das Betretungsverbot lediglich für 1/5 der Kinder weiterhin gilt.
Unter dieser Annahme wird man schwerlich von einer Schließung der Kindertageseinrichtung und der Einrichtung einer reinen Notbetreuung sprechen können. Ob bereits der Ausschluss von einem Fünftel der Kinder ein geeignetes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks darstellt, ist für das Gericht allerdings fraglich.
bb) Das in Ziffer 1.1 der Allgemeinverfügung angeordnete Entfallen der regulären Betreuungsangebote und das in Ziffer 1.2 verfügte Betretungsverbot sind zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als Schutzmaßnahme inhaltlich jedenfalls nicht (mehr) erforderlich und angemessen.
Insofern ist der im öffentlichen Interesse verfolgte Schutz des Lebens und der Gesundheit der Einzelnen sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems mit den allgemeinen Persönlichkeitsrechten der Antragsteller sowie dem Recht auf freie Berufsausübung und dem Erziehungsrecht in Ausgleich zu bringen.
Hierbei ist zunächst festzustellen, dass es sich angesichts der fortgeschrittenen zeitlichen Dauer der Schließung von Kindertageseinrichtungen um einen intensiven Eingriff in die Interessen sowohl der Eltern als auch des Kindes handelt, weil das Kind nicht mehr im gewohnten Umfang gemeinsam mit anderen Kindern betreut und gefördert wird und die Eltern ihren Beruf oft nicht mehr im gewünschten oder erforderlichen Maß ausüben können. Gerade die ununterbrochene Betreuungsbedürftigkeit eines Kindergartenkindes geht häufig mit einer enormen psychischen Belastung einher. Die Schließung von Kindertageseinrichtungen führt sowohl im Familien- als auch im Arbeitsleben zu erheblichen Schwierigkeiten. Die dauernde Isolation eines Kindes von seinen gleichaltrigen Freunden kann zu entwicklungspsychologischen Schäden führen. Durch das gleichzeitige Arbeiten und Erziehen werden Familien erheblich belastet und es entsteht ein hohes Belastungs- und Konfliktpotenzial.
Auf der anderen Seite ist die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zum Zeitpunkt der Schließung der Kindertageseinrichtungen massiv zurückgegangen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts gab es in Bayern amtlich ausgewiesen 47.696 bestätigte CoronaErkrankungen, wobei amtlich ausgewiesen 44.300 Personen als wieder genesen gelten und 2539 Todesfälle zu verzeichnen sind. Damit beläuft sich die Zahl der aktuell in Bayern an COVIDErkrankten auf 860 Personen. Bezogen auf 100.000 Einwohner sind damit unter 7 Personen entsprechend betroffen, das entspricht 0,007 Prozent der Bevölkerung Bayerns. Die über 7 Tage statistisch geglättete Reproduktionszahl R, die angibt, wie viele weitere Personen ein Infizierter statistisch ansteckt, ehe er gesundet oder verstirbt, bemisst sich entsprechend der mathematischen Betrachtungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) für Bayern auf R = 0,83. Einzig in einem Landkreis in Bayern liegt die 7-Tage Inzidenz bezogen auf 100.000 Einwohner über der Meldemarke von 50, was auf das Infektionsgeschehen in einem Gartenbaubetrieb, bei dem es unter osteuropäischen Erntehelfern zu Ansteckungen gekommen ist, zurückzuführen ist. Von den insgesamt 96 Gebietskörperschaften gibt es 2, die eine 7-Tage-Inzidenz von 10 bis 34 Fällen auf 100.000 Einwohner aufweisen, bei allen anderen Gebietskörperschaften liegt die 7-Tage-Inzidenz bei einem Wert von 0 bis 9 Fällen auf 100.000 Einwohner (StMIaktuell – Ausgabe vom 16.6.2020).
Die Belegungssituation in bayerischen Krankenhäusern stellte sich Anfang April 2020 wie folgt dar: Insgesamt sind ca. 80.000 Krankenhausbetten verfügbar. Diese teilen sich in ca. 75.500 Allgemein- und ca. 4.500 Intensivbetten auf. Anfang April 2020 waren ca. 2.300 Allgemein- und ca. 870 Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt (StMI aktuell – Ausgabe vom 7. April 2020). Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung waren nur noch 105 erkrankte Patientinnen und Patienten auf ein Intensivbett mit künstlicher Beatmung angewiesen (StMI aktuell – Ausgabe vom 11. Juni 2020).
Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die Corona-Pandemie zwar noch keinesfalls überstanden, sodass Schutzmaßnahmen in zeitlicher Hinsicht („solange“) weiterhin erforderlich sind. Solange weder ein Impfstoff oder ein Medikament bei einer Corona-Erkrankung zur Verfügung stehen und eine Herdenimmunität noch nicht erreicht ist, scheinen Schutzmaßnahmen erforderlich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es in Bayern weiterhin Neuinfektionen gibt und im Einzelfall schwere Krankheitsverläufe eintreten. Der Ministerrat ist in seiner Sitzung am 16.6.2020 aber zu der Überzeugung gelangt, dass die pandemische Lage ausreichend stabil eingedämmt ist, so dass die Feststellung des landesweiten Katastrophenfalles am 16.6.2020 um 24 Uhr aufgehoben wurde (StMI aktuell, Ausgabe vom 16.6.2020).
Unter Beachtung der o.g. Umstände erscheint bei summarischer Überprüfung eine Schließung des regulären Betreuungsangebotes in einer Kindertageseinrichtung und ein entsprechendes Betretungsverbot allerdings nicht mehr verhältnismäßig. Die Rechte der Eltern des Kindes und des Kindes wurden bei Erlass der Allgemeinverfügung nicht entsprechend ihrem Gewicht bei der Abwägung berücksichtigt.
Die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen beschränkt sich grundsätzlich darauf, ob die in § 114 VwGO genannten Voraussetzungen eingehalten wurden und umfasst nicht die Überlegung, ob andere Lösungen zweckmäßiger gewesen wären oder ob eine Entscheidung, die § 114 VwGO nicht genügt, aus anderen Gründen im Ergebnis aufrechterhalten werden könnte (Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 21. Auflage 2015, § 114 Rn. 4).
Ein Ermessensfehler liegt zunächst dann vor, wenn die Behörde überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat (sog. Ermessensausfall), wenn sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschreitet (sog. Ermessensüberschreitung), wenn sie nicht alle nach Lage des Falles betroffenen Belange in ihre Ermessensentscheidung eingestellt, sie ihre Entscheidung also auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage getroffen hat (sog. Ermessensdefizit) und schließlich, wenn von dem durch die Befugnisnorm eingeräumten Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist, die Behörde sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder ein Belang willkürlich falsch gewichtet (sog. Ermessensfehlgebrauch) worden ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 14 ff.).
Ob die Ermessensausübung im Einzelfall pflichtgemäß oder fehlerhaft erfolgte, lässt sich nur anhand der nach Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG erforderlichen Begründung des Bescheids ermitteln (Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 14 ff.).
Eine bezüglich der Ermessensausübung fehlende oder unzureichende Begründung indiziert einen Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch, sofern sich nicht aus den Umständen anderes ergibt (Eyermann, VwGO, § 114 Rn. 23).
Aus der Begründung der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 ist bereits nicht zu entnehmen, dass die Rechte der Eltern bei der Abwägung entsprechend ihrem Gewicht ausreichend berücksichtigt wurden. Hier wurde lediglich in einem Satz festgestellt, dass die Rechte und Interessen der Kinder, der Eltern und des Personals der Einrichtung gegenüber dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) zurücktreten müssten. Daraus wird nicht erkennbar, dass die Verantwortlichen sich bei Erlass der Allgemeinverfügung dem Gewicht der Interessen der Eltern und Kinder bei der Abwägung tatsächlich bewusst waren. Auch der Verweis auf die Begründung der Vorgängerfassungen der Allgemeinverfügung ist nicht geeignet, diesen Mangel zu beheben. Zum einen enthalten auch die früheren Allgemeinverfügungen keine weitergehende Auseinandersetzung mit den Rechten der Eltern und Kinder und zum anderen konnte zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorgänger-Allgemeinverfügungen bei der Abwägung auch noch nicht das zukünftige Infektionsgeschehen berücksichtigt werden.
Die Verantwortlichen in Bayern haben sich auf der Grundlage der bisherigen Entwicklungen entschieden, weite Teile der Wirtschaft wieder aufleben zu lassen und schrittsowie bereichsweise Lockerungen zuzulassen. Dementsprechend wichen vollständige Betriebsuntersagungen, aber auch Versammlungsverbote und Ausgangsbeschränkungen milderen Maßnahmen des Infektionsschutzes. Darunter fallen beispielsweise das Abstandsgebot, aber auch die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Seit dem 15.6.2020 sind beispielsweise auch sämtliche Schulpflichtige wieder in der Schule. Diese Entwicklung muss auch bei der Entscheidung über die Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen berücksichtigt werden.
Bei einer Betrachtung der Infektions-, Erkrankungs- und Todeszahlen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass sich die bisherigen Lockerungen nicht negativ auf das Infektionsgeschehen ausgewirkt haben. Zwar ist zu berücksichtigen, dass die Auswirkungen einer Lockerung aufgrund der Inkubationszeit von 14 Tagen erst mit einer Verzögerung abgeschätzt werden können. Allerdings traten die ersten Lockerungsmaßnahmen bereits mit der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 01.05.2020 in Kraft, sodass ein hinreichend langer Zeitraum für die Verfolgung des Infektionsgeschehens nach Lockerungen besteht.
Auch die Befürchtung, die Corona-Pandemie werde zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen, trat nicht ein. Das Gericht verkennt nicht, dass die Zahl tatsächlich infizierter Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit erheblich höher liegt als die Zahl der gemeldeten Fälle, sodass weiterhin die Gefahr einer erneuten Verstärkung des Pandemiegeschehens besteht. Jedoch ist die Belegungssituation keinesfalls kritisch, sodass nicht ansatzweise zu befürchten ist, dass nicht genügend Krankenhausbetten für Corona-Patienten und Patienten, die nicht an Corona erkrankt sind, dennoch aber in einem Krankenhaus betreut werden müssen, zur Verfügung stehen.
Unter Beachtung der o.g. Umstände erscheint bei summarischer Überprüfung eine Schließung des regulären Betreuungsangebotes in einer Kindertageseinrichtung und ein entsprechendes Betretungsverbot nicht mehr verhältnismäßig. Die Rechte der Eltern des Kindes und des Kindes wurden nicht entsprechend ihrem Gewicht bei der Abwägung berücksichtigt.
Weniger einschneidende Maßnahmen sind geeignet (und auch erforderlich), um das Infektionsrisiko einzudämmen und das damit verfolgte Ziel – die körperliche Unversehrtheit zu schützen und einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern – zu erreichen. Die im Rahmen-Hygieneplan „Corona Kindertagesbetreuung“, gültig ab 15.6.2020, vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit festgelegten Verhaltensregeln, Festlegungen zur Raumhygiene (Gruppengröße, Nutzung der Räume und Außenbereiche), Reinigung und Desinfektion, Belüftung und Lebensmittelhygiene sind nach der Überzeugung der zur Entscheidung berufenen Kammer derzeit ausreichend, um dem Infektionsschutz ausreichend Rechnung zu tragen.
Auch wenn die streitgegenständliche Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 nur eine befristete Geltungsdauer vom 15.6.2020 bis zum 30.6.2020 hat, darf nicht außer Betracht bleiben, dass tatsächlich bereits seit dem 16.3.2020 keine Betreuung mehr in den Kindertageseinrichtungen stattfindet. Gerade unter dem Gesichtspunkt der bereits ein Vierteljahr andauernden Schließung der Kindertagesbetreuungsstätten hätte eine besonders strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit stattfinden müssen. Außerdem wäre zu erwarten gewesen, dass in dieser Zeitspanne neuere wissenschaftliche Untersuchungen zur Gefahr der Verbreitung des Virus gerade durch Kinder vorliegen.
b) Ob die streitgegenständliche Allgemeinverfügung darüber hinaus gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, kann daher im Ergebnis unentschieden bleiben.
Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes könnte sich daraus ergeben, dass der Sohn der Antragsteller derzeit von der Inanspruchnahme einer Betreuung ausgeschlossen wird, während eine Vielzahl anderer Kinder aufgrund der in Ziffer 3 geschaffenen Ausnahmen die Kindertageseinrichtung wieder besuchen dürfen. Für das Gericht ist es fraglich, ob für die vorgenommene Differenzierung ein aus infektionsschutzrechtlichen Gründen anerkennenswerter Sachgrund vorliegt.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, B. v. 7.2.2012 – 1 BvL 14/07 -, juris Rn. 40; BVerfG, B. v. 15.7.1998 – 1 BvR 1554/89 – juris Rn. 119 m.w.N.). Er gilt sowohl für ungleiche Belastungen als auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfG, B. v. 11.10.1988 – 1 BvR 777/85- juris; BVerG, B. v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07 – juris; BVerfG, B. v. 21.6.2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 76).
Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfG, B. v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07 – juris; BVerfG, B.v. 21.6.2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77). Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG, B. v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11 -, juris Rn. 30; BVerfG, B. v. 21.6.2011 – 1 BvR 2035/07, juris Rn. 65; BVerfG, B. v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07 – juris Rn. 79).
Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfG, U. v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99 – juris; BVerfG, B. v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 – juris; BVerfG, B. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00 – juris; BVerfG, B.v. 21.6.2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77).
Unter Anwendung dieses Maßstabs könnte eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der Antragsteller gegenüber von Eltern mit Kindern, die nach den Ausnahmetatbeständen der Ziffer 3 der Allgemeinverfügung die Kindertageseinrichtung besuchen dürfen, gegeben sein.
Ein sachlicher Differenzierungsgrund kann sich im Hinblick auf die Beschränkung jedoch ausschließlich aus infektionsschutzrechtlichen Gründen ergeben. Diese vermag die zur Entscheidung berufene Kammer jedoch nicht festzustellen.
Es ist an sich nicht zu beanstanden, wenn man sich zur Vermeidung der Verbreitung des Virus dafür entscheidet, derzeit nur ein kapazitätsmäßig begrenztes Betreuungsangebot zur Verfügung zu stellen. Dann gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz allerdings, dieses begrenzte Betreuungsangebot nach sachgerechten Kriterien zu vergeben.
Eine Ungleichbehandlung des Sohnes der Antragsteller mit den in Ziffer 3.5, 3.6 und 3.7 von dem Betretungsverbot und Betreuungsangebot ausgenommenen Kindern ist aus infektionsschutzrechtlichen Gründen voraussichtlich nicht zu rechtfertigen.
Die Begründung für die in Ziffer 3.5 gemachte Ausnahme, mit zunehmendem Alter träten vermehrt themenbezogene Bildungund Erziehungsziele sowie die Stärkung ausgewählter Kompetenzen mit Blick auf den Übergang in die Schule in den Vordergrund, stellt aus infektionsschutzrechtlichen Gründen keinen sachlichen Grund für eine Ungleichbehandlung des Kindes der Antragsteller mit den Kindern, die zum Schuljahr 2021/2022 nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 BayEUG schulpflichtig werden, dar.
Noch größere Zweifel bestehen für das Gericht, ob sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung von Kindern im dritten Lebensjahr mit dem Sohn der Antragstellers bestehen. Während das Betreuungsangebot in Kindertageseinrichtungen von Kindern im dritten Lebensjahr nach Ziffer 3.6 der Allgemeinverfügung ausnahmslos in Anspruch genommen werden kann, darf der Sohn der Antragsteller allein aufgrund seines Alters den Kindergarten nicht besuchen. In Ziffer 3.6 der Allgemeinverfügung wird keine Differenzierung dahingehend vorgenommen, ob es sich bei Kindern im dritten Lebensjahr tatsächlich um Krippenkinder handelt, die am Übergang zum Kindergarten stehen oder ob diese Kinder auch vor ihrem 3. Geburtstag bereits in einem Kindergarten betreut werden. Dass Kinder bereits vor ihrem dritten Geburtstag in den Kindergarten gehen können, weiß das Gericht aus eigener Erfahrung und auch der Sohn der Antragsteller hat nach den Ausführungen der Antragsteller den Kindergarten bereits seit Herbst 2018 und damit vor seinem dritten Geburtstag am …2018 besucht. Dies ist bei Kindern, die in absehbarer Zeit nach Beginn des Kindergartenjahres drei Jahre alt werden oder bei Geschwisterkindern von Kindern, die bereits in den Kindergarten gehen, durchaus üblich. Aus infektiologischer Sicht ist aber gerade die Betreuung von Kleinkindern im Alter von 3 Jahren im Kindergarten besonders schwierig, nachdem diese noch größere Schwierigkeiten mit der Einhaltung des nötigen Abstands und der Hygieneregelungen haben als ältere Kinder. Diese Ungleichbehandlung von Kindern im dritten Lebensjahr, die bereits einen Kindergarten besuchen, mit dem Sohn der Antragsteller dürfte sachlich nicht gerechtfertigt sein und daher gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen.
Auch die Ausnahmemöglichkeit in Ziffer 3.7 orientiert sich nicht an infektionsschutzrechtlichen Maßstäben, sondern einzig am Umfang des Förderanspruchs der Gemeinde, so das Zweifel an der sachlichen Rechtfertigung für diese Regelung bestehen.
Voraussichtlich verstößt der Ausschluss von 4- (und 5-) Jährigen Kindern von dem Betreuungsangebot in der Kindertageseinrichtung, die nicht unter einen der sonstigen Ausnahmetatbestände der Regelungen in der Allgemeinverfügung fallen daher auch gegen den Gleichheitsgrundsatz, nachdem Kinder im dritten Lebensjahr den Kindergarten besuchen können.
Nachdem Ziffer 1 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 bereits nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 28 Abs. 1 IfSG gedeckt ist und aller Voraussicht nach auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vorliegt, wäre eine entsprechende Anfechtungsklage aller Voraussicht nach erfolgreich. Nach der Überzeugung des Gerichts überwiegt daher im vorliegenden Fall das private Aufschubinteresse der Antragsteller zum Zweck des Besuchs der Kindertagesstätte durch den Sohn der Antragsteller das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung des sich aus der Allgemeinverfügung ergebenden Betretungsverbotes von Kindertagesstätten.
Daher war dem Antrag stattzugeben. Im Ergebnis bedeutet dies, dass der Sohn der Antragsteller nach Auffassung des Gerichts ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts den Kindergarten wieder besuchen darf. Im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit wird die zusätzliche Erhebung einer Anfechtungsklage zur Erreichung des Ziels ausnahmsweise nicht für erforderlich gehalten. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung nur zwischen den Parteien Wirkung entfaltet.
Die Kosten des Verfahrens waren gemäß § 154 Abs. 1 VwGO dem Antragsgegner aufzuerlegen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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