Verwaltungsrecht

Beurteilung der Bleibeperspektive anhand der Gesamtstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge

Aktenzeichen  M 9 K 17.254

Datum:
5.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVwVfG BayVwVfG Art. 35 S. 1
BGB BGB § 133
AsylG AsylG § 61 Abs. 2 S. 1
BeschV BeschV § 32 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4

 

Leitsatz

1 Die monatliche Gesamtstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge stellt ein ungeeignetes Kriterium zur Beurteilung der Bleibeperspektve des Asylbewerbers dar, da diese sehr stark davon beeinflusst ist, welches Land gerade entschieden wird und eine gleichmäßige, kontinuierliche Entscheidungspraxis für alle Länder erfahrungsgemäß nicht besteht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Entscheidungsstatistik des Bundesamtes spiegelt nicht zuverlässig die exakte Schutzquote wieder, da dazu auf die bestandskräftigen Entscheidungen nach dem Ablauf der Rechtsmittelfrist, gegebenfalls nach Erschöpfung des Rechtsweges abgestellt werden muss. (redaktioneller Leitsatz)
3 Bei der Ermessensentscheidung nach § 61 Abs. 2 S. 1 AsylG sind die privaten Belange des Klägers, der sich bereits seit 2,5 Jahren im Asylverfahren befindet, und das öffentliche Interesse unter Berücksichtigung einwanderungspolitischer Ziele zu prüfen, abzuwägen und zu berücksichtigen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 16. Dezember 2016 wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, über die beantragte Ausbildungsgenehmigung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger und der Beklagte haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg und war im Übrigen abzuweisen.
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig, da das Schreiben des Landratsamtes vom 16. Dezember 2016 als ablehnender Verwaltungsakt zu betrachten ist, der aus der hier maßgeblichen Empfängersicht die Voraussetzungen des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG i.V.m. § 133 BGB entsprechend erfüllt. Diesbezügliche Missverständnisse gehen zu Lasten der Behörde, wenn einem Schreiben nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob es sich um eine Entscheidung im Einzelfall mit Regelungscharakter oder um ein einfaches Schreiben zur Information handelt. Eine entsprechende Anfrage der Bevollmächtigten des Klägers blieb unbeantwortet.
Der Bescheid vom 16. Dezember 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Beklagte war zur Neuverbescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten (§§ 113 Abs. 5 Satz 2, 114 Satz 1 VwGO).
Die Klage war im Übrigen abzuweisen, da keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt und deshalb kein Anspruch auf Erteilung der beantragten Ausbildungserlaubnis besteht.
Nach § 61 Abs. 2 AsylG kann einem Asylbewerber, der sich seit 3 Monaten gestattet im Bundesgebiet aufhält, die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt werden, wenn die Bundesagentur für Arbeit zugestimmt hat oder durch Rechtsverordnung bestimmt ist, dass die Ausübung der Beschäftigung ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zulässig ist.
Nach § 32 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 der Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern (Beschäftigungsverordnung – BeschV) des Bundesministeriums der Justiz und Verbraucherschutz bedarf die Erteilung einer Erlaubnis zur Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf keiner Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit.
Im vorliegenden Fall ist der Kläger im Besitz einer Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens, das bereits seit etwa 2,5 Jahren nicht abgeschlossen wurde. Die Schneiderlehre ist ein Ausbildungsberuf im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 2 BeschV, weshalb die Ausländerbehörde ohne Einschaltung der Bundesagentur für Arbeit alleine für die Erlaubnis zuständig ist.
Nach § 61 Abs. 2 Satz 1 AsylG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Die Behörde hat sich bei ihrer durch das Gericht nur eingeschränkt überprüfbaren (§ 114 VwGO) Ermessensentscheidung auf die Weisung im Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr (IMS) vom 1. September 2016 über die Beschäftigung und Berufsausbildung von Asylbewerbern, geändert durch IMS vom 19. Dezember 2016, gestützt. Danach ist bei Asylbewerbern aus sonstigen Herkunftsstaaten, zu denen auch Afghanistan gehört, bei der Ermessensausübung die aktuelle Anerkennungsquote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für den Herkunftsstaat des jeweiligen Asylbewerbers ein wesentlicher Gesichtspunkt. In Fällen geringer Anerkennungsquote und damit verbunden geringer Bleibewahrscheinlichkeit spreche die Überlegung, dass aussichtslose Asylanträge nicht mit dem Ziel einer Beschäftigung in Deutschland verfolgt werden sollten, für eine Ablehnung der Ausbildungserlaubnis. Die Gesamtanerkennungsquote des Bundesamtes ergebe sich aus der monatlich aktualisierten Entscheidungsstatistik.
Dieses Schreiben ist als ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift zu sehen, um das Ermessen der verschiedenen Ausländerbehörden im Sinne einer landeseinheitlichen, gleichmäßigen Anwendung zu steuern. Solche Weisungen sind zulässig, da das ausländerbehördliche Ermessen dem Grunde nach durch Verwaltungsvorschriften gelenkt und gebunden werden darf (BVerwG, B.v. 27.12.1990 – 1 B 162/90).
Ob diese Weisung sich an den von § 61 Abs. 2 AsylG vorgegebenen Rahmen hält und mit höherrangigem Recht – insbesondere Unionsrecht – vereinbar ist, bedarf vorliegend keiner Entscheidung mehr. Das Landratsamt hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt, dass es das Kriterium der Bleibewahrscheinlichkeit anhand der Statistiken des Bundesamtes nicht mehr bei der Ermessensentscheidung heranziehen werde. Es gelte die aktuelle Weisungslage aufgrund des IMS vom 27. Januar 2017. Danach hielten sich insbesondere für Afghanistan anerkennende und ablehnende Asylentscheidungen in etwa die Waage, weshalb es rechtlich unzulässig sei, Afghanen während des laufenden Asylverfahrens grundsätzlich eine Beschäftigungserlaubnis oder Erlaubnis zur Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung zu versagen; es seien verstärkt andere Ermessenskriterien in den Blick zu nehmen.
Unter Berücksichtigung dieser aktualisierten Weisungslage und der Erklärung des Landratsamtes, dass das Kriterium der Bleibewahrscheinlichkeit nach der auf das Jahr fortgeschriebenen Monatsstatistik des Bundesamtes nicht herangezogen werde, konnte die Entscheidung vom 16. Dezember 2016 keinen Bestand mehr haben und war aufzuheben. Sonstige Ermessenserwägungen – außer der Bezugnahme auf die geringe Bleibeperspektive – wurden nicht angestellt.
Die Beklagte war zur Neuverbescheidung des Antrags unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten.
Unerheblich ist, ob nach der zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung vom 16. Dezember 2016 maßgeblichen Weisungslage die Ablehnung zu Recht erfolgte, da bei der hier vorliegenden Verpflichtungsklage auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen ist.
Ungeachtet dessen wird darauf hingewiesen, dass nach Auffassung der Kammer die monatliche Gesamtstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ein sachlich ungeeignetes Kriterium ist. Zum einen wird diese Gesamtstatistik sehr stark davon beeinflusst, welches Land gerade entschieden wird; eine gleichmäßige, kontinuierliche Entscheidungspraxis für alle Länder besteht erfahrungsgemäß nicht. Zum anderen spiegelt die Entscheidungsstatistik des Bundesamtes nicht zuverlässig die exakte Schutzquote wieder, da dazu auf die bestandskräftigen Entscheidungen nach dem Ablauf der Rechtsmittelfrist, gegebenfalls nach Erschöpfung des Rechtsweges abgestellt werden muss. Die Zahlen sind bereits wegen der Weisungsabhängigkeit des Bundesamtes nicht annähernd identisch, mit der Folge, dass wegen dieser Schwankungen die monatliche Entscheidungsstatistik einen zu kurzen Zeitraum erfasst mit der Gefahr, dass jeden Monat eine andere Entscheidung möglich wird. Daran ändert sich grundsätzlich auch nichts, soweit auf die monatlich fortgeschriebene Statistik des jeweiligen Jahres abgestellt wird, jedenfalls nicht bei Herkunftsländern mit nicht eindeutigen Entscheidungsergebnissen. Diesem Umstand ist bei der hier vorzunehmenden Neuentscheidung Rechnung zu tragen.
Das Landratsamt hat seine Entscheidung bisher ausschließlich auf die Bleibewahrscheinlichkeit anhand der Statistik des Bundesamtes gestützt und im Übrigen keine weitere Prüfung vorgenommen. In seiner Ermessensentscheidung hat es unter Berücksichtigung der aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecke die privaten Belange des Klägers, der sich bereits seit 2,5 Jahren im Asylverfahren befindet und das öffentliche Interesse unter Berücksichtigung einwanderungspolitischer Ziele zu prüfen, abzuwägen und zu berücksichtigen.
Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung besteht auch ein öffentliches Interesse daran, einen nachprüfbaren Nachweis des Klägers dafür zu haben, wer er ist, wie alt er ist und wo er gelebt und gearbeitet hat. Soweit der Kläger vorträgt, er sei 34 Jahre alt und habe keine lebende Verwandtschaft – mit Ausnahme einer Schwester, mit der er seit einem Jahr keinen Kontakt mehr habe – ist dies nicht überzeugend. Der Kläger ist bereits im fortgeschrittenen Alter und hat nach seinen Angaben im Iran gelebt und gearbeitet.
Unter Berücksichtigung der technischen digitalen Möglichkeiten hält es die Kammer für ausgeschlossen, dass es ihm nicht möglich sein sollte, die entsprechenden Nachweise dafür – zumindest als Kopie oder Fotografie – von Nachbarn, Freunden, Arbeitgeber etc. im Iran oder seinem Geburtsort in Afghanistan zu erhalten, aufgrund derer dann gegebenfalls weitere Identitätsnachweise eingeholt werden können.
Die Klage war abzuweisen, soweit der Kläger die Erteilung der Ausbildungserlaubnis beantragt hat. Im vorliegenden Fall liegt keine Ermessensreduzierung auf Null vor, da das Landratsamt weitere Sachaufklärung betreiben und auf deren Grundlage eine erneute Ermessensentscheidung treffen muss.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist als Streitigkeit nach dem Asylgesetz gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben