Verwaltungsrecht

Corona-Pandemie begründet grundsätzlich kein Abschiebungsverbot bezüglich Italiens (Dublin-Verfahren)

Aktenzeichen  M 1 S7 20.50551

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29602
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Die Corona-Pandemie in Italien stellt lediglich eine allgemeine Gefahr dar, die die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. (Rn. 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger und am … … 1993 geboren. Er reiste am 6. November 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. November 2018 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei seiner Befragung durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) am 20. November 2018 gab er an, dass er mit dem Bus aus Italien kommend nach Deutschland gereist sei. Für Italien habe er ein Visum gehabt. Ein VIS-Auszug ergab, dass ihm vom italienischen Konsulat in Lagos am 3. Oktober 2018 ein Schengen-Visum für 25 Tage erteilt worden war.
Das Bundesamt hörte ihn am 30. November 2018 und am 6. Dezember 2018 an.
Das Bundesamt stellte am 11. Dezember 2018 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, für das eine Zugangsbestätigung vorliegt, das aber bisher nicht beantwortet wurde.
Mit Bescheid vom 13. Februar 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor.
Am … Februar 2019 erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München (M 19 K 19.50144). Gleichzeitig beantragte er im Eilverfahren (M 19 S 19.50145), die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheids vom 13. Februar 2019 anzuordnen. Zur Begründung nahm er Bezug auf seine Angaben beim Bundesamt und führte ergänzend aus, dass er fürchte, in Italien obdachlos zu werden. Die Situation sei dort für Asylbewerber nicht zumutbar.
Mit Beschluss vom 18. April 2019 lehnte das Gericht den Eilantrag (M 19 S 19.50145) ab.
Ein Überstellungsversuch nach Italien am 9. Oktober 2019 scheiterte, da der Antragsteller trotz Ankündigung der Überstellung nicht von der Polizei angetroffen werden konnte. Die Antragsgegnerin hat daraufhin die Überstellungsfrist wegen Flüchtigkeit des Antragstellers gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf 18 Monate verlängert und als neues Fristende den 18. Oktober 2020 angegeben.
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Dezember 2019 wurde die Klage (M 19 K 19.50144) des Antragstellers abgewiesen.
Mit am 15. Oktober 2020 beim Verwaltungsgericht München eingegangenen Schreiben beantragt der Antragsteller,
die für den morgigen Tag, den 16. Oktober 2020, geplante Abschiebung nach Italien vorläufig auszusetzen.
Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, dass Italien nicht für seinen Asylantrag zuständig sei. Weder sei er in Italien registriert worden noch habe er dort einen Asylantrag gestellt. Zudem habe er vor den steigenden Infektionszahlen auf das Coronavirus SARS-CoV-2 in Italien Angst. Er befürchte in Italien obdachlos zu werden und nicht die erwartete Unterstützung zu bekommen. Die Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 stelle daher für ihn eine erhebliche Gefahr dar.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte jedoch keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten, auch in den Verfahren M 19 K 19.50144 und M 1 S 19.50145, sowie die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der als Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 18. April 2019 gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auszulegende Antrag ist unbegründet.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist begründet, wenn gegenüber der Ausgangsentscheidung entscheidungserhebliche neue oder veränderte Umstände vorliegen oder solche entscheidungserheblichen Umstände im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemacht worden sind. Im ersten Schritt hat das Gericht zu prüfen, ob es tatsächlich veränderte tatsächliche oder rechtliche Umstände gibt, die sich möglicherweise auf die Entscheidung auswirken können. Hier kommt eine Änderung der Rechtslage, die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung oder die erstmalige höchstrichterliche Klärung einer strittigen Frage (vgl. BVerfG, B.v. 26.8.2004 – 1 BvR 1446/04 – NVwZ 2005, 438; OVG Berlin-Bdg, B.v. 22.11.2012 – 11 S 63.12 – BeckRS 2012, 60449; VGH BW, B.v. 29.1.1992 – 11 S 1995/91, NVwZ-RR 1992, 657; Schenke in: Kopp/Schenke, 24. Auflage 2018, § 80 Rn. 197) ebenso in Betracht wie jede sonstige tatsächliche Entwicklung. In einem zweiten Schritt hat das Verwaltungsgericht die gleichen Maßstäbe wie bei der ursprünglichen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 anzulegen und zu prüfen, ob aufgrund der neuen oder veränderten Umstände die Interessenabwägung einen anderen Ausgang nimmt.
Im Hinblick auf die vom Antragsteller vorgetragenen drohenden Obdachlosigkeit und Nichtzuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens fehlt es bereits an veränderten tatsächlichen oder rechtlichen Umständen gegenüber dem Ausgangsverfahren (M 19 S 19.50145). Der Antragsteller hatte dort vorgetragen, dass er befürchte, in Italien obdachlos zu werden. Die Frage der Zuständigkeit Italiens für das Asylverfahren wurde ebenfalls bereits im Ausgangsverfahren geprüft. Gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO ist Italien für das Asylverfahren zuständig ist, da es dem Antragsteller ein Schengen-Visum erteilt hat.
Die vom Antragsteller vorgetragene Angst einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 stellt einen veränderten tatsächlichen Umstand dar, der im ursprünglichen Verfahren nicht geltend gemacht werden konnte, da es zum Zeitpunkt des Beschlusses am 18. April 2019 noch keine Corona-Pandemie gab. Die veränderten tatsächlichen Umstände führen jedoch nicht dazu, dass die Interessenabwägung nun zugunsten des Antragsstellers ausfällt. Die Auswirkungen der weltweiten Corona-Pandemie begründen insbesondere keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Die Corona-Pandemie in Italien stellt lediglich eine allgemeine Gefahr dar, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn es zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke, d.h. zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage erforderlich ist (vgl. etwa BVerwG, 24.6.2008 – 10 C 43/07 – juris; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerecht, 13. Auflage 2020, § 60 AufenthG, Rn. 100 m.w.N.). Die drohende Gefahr, dass sich der Ausländer im Zielland mit dem Coronavirus SARS CoV-2 infiziert, muss nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Die Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 m.w.N. – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris sowie VG Cottbus, B.v. 29.5.2020 – 9 L 226/20.A – juris mit Bezug auf VG Bayreuth, U.v. 21.4.2020 – B 8 K 17.32211; OVG NRW – U.v. 24.3.2020 – 19 A 4470/19.A – juris m.w.N.; vgl. auch schon etwa VG Würzburg, U.v. 10.8.2020 – W 8 K 20.30113 – juris).
Eine solche extreme, konkrete Gefahrenlage ist vorliegend für die Antragsteller nicht ersichtlich. Der Antragsteller ist 27 Jahre alt und hat im Asylverfahren bislang keine Vorerkrankungen vorgetragen. Er gehört daher nicht zu der Personengruppe, die ein höheres Risiko für einen schweren, möglicherweise lebensbedrohlichen Verlauf bei einer Infektion mit dem Coronavirus SARS CoV-2 aufweist. Der Antragsteller hat aufgrund der in Europa derzeit steigenden Infektionszahlen lediglich pauschal vorgetragen, dass die Infektion für ihn in Italien eine erhebliche Gefahr darstelle. Ein substantiierter Vortrag zur konkreten Lage vor Ort und zu der Frage, wieso für ihn eine besondere Gefahr hinsichtlich des Coronavirus SARS-CoV-2 besteht, ist nicht erfolgt. Auch Dublin-Rückkehrer haben in Italien einen Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem und einen Anspruch auf kostenfreie Notversorgung (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 juris Rn. 71). Der Antragsteller hat somit wie für italienischen Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung.
Die Interessenabwägung fällt daher auch im vorliegenden Verfahren zuungunsten des Antragstellers aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


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