Verwaltungsrecht

Der Gedanke des Rechtsmissbrauchs spielt bei der Erteilung einer Duldung keine Rolle

Aktenzeichen  B 6 K 17.1015

Datum:
21.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24052
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 2
AuslG § 55 Abs. 2 Alt. 2
AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

1 Eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG ist zu erteilen, wenn eine Abschiebung zwar möglich ist, aber nicht ohne (größere) Verzögerung durchgesetzt werden kann, insbesondere der Zeitpunkt des Abschiebetermins ungewiss ist. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Gedanke des Rechtsmissbrauchs spielt hinsichtlich der Erteilung der Duldung keine Rolle, sondern erst für die daran anknüpfenden Rechte wie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.11.2017 verpflichtet, die Abschiebung des Klägers vorübergehend auszusetzen und dem Kläger über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) eine Bescheinigung auszustellen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

1. Die zulässige Klage, über die gemäß § 84 Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden kann, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, ist begründet. Gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist die Verpflichtung des Beklagten, die Abschiebung des Klägers vorübergehend auszusetzen und dem Kläger über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) eine Bescheinigung auszustellen, auszusprechen, weil die Ablehnung des entsprechenden Antrags rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
1.1 Der Kläger hat einen Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Zur inhaltsgleichen Regelung des § 55 Abs. 2 Alt. 2 AuslG, wonach einem Ausländer eine Duldung erteilt wird, solange seine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, haben Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht Folgendes ausgeführt:
„§ 55 Abs. 2, 2. Alternative AuslG stellt nach seinem Wortlaut nur darauf ab, ob die Abschiebung des Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Weder die Funktion der Duldung noch die gesetzliche Systematik spricht dafür, daß die Erteilung einer Duldung von weiteren Voraussetzungen, insbesondere von Umständen abhängen soll, die in der Sphäre des Ausländers liegen. Auch den Gesetzesmaterialien lassen sich keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen. Für die Erteilung einer Duldung nach der genannten Bestimmung kommt es mithin nicht darauf an, ob der Ausländer freiwillig ausreisen könnte; maßgeblich ist allein, ob der Abschiebung tatsächliche Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machen, ihrer Abschiebeverpflichtung nachzukommen. … Eine stillschweigende Aussetzung der Abschiebung anstelle der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG der Schriftform bedürftigen Duldung kommt mithin nicht in Betracht (vgl. Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 291). Diese Erwägungen sprechen gegen die vom Berufungsgericht vertretene Rechtsansicht, die dazu führt, daß ein Ausländer, der trotz vollziehbarer Ausreisepflicht nicht freiwillig ausreist, sich ohne geregelten Status im Bundesgebiet aufhält, obwohl die Ausländerbehörde die Ausreisepflicht wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nicht zwangsweise durchsetzen kann. Die Systematik des Ausländergesetzes läßt grundsätzlich keinen Raum für einen derartig ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, daß ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne daß die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor. … Eine Duldung ist grundsätzlich auch dann zu erteilen, wenn die Abschiebung zwar möglich ist, die Ausreisepflicht des Ausländers aber nicht ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann (BTDrucks 11/6321 S. 76 zu § 55). Die Ausländerbehörde hat also nicht nur zu untersuchen, ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt durchgeführt werden kann, sondern auch zu prüfen, innerhalb welchen Zeitraums dies möglich ist. Auch wenn dieser Zeitraum ungewiß ist, ist eine Duldung zu erteilen.“ (BVerwG, Urteil vom 25.09.1997 – 1 C 3/97, Rn. 16, 19, 22, juris)
„Für die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2, 2. Alternative AuslG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer es zu vertreten hat, daß er wegen seiner ungeklärten Identität nicht abgeschoben werden kann. Die Vorschrift stellt nach ihrem Wortlaut nur darauf ab, ob die Abschiebung des Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Weder die Funktion der Duldung noch die gesetzliche Systematik spricht dafür, daß die Erteilung einer Duldung von weiteren Voraussetzungen, insbesondere von Umständen abhängen soll, die in der Sphäre des Ausländers liegen. Auch den Gesetzesmaterialien lassen sich keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen. Maßgeblich ist allein, ob der Abschiebung tatsächliche Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machen, ihrer Abschiebeverpflichtung nachzukommen (vgl. hierzu und zum folgenden Urteil vom 25. September 1997 – BVerwG 1 C 3.97 – BVerwGE 105, 232 ). Wie in dem genannten Urteil im einzelnen ausgeführt wird, läßt die Systematik des Ausländergesetzes grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, daß ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne daß die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor.“ (BVerwG, Urteil vom 21.03.2000 – 1 C 23/99, Rn. 12 und 13, juris)
„Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden. Dabei hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann eine Abschiebung des Ausländers durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden kann. Schon dann, wenn sich herausstellt, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung geführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, ist – unabhängig von einem Antrag des Ausländers – als „gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis“ eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerwGE 105, 232 ). Damit verträgt es sich entgegen der Ansicht des Bayerischen Staatsministeriums des Innern nicht, der Ausländerbehörde unter Bezugnahme auf § 57 Abs. 3 AuslG regelmäßig sechs Monate Zeit zu geben, um die Voraussetzungen für eine Abschiebung zu schaffen. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt – wie das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich festhält – grundsätzlich keinen Raum für einen derartig ungeregelten Aufenthalt (vgl. BVerwGE 105, 232 ), der den Zeitpunkt der Duldungserteilung – wie der zu Grunde liegende Fall zeigt, in dem die Ausländerbehörden den SechsMonats-Zeitraum sogar überschritten und eine Duldung erst nach fast neun Monaten erteilt haben – ins Belieben der Behörden stellt. Da der Ausländer auch zu dulden ist, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat (vgl. BVerwGE 111, 62 ), ist keine Konstellation vorstellbar, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte.“ (BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.03.2003 – 2 BvR 397/02, Rn. 37 und 38, juris)
Unter Verweis auf diese Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, dass auch das Aufenthaltsgesetz eine stillschweigende – „faktische“ – Aussetzung der Abschiebung anstelle der förmlichen Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG (zum Schriftformerfordernis siehe § 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) nicht vorsieht (BVerwG, Urteil vom 25.03.2014 – 5 C 13/13, Rn. 20, juris). Dementsprechend ist auch nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs „eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu erteilen‚ wenn die Abschiebung zwar möglich ist‚ aber nicht ohne (größere) Verzögerung durchgesetzt werden kann‚ insbesondere der Abschiebetermin noch nicht feststeht (BVerwG, U.v. 21.3.2000 – 1 C 23.99 – juris; U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris). Die Ausländerbehörde hat insofern nicht nur zu untersuchen‚ ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt erfolgen kann‚ sondern auch innerhalb welchen Zeitraums diese zu erwarten ist. Ist die Abschiebung nicht alsbald möglich‚ der Zeitraum vielmehr ungewiss‚ ist eine Duldung zu erteilen.“ (BayVGH, Beschluss vom 04.01.2016 – 10 C 15.2105, Rn. 22; juris)
Der Einwand, mit dieser Argumentation erfahre der Gedanke des Rechtsmissbrauchs keine hinreichende Berücksichtigung (Hailbronner, AuslR, 95. Aktualisierung Februar 2016, § 60a Rn. 76), überzeugt nicht. Insbesondere erfährt der im Besitz einer Duldung befindliche Ausländer gegenüber einem „illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen“ keine Privilegierung in Form eines unbeschränkten Zugangs zu sozialen Rechten einschließlich der Erwerbstätigkeit (so Hailbronner, a.a.O. Rn. 76 und 77). Vielmehr haben gemäß § 1a Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 und § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG auch die im Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthG befindlichen Ausländer keinen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG (Leistungen in besonderen Fällen, Grundleistungen, sonstige Leistungen), wenn bei ihnen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, und gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG darf einem Ausländer, der eine Duldung besitzt, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können, wobei gemäß § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG ein Ausländer die Gründe nach Satz 1 Nummer 2 insbesondere zu vertreten hat, wenn er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt. Diese Bestimmungen, die den Besitz einer Duldung voraussetzen, zeigen, dass der Gedanke des Rechtsmissbrauchs für deren Erteilung noch keine Rolle spielt, sondern erst für die daran anknüpfenden Rechte.
Nach alledem ist die Abschiebung des Klägers gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, weil die Abschiebung in den Iran ohne ein Heimreisedokument aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Auch wenn es dem Kläger zuzumuten ist, an der Beschaffung eines Pass(ersatz) papiers mitzuwirken und dabei insbesondere die von der iranischen Auslandsvertretung geforderte „Freiwilligkeitserklärung“ abzugeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.2009 – 1 C 19/08, Rn. 17 f, juris), ist derzeit ungewiss, wann das tatsächliche Abschiebungshindernis wegfallen wird.
1.2 Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Kläger gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG eine Bescheinigung auszustellen.
2. Ist somit der Klage stattzugeben, trägt gemäß § 154 Abs. 1 VwGO der Beklagte als der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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