Verwaltungsrecht

Eilrechtsschutz, Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Keine ausreichende Begründung für den angeordneten Sofortvollzug der Ausweisung, Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach summarischer Prüfung ermessensfehlerhaft, Substantiiert vorgetragene und glaubhaft gemachte Nähebeziehung zu einem deutschen Kind

Aktenzeichen  M 10 S 21.5216

Datum:
13.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40948
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80 Abs. 3 S. 1
AufenthG § 11 Abs. 3 S. 1
GG Art. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 30. September 2021 wird gegen Nummer 1 des Bescheids des Antragsgegners vom 20. September 2021 wiederhergestellt, gegen Nummer 2 des Bescheids angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland sowie die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots durch den Antragsgegner.
Der am … Juli 1985 geborene Antragsteller reiste am 22. April 2014 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Asylverfahren gab er zunächst an, senegalesischer Staatsangehöriger zu sein. Bei seiner Anhörung zu seinem Asylantrag am 25. November 2015 behauptete er dagegen, die gambische Staatsangehörigkeit zu haben. Mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 29. März 2016 wurde sein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt sowie die Abschiebung in den Senegal angedroht. Ein Asylfolgeantrag des Antragstellers vom 13. Dezember 2017 wurde mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamts vom 19. Dezember 2017 als unzulässig abgelehnt.
Mangels Reisedokumenten ist der Antragsteller seit dem Jahr 2016 im Besitz einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Da der Antragsteller im Oktober 2019 Kopien eines gambischen Reisepasses, einer gambischen ID-Card und eines Auszugs aus dem gambischen Geburtenregister vorlegte, wurden nach einer Überprüfung der Dokumente die Personaldaten am 2. November 2020 geändert. Der Antragsteller wird seither als gambischer Staatsangehöriger geführt.
Der Antragsteller hat eine deutsche Lebensgefährtin, … …, geboren am … Oktober 1989. Mit dieser hat er ein gemeinsames (deutsches) Kind, … … …, geboren am … Juli 2019, für das er die Vaterschaft anerkannt hat.
Strafrechtlich ist der Antragsteller wie folgt in Erscheinung getreten:
Er wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 2. November 2017 wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen à 10 EUR verurteilt.
Der Antragsteller befand sich im Zeitraum vom 16. September 2017 bis 6. November 2017 in Untersuchungshaft; vom 19. Dezember 2017 bis 25. Januar 2018 verbüßte er eine Ersatzfreiheitsstrafe.
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 9. Juli 2019 wurde der Antragsteller zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und 10 Monaten wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 5 Fällen verurteilt (Bl. 322 ff. Behördenakte). Nach den Urteilsgründen habe der Antragsteller bei jedem Handel jeweils eine Menge von 20 g Marihuana zum Eigenkonsum erhalten.
Wegen dieser Straftaten befand sich der Antragsteller im Zeitraum vom 6. Februar 2019 bis 10. Juli 2019 in Untersuchungshaft, im Zeitraum vom 11. Juli 2019 bis 21. Dezember 2020 in Strafhaft. Seine Reststrafe wurde mit Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 4. Dezember 2020 zur Bewährung ausgesetzt, wobei die Bewährungszeit drei Jahre beträgt (Bl. 347 ff. Behördenakte). Nach dem Bewährungsbeschluss steht der Antragsteller insbesondere unter der Weisung, Beratungsgespräche bei der Caritas Beratungsstelle zu führen. Zur Begründung des Bewährungsbeschlusses wird im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe sich in der Haft beanstandungsfrei geführt. Er verfüge über stabile Bindungen zu seiner Verlobten und seiner Tochter und könne in deren Haushalt zurückkehren. Er habe während der Haft einen Berufsvorbereitungskurs für die Ausbildung zum Gebäudereiniger absolviert und strebe in diesem Bereich eine Ausbildung an. Eine verfestigte Suchtproblematik liege nicht vor, sondern ein sehr hoher Genuss- und Verfügbarkeitskonsum. Der Antragsteller habe seit 10. März 2020 regelmäßig und zuverlässig Beratungsgespräche bei der externen Suchtberatung in der JVA … wahrgenommen und setze sich mit seiner Suchtproblematik auseinander.
Mit Schriftsatz vom 21. Januar 2020 wurde der Antragsteller zur beabsichtigten Ausweisung angehört. In der Stellungnahme des Bevollmächtigten vom 12. Februar 2020 (Bl. 276 ff. Behördenakte) wird insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller mit seiner Lebensgefährtin … … verlobt sei. Die Hochzeitsvorbereitungen hätten bereits ca. ein Jahr zuvor, schon vor der Inhaftierung des Antragstellers, begonnen. Ferner habe der Antragsteller zusammen mit seiner Lebensgefährtin eine Tochter. Zudem habe er die väterlichen Pflichten für die ältere Tochter seiner Lebensgefährtin aus einer anderen Beziehung (3 Jahre alt) übernommen. Nach der Entlassung aus der Haft sei ein familiäres Zusammenleben beabsichtigt.
Ausweislich des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt (JVA) … vom 24. Februar 2020 (Bl. 295 f. Behördenakte) werde der Antragsteller als freundlich, höflich und unauffällig beschrieben. Disziplinarisch habe er bisher nicht geahndet werden müssen. Er sei seit 11. November 2019 in der anstaltseigenen Wäscherei beschäftigt; seine Arbeitsleistung könne als gut bewertet werden. Therapien würden in der JVA … nur in den sozialtherapeutischen Abteilungen angeboten, der Antragsteller befinde sich jedoch im Normalvollzug. Die beigefügte Besuchsliste für den Zeitraum vom 7. Februar 2019 bis 24. Februar 2020 weist regelmäßige Besuche seiner Verlobten, ab 14. August 2019 auch zusammen mit dem gemeinsamen Kind, aus.
Nach der Haftentlassung am 21. Dezember 2020 zog der Antragsteller nach Aktenlage bei seiner Familie ein. Im Juni 2021 trennte sich die Verlobte des Antragstellers von diesem; der Antragsteller bestätigte am 30. Juni 2021, er habe derzeit keinen Schlafplatz.
Im Zuge der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen am 17. August 2021 gab der Antragsteller an, dass seine Verlobte und er im Februar 2022 ein weiteres Kind erwarteten. Bei einer Vorsprache am 8. September 2021 teilte der Antragsteller mit, dass er seit kurzer Zeit wieder mit seiner Freundin zusammen sei.
Nach einem Vermerk über ein Telefonat einer Mitarbeiterin des Landratsamts … mit der Bewährungshelferin des Antragstellers vom 21. September 2021 (Bl. 517 Behördenakte) sei der Antragsteller bei einem Hausbesuch 14 Tage zuvor in der Wohnung seiner Lebensgefährtin aufhältig gewesen. Dem Eindruck der Bewährungshelferin nach seien der Antragsteller und seine Lebensgefährtin kein Paar mehr.
Mit Bescheid des Landratsamts … vom 20. September 2021, zugestellt ausweislich der Postzustellungsurkunde am 25. September 2021, wurde der Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von 6 Jahren ab der Ausreise angeordnet (Nr. 2). Ferner wurde die sofortige Vollziehung der Nummern 1 und 2 angeordnet (Nr. 3).
Zur Begründung wird ausgeführt, es liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG vor, da der Antragsteller zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und 10 Monaten verurteilt worden sei. Es sei von einer erheblichen Wiederholungsgefahr im Hinblick auf die Begehung weiterer Betäubungsmittelstraftaten auszugehen. Dies ergebe sich aus der vom Antragsteller begangenen Straftat. Zum einen habe er einen Teil der Drogen zum Eigenkonsum verwendet. Zum anderen bestehe nach Auffassung des Strafgerichts ein hoher Genuss- und Verfügbarkeitskonsum. Zwar habe der Antragsteller in der Haft regelmäßig an Drogenberatungsgesprächen teilgenommen. Die als Bewährungsauflage angeordnete Drogenberatung sei aber noch nicht beendet, so dass aktuell keine Prognose über ein drogenfreies Leben möglich sei. Der illegale Handel mit Betäubungsmitteln sei ein schwerwiegendes Delikt und berühre ein Grundinteresse der Gesellschaft. Beim Antragsteller könne nicht von einer abgeschlossenen Therapie ausgegangen werden, was nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gegen einen Wegfall der Wiederholungsgefahr spreche. Gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr spreche auch nicht, dass der Antragsteller sich erstmals in Haft befunden habe. Wegen der zuvor bereits verbüßen Untersuchungshaft und Ersatzfreiheitsstrafe habe es sich nicht um die erste Hafterfahrung des Antragstellers gehandelt.
Ferner wird im Bescheid angenommen, dass eine hinreichende Nähebeziehung zur Tochter aufgrund der Trennung von seiner Lebensgefährtin aktuell nicht mehr nachgewiesen sei. Dennoch wird im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse bejaht. Das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse überwiege dieses jedoch, da die Beziehung zur Tochter den Antragsteller auch nicht davon habe abhalten können, schwere Betäubungsmittelstraftaten zu begehen. Es werde positiv gesehen, dass soziale Bindungen, insbesondere zur Tochter und zur Kindesmutter, zumindest während der Inhaftierung, bestanden hätten. Von einer sozialen und wirtschaftlichen Integration sei jedoch nicht auszugehen. Zwar habe der Antragsteller während und nach der Haft gearbeitet. In Anbetracht des Umstands, dass er zuvor jedoch Sozialleistungen bezogen habe, sei nicht von einer tragfähigen wirtschaftlichen Perspektive auszugehen. Der Antragsteller sei ein junger, gesunder Mann und in der Lage, sich auch in Gambia eine Existenz aufzubauen.
Im Rahmen der Befristung des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots wird auf die erhebliche Rückfallgefahr des Antragstellers verwiesen. Es bestehe ein erhebliches staatliches Interesse daran, den Antragsteller für einen längeren Zeitraum vom Bundesgebiet fernzuhalten. Das Wiedereinreiseinteresse des Antragstellers wiege nur gering. Unter Beachtung der Vaterschaft zu einem deutschen und eventuell auch zu einem zweiten deutschen Kind werde die Befristung auf einen Zeitraum von 6 Jahren aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für notwendig erachtet. Eine Reduktion der Frist nach Maßgabe höherrangigen Rechts sei nicht möglich.
Die Anordnung des Sofortvollzuges unter Nummer 3 des Bescheids wird damit begründet, dass es Ziel des Gesetzgebers sei, den Aufenthalt vollziehbar Ausreisepflichtiger im Bundesgebiet unter Berücksichtigung aller Umstände schnellstmöglich zu beenden sowie die frühzeitige Wiedereinreise zu verhindern. Das private Interesse des Antragstellers bestehe darin, nicht ausgewiesen zu werden, um aufgrund der Erteilung eines Titels doch ein Bleiberecht in Deutschland zu erhalten. Unter Berücksichtigung, dass der Antragsteller bereits seit mehr als 5 Jahren vollziehbar ausreisepflichtig sei, sowie seiner erheblichen Straffälligkeit könne es nicht hingenommen werden, dass sein rechtswidriger Aufenthalt durch die Erhebung einer Klage bis zu einer zeitlich noch nicht absehbaren gerichtlichen Entscheidung fortdauere bzw. die frühzeitige Wiedereinreise ermöglicht werde. Ein Interesse des Antragstellers sei weder vorgetragen noch ersichtlich.
Nach einem Vermerk einer Mitarbeiterin des Landratsamts … über eine Vorsprache des Antragstellers am 11. Oktober 2021 (Bl. 572 Behördenakte) habe der Antragsteller gegenüber den Kindern sehr distanziert gewirkt und keine Nähe zu den Kindern aufgebaut.
Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten von 29. September 2021, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am 30. September 2021, Klage auf Aufhebung des Bescheids vom 20. September 2021 gegen das Landratsamt … erhoben (M 10 K 21.5212). Er beantragt gleichzeitig:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamts … vom 20. September 2021 bezüglich der Ziffern 1 und 2 wird wiederhergestellt.
Zur Begründung von Klage und Eilantrag wird vorgetragen, dass der dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegte Sachverhalt nicht vollständig sei. Der Antragsteller wohne mit seiner Tochter und seiner Lebensgefährtin zusammen in einer Wohnung. Er kümmere sich um das Kind und erziehe es mit seiner Lebensgefährtin gemeinsam. Zwischen dem 20. Juni 2021 und 7. August 2021 sei es zu einer Krise zwischen dem Antragsteller und seiner Lebensgefährtin gekommen, die aber längst überwunden sei. Die Lebensgefährtin sei derzeit vom Antragsteller schwanger. Es handle sich um ein Wunschkind. Auch während der Krise habe sich der Antragsteller, wie zuvor auch, um seine Tochter gekümmert. Er habe sie abgeholt und den Tag mit ihr verbracht. Er habe seine leibliche Tochter, die Stieftochter und seine Lebensgefährtin fast jeden Tag besucht. Zum Nachweis dieses Sachverhalts wird eine eidesstattliche Versicherung der Lebensgefährtin vom 29. September 2021 vorgelegt. Außerdem habe der Antragsteller sowohl den zweiten Geburtstag seiner Tochter am 26. Juli 2021 als auch die Taufe am 7. August 2021 mitgefeiert. Am Tag eines unangekündigten Besuchs des Jugendamts am 1. Juli 2021 sei der Antragsteller ebenso in der Wohnung anwesend gewesen, habe für die Familie gekocht und auch seine Tochter gewickelt. Hierzu werde eine Bestätigung des Jugendamts vorgelegt, aus der sich überdies ergibt, dass sich im Verlauf des Gesprächs die Kindeseltern mit der Betreuung des Kindes abgewechselt hätten und die Interaktion zwischen Kind und Eltern vertraut und stimmig gewirkt habe. Der Bevollmächtigte des Antragstellers führt weiter an, der Antragsteller habe mit seiner Tochter auch die Eingewöhnung in der Kinderkrippe gemacht. Hierzu werde eine Bestätigung der Katholischen Kindertageseinrichtung St. … in … vom 28. September 2021 übersandt. Nach dieser Bestätigung habe der Antragsteller im März 2020 (angesichts des Entlassungszeitpunkt aus der Haft gemeint wohl März 2021) die Eingewöhnung der Tochter … übernommen. In dieser intensiven Zeit hätten die Erzieher den Antragsteller als fürsorglichen und empathischen Vater kennengelernt, der eine sehr gute Bindung zu seiner Tochter habe. Auch zu seiner Stieftochter habe er eine väterliche Bindung, was in der Bring- und Abholsituation zu beobachten sei, aber auch aus Gesprächen mit der Stieftochter herauszuhören sei. Auch die Tochter … erzähle oft von ihrem Vater und frage nach ihm. Der Antragsteller komme regelmäßig zur Kita, um seine Töchter zu bringen oder abzuholen. Zudem übermittelt der Bevollmächtigte eine Stellungnahme der Bewährungshelferin vom 22. September 2021, nach der der Antragsteller einen sehr guten Kontakt zu seinen Kindern habe. Darüber hinaus wird eine eidesstattliche Versicherung der Lebensgefährtin vom 29. September 2021 im Hinblick auf das zwischen ihr und dem Antragsteller bestehende Verlöbnis vorgelegt.
In rechtlicher Hinsicht wird ausgeführt, dass beim Antragsteller keine Wiederholungsgefahr vorliege. Der Antragsteller sei seit seiner Haftentlassung strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Auch liege eine Suchtproblematik nicht mehr vor. Der Antragsteller habe während und nach der Haft regelmäßig Drogenberatungsgespräche wahrgenommen. Die Gespräche bei der Caritas seien eingestellt worden, da nach der Stellungnahme der Bewährungshelferin kein Therapiebedarf mehr ersichtlich gewesen sei. Eine freiwillige Untersuchung bezüglich Cannabinoiden sei am 29. Juli 2021 negativ verlaufen. Der Antragsteller habe sich erstmalig in Haft befunden; diese habe einen starken Eindruck bei ihm hinterlassen. Er habe sich vom kriminellen Milieu vollständig entfernt. Im vorliegenden Fall wiege das Bleibeinteresse besonders schwer, weil der Antragsteller mit einer deutschen Lebenspartnerin zusammenlebe und ein Personensorgerecht für eine minderjährige ledige Deutsche habe. Ferner habe der Antragsteller eine Vollzeitanstellung bei der … … GmbH in Aussicht, sobald er eine Beschäftigungsduldung erhalte.
Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2021 beantragt der Antragsgegner:
Der Antrag wird abgelehnt.
Im Wesentlichen wird zur Begründung die Argumentation aus der Bescheidsbegründung wiederholt. Im Hinblick auf das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG sei einzustellen, dass der Antragsteller ein Personensorgerecht für ein deutsches Kind habe. Ob der Antragsteller tatsächlich eine soziale und emotionale Bindung zu seinem Kind habe, lasse sich anhand der vom Antragsteller vorgelegten Nachweise nicht hinreichend belegen. Bei einer Vorsprache am 11. Oktober 2021 sei nicht der Eindruck einer Nähebeziehung zu den Kindern gewonnen worden. Es werde nicht verkannt, dass die Ausweisung das Kind besonders hart treffen würde, wenn tatsächlich eine Nähebeziehung bestehen würde. Angesichts der Schwere und Art der begangenen Straftat sowie der bestehenden Wiederholungsgefahr könne dem Schutz des Kindes in der Abwägungsentscheidung jedoch nur ein geringes Gewicht beigemessen werden.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat hierauf mit Schriftsatz vom 10. November 2021 repliziert, dass die fehlende Nähebeziehung des Antragstellers zu seinen Kindern vom Antragsgegner lediglich pauschal behauptet werde, ohne dies mit Tatsachen zu belegen. Sogar das Jugendamt des Landratsamts … gehe von einer stimmigen Interaktion zwischen Kind und Antragsteller aus. Der Antragsteller habe nach der Haftentlassung ab 1. Juli 2021 als Reinigungskraft gearbeitet. Ab September 2021 habe er bei der … … GmbH unbefristet als Lagerarbeiter anfangen wollen, was ihm aber mangels Beschäftigungsduldung nicht möglich gewesen sei.
Auf telefonische Nachfrage beim Landratsamt … wurde dem Gericht am 2. Dezember 2021 mitgeteilt, dass es im konkreten Fall für die Anordnung des Sofortvollzugs keinen besonderen Grund gegeben habe. Der Sofortvollzug werde bei Ausweisungen immer angeordnet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Im Hinblick auf die Ausweisungsverfügung (Nr. 1 des angegriffenen Bescheids) ist der gestellte Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage erfolgreich, da er zulässig und begründet ist.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er wegen des angeordneten Sofortvollzugs (Nr. 3 des Bescheids) gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft.
Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Er richtet sich gegen den richtigen Antragsgegner, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog. Insoweit ist es unschädlich, dass Klage und Eilantrag nur gegen das Landratsamt …, nicht gegen den Freistaat Bayern gerichtet sind. Zur Bezeichnung des Beklagten bzw. Antragsgegners genügt die Angabe der Behörde.
Da der Antragsgegner das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung (Nr. 3 des Bescheids) nicht ausreichend gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet hat, ist der Antrag begründet. Daher ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung in Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheids wiederherzustellen.
Für die im öffentlichen Interesse erfolgende Vollziehbarkeitsanordnung muss ein besonderes öffentliches Interesse vorliegen, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigt. Es müssen besondere Gründe dafür sprechen, dass der Verwaltungsakt sofort und nicht erst nach Eintritt der Bestandskraft verwirklicht, umgesetzt oder vollzogen wird. Es muss eine Eilbedürftigkeit, also eine besondere Dringlichkeit, bestehen. Erforderlich hierfür ist eine umfassende Interessenabwägung (Gersdorf in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 59. Ed. 1.7.2021, § 80 Rn. 99).
Für die Anordnung des sofortigen Vollzugs von Ausweisungsverfügungen ergeben sich aus verfassungsrechtlicher Sicht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (grundlegend: BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 23 u. 155/73 – NJW 1974, 227 (228); s. auch: BVerfG, B.v. 12.9.1995 – 2 BvR 1179/95 – NVwZ 1996, 58 (59)) besondere Anforderungen. Da die Ausweisung in jedem Falle eine schwerwiegende Maßnahme ist, die nicht selten tief in das Schicksal des Ausländers und seiner Angehörigen eingreift und deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung erheblich verschärft wird, muss insbesondere mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stets ein besonderes, über die Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen. Es muss die begründete Besorgnis bestehen, die von dem Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon in dem Zeitraum bis zu einer richterlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung realisieren; der allgemeine Verdacht einer Beeinträchtigung erheblicher Belange der Bundesrepublik genügt für die Abschiebung nicht.
Hier erfüllt die im streitgegenständlichen Bescheid vorgenommene Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung diese Anforderungen nicht. Es wird in der Begründung für den Sofortvollzug (und auch sonst im Bescheid) nicht deutlich, dass und aus welchen Gründen vorliegend die Gefahr besteht, dass sich die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr der Begehung weiterer Betäubungsmitteldelikte durch den Antragsteller bereits vor Abschluss des gerichtlichen Klageverfahrens realisieren wird. Zur Begründung des Sofortvollzuges wird nicht einmal auf die Wiederholungsgefahr beim Antragsteller abgestellt. Vielmehr wird in formelhafter Weise darauf verwiesen, dass der Sofortvollzug erforderlich sei, um entsprechend dem Willen des Gesetzgebers den Aufenthalt von vollziehbar ausreisepflichtigen Personen schnellstmöglich zu beenden sowie um eine frühzeitige Wiedereinreise zu verhindern. Das allgemeine öffentliche Interesse am Vollzug des Gesetzes allein vermag jedoch nicht die Vollziehungsanordnung zu begründen. Hierbei handelt es sich um allgemeine Erwägungen, die dem Einzelfall nicht Rechnung tragen. Auch die Ausführungen zu den privaten Interessen des Antragstellers bleiben im Allgemeinen. Eine Auseinandersetzung mit den möglicherweise bestehenden Bindungen des Antragstellers zu seiner deutschen Lebensgefährtin und seinem deutschen Kind, die gegen die Anordnung des Sofortvollzuges sprechen könnten, findet gerade nicht statt.
Gegen eine besondere Dringlichkeit und damit gegen die Anordnung des Sofortvollzugs streitet im vorliegenden Fall vielmehr, dass die Anhörung des Antragstellers zur beabsichtigten Ausweisung bereits am 21. Januar 2020 erfolgt ist, die Ausweisung jedoch erst ein Jahr und 8 Monate später, am 20. September 2021, verfügt worden ist. Überdies dürfte einer (sofortigen) Abschiebung nach Gambia nach Aktenlage ohnehin entgegenstehen, dass – soweit ersichtlich – keine Abschiebungsandrohung nach Gambia existiert.
Hinzu kommt, dass nach telefonischer Auskunft des Antragsgegners vom 2. Dezember 2021 im konkreten Fall kein besonderer Grund für die Anordnung des Sofortvollzuges bestanden habe. Bei Ausweisungen werde der Sofortvollzug immer angeordnet. Insoweit missachtet der Antragsgegner, dass die aufschiebende Wirkung der Klage die Regel und die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Ausnahme ist. Die aufschiebende Wirkung findet ihre Grundlage in der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) und ist ein fundamentaler Grundsatz des Verwaltungsprozesses. Eine – wie hier wohl vorliegende – Verwaltungspraxis, die dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrt, ist damit nicht zu vereinbaren (vgl. Cziersky-Reis in NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 53).
2. Im Hinblick auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nr. 2 des angefochtenen Bescheids) ist der gestellte Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu verstehen als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO. Die vorliegend auch bezüglich des Einreise- und Aufenthaltsverbots angeordnete sofortige Vollziehung in Nummer 3 des Bescheids geht ins Leere, da die Anordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbar sind. Die aufschiebende Wirkung einer diesbezüglichen Klage entfällt nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO. Zwar gilt die Vorschrift des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG nach ihrem Wortlaut nicht für die Anordnung, sondern nur für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (anders dagegen die Regelungen in § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8, Satz 2 AufenthG, die gerade für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 6 und Abs. 7 AufenthG gelten). Der Gesetzgeber hat also auch nach dem im August 2019 erfolgten Systemwechsel in § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG vom gesetzlichen zum behördlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot am Wortlaut des § 84 Abs. 1 AufenthG festgehalten, soweit diese Vorschrift Anordnungen von Einreise- und Aufenthaltsverboten sowie deren Befristung betrifft (s. VGH Baden-Württemberg, B.v. 13.11.2019 – 11 S 2996/19 – juris Rn. 42). Aber nach der überzeugenden Begründung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, die sich ausführlich mit den Gesetzgebungsmaterialien auseinandersetzt, ist auch die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG erfasst und ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO insoweit statthaft, da die Anordnung sowie die verpflichtend vorzunehmende Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots als einheitlicher Verwaltungsakt zu sehen sind. Zudem führt nur diese Interpretation des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG zu einem in sich stimmigen System des Rechtsschutzes gegen Einreise- und Aufenthaltsverbote unabhängig von deren Rechtsgrundlage (§ 11 Abs. 1, 2, 6, 7, § 84 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 7 und 8, § 84 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, s. VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 40 ff.; im Anschluss hieran: VG München, B.v. 22.2.2021 – M 4 S 20.6589 – juris Rn. 27; offengelassen: BVerwG, B.v. 28.5.2020 – 1 VR 2/19 – juris Rn. 12).
Der so verstandene Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist zulässig. Er ist auch begründet, da nach summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt.
Im Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO trifft das Gericht eine eigenständige Ermessensentscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Hierbei hat es abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Sofern die Klage nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das öffentliche Interesse regelmäßig zurück.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich im vorliegenden Fall jedenfalls die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots voraussichtlich als ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Sie verletzt den Antragsteller daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Da es sich bei der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie dessen Befristung um einen einheitlichen belastenden Verwaltungsakt handelt (s. hierzu bereits oben), der nicht in die Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespaltet werden kann (VGH Baden-Württemberg, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – juris Rn. 19), ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nummer 2 des Bescheids insgesamt anzuordnen.
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann im konkreten Fall nicht bereits daraus abgeleitet werden, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung wiederhergestellt ist. Denn für den Erlass eines auf eine Ausweisung bezogenen Einreise- und Aufenthaltsverbots genügt die Wirksamkeit der Ausweisung. Weder die Bestandskraft noch die Vollziehbarkeit der Ausweisung ist Voraussetzung für den Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots. Dies ergibt sich aus § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung erlassen werden soll (vgl. hierzu: VGH Baden-Württemberg, B.v. 21.1.2020, a.a.O., Rn. 76).
Angesichts der ermessensfehlerhaften Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann an dieser Stelle offenbleiben, ob bereits dessen Anordnung bei summarischer Prüfung rechtswidrig ist. Da der Antragsteller ausgewiesen und das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung erlassen wurde, bestehen im Ausgangspunkt gegen die Anordnung des Verbots zwar keine Bedenken. Angesichts der weitreichenden und gravierenden Folgen, die ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Betroffenen nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG hat, kann im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aber die Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht unberücksichtigt bleiben. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert, dass bei der gerichtlichen Kontrolle eines Einreise- und Aufenthaltsverbots im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO eine inzidente Überprüfung der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit der Ausweisung erfolgt (vgl. VGH Baden-Württemberg, B.v. 21.1.2020, a.a.O., Rn. 77). Im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der vorliegenden Ausweisung erscheint es bei summarischer Prüfung jedenfalls fragwürdig, ob insbesondere die Beziehung des Antragstellers zu seinem Kind im Bescheid zutreffend gewürdigt und die Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen in ermessensfehlerfreier Weise vorgenommen worden ist. Wie bereits ausgeführt, kann diese Frage hier jedoch dahinstehen.
Nach kursorischer Prüfung ist nämlich jedenfalls die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG voraussichtlich ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.
Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. Da im vorliegenden Fall der Antragsteller wegen einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist, darf die Frist entgegen § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG bis zu 10 Jahre betragen.
Soweit die Verwaltungsbehörde – wie hier gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG – ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht nach § 114 Satz 1 VwGO auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.
Maßgeblicher Zeitpunkt für diese gerichtliche Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor der letzten Tatsacheninstanz oder im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz (Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 11 AufenthG Rn. 134).
Bei der Bemessung der Frist ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (statt vieler: BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – NVwZ 2018, 88 (90)) in einem ersten Schritt eine prognostische Einschätzung im Einzelfall vorzunehmen, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. insbesondere an verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und an Art. 8 EMRK, gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern es bedarf nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange.
Gemessen an diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall im Entscheidungszeitpunkt des Gerichts bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage jedenfalls die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 6 Jahre voraussichtlich ermessensfehlerhaft. Der Antragsgegner hat keine normative Korrektur der Sperrfrist von 6 Jahren vorgenommen. Eine solche erscheint jedoch mit Blick auf die im gerichtlichen Eilverfahren substantiiert vorgetragene und bei summarischer Prüfung ausreichend glaubhaft gemachte Beziehung des Antragstellers zu seinem Kind und seiner Verlobten (Art. 6 Abs. 1 GG) voraussichtlich notwendig.
Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK gewähren keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Gleichwohl ist die Ausländerbehörde verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen (stRspr, vgl. nur BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NvWZ 2013, 1207 (1208)). Voraussetzung ist stets eine schutzwürdige echte familiäre Beziehung im Sinne einer Beistandsgemeinschaft. Maßgeblich ist auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013, a.a.O.).
Im vorliegenden Fall hat der Antragsgegner die nach summarischer Prüfung anzunehmenden familiären Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet weder im angefochtenen Bescheid noch ergänzend im gerichtlichen Verfahren ausreichend gewürdigt.
Der Antragsgegner geht im Bescheid davon aus, dass aufgrund der Trennung des Antragstellers und seiner Lebensgefährtin eine hinreichende Nähebeziehung zur Tochter aktuell nicht mehr nachgewiesen sei. Ob der Antragsteller trotz der (im Bescheid zugrundegelegten) Beendigung der Beziehung seinen väterlichen Pflichten weiterhin nachkommt und damit eine Nähebeziehung anzunehmen ist, ist nicht ermittelt und berücksichtigt worden.
Nach dem substantiierten Vortrag des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren, der durch die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen und die Bestätigungen des Jugendamtes, der Kindertageseinrichtung und der Bewährungshilfe glaubhaft gemacht worden ist, sprechen jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts mehr Indizien für eine Nähebeziehung des Antragstellers zu seinem Kind und seiner Verlobten als dagegen.
Zwar ist gegen eine über längere Dauer verfestigte familiäre Beziehung anzuführen, dass das Kind … während der Inhaftierung des Antragstellers am 26. Juli 2019 geboren worden ist und er dieses während der Haft nur bei (wenn auch regelmäßigen) Besuchen gesehen hat. Nach Aktenlage lebte der Antragsteller erst ab 21. Dezember 2020 mit dem Kind (und seiner Verlobten) zusammen. Im Juni 2021 kam es zu einer (wohl) vorübergehenden Trennung der Verlobten, die die Bewährungshelferin auch Anfang September 2021 als noch fortbestehend wahrgenommen hat (Telefonat mit dem Landratsamt vom 21.9.2021).
Aber es wird im gerichtlichen Eilverfahren substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht, dass es sich um nur eine vorübergehende Trennung gehandelt hat, die Familie wieder zusammen lebt und der Antragsteller sich nach wie vor intensiv um sein Kind kümmert. Dies wird belegt insbesondere durch die eidesstattliche Versicherung der Lebensgefährtin, die im Eilverfahren als Mittel der Glaubhaftmachung grundsätzlich geeignet ist. Darüber hinaus kommt der (undatierten) Stellungnahme des Jugendamts als fachkundiger Stelle besondere Bedeutung zu. Nach dieser sei bei einem Hausbesuch am 1. Juli 2021, also im Zeitraum der Trennung, auch der Antragsteller in der Wohnung angetroffen worden. Die Interaktion zwischen ihm und seinem Kind habe vertraut und stimmig gewirkt. Zudem hat die Stellungnahme der Kindertageseinrichtung vom 28. September 2021 ein erhebliches Gewicht, da auch die Erzieher aufgrund ihres fachlichen Hintergrunds eine Einschätzung der Beziehung des Antragstellers zu seiner Tochter vornehmen können. Nach dieser Stellungnahme hat der Antragsteller insbesondere die intensive Zeit der Eingewöhnung mit seiner Tochter absolviert und bringt bzw. holt seine Tochter regelmäßig. Auch dass seine erst zweijährige Tochter in der Kita viel von ihrem Vater spricht, ist ein Zeichen für eine vorhandene Nähebeziehung. Zudem bestätigt die schriftliche Stellungnahme der Bewährungshilfe vom 22. September 2021 das Zusammenleben der Familie und einen sehr guten Kontakt des Antragstellers zu den Kindern. Bei summarischer Prüfung überwiegen damit die Indizien für eine persönliche Nähebeziehung zwischen dem Antragsteller und seinem Kind sowie seiner Verlobten; eine solche kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Ob eine solche tatsächlich besteht, wird im Klageverfahren weiter aufzuklären sein, beispielsweise durch Zeugeneinvernahme der Verlobten des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung.
Der Antragsgegner hat trotz dieses substantiierten Vortrags des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren keine ausreichenden weiteren Ermessenserwägungen zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nachgeschoben (§ 114 Satz 2 VwGO). Er beruft sich lediglich darauf, dass eine Nähebeziehung durch die vom Antragsteller vorgelegten Nachweise nicht hinreichend belegt sei und bei der Vorsprache am 11. Oktober 2021 nicht der Eindruck einer Nähebeziehung gewonnen worden sei. Die eigene Wahrnehmung eines Mitarbeiters des Landratsamts bei dieser Vorsprache hat alleine jedoch nicht das Gewicht, den oben dargelegten substantiierten Vortrag sowie dessen Glaubhaftmachung zu erschüttern.
Da nach summarischer Prüfung das Vorliegen einer persönlichen Nähebeziehung anzunehmen ist, wäre eine normative Korrektur der Sperrfrist von 6 Jahren wegen des hohen Schutzguts des Art. 6 GG vorzunehmen. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Jahren ist, wenn – wie hier – ein sehr kleines Kind betroffen ist, zu viel. Die kleine Tochter des Antragstellers würde eine Trennung von 6 Jahren rasch als endgültigen Verlust begreifen. Insoweit ist entscheidend auf die Sicht des Kindes und das Kindeswohlinteresse abzustellen. Darüber hinaus sprechen für eine Reduzierung der Sperrfrist das – im Eilverfahren ausreichend glaubhaft gemachte – Verlöbnis mit einer deutschen Staatsangehörigen sowie die positive Entwicklung des Antragstellers in der Haft und nach seiner Haftentlassung.
Der Antragsgegner wird daher voraussichtlich erneut über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu entscheiden haben.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 1.5 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von 2013.


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