Verwaltungsrecht

Einstweilige Anordnung, Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung), Depressive Störung, HIV-Erkrankung, Keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung

Aktenzeichen  M 10 E 21.5787

Datum:
10.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 35331
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Aussetzung seiner Abschiebung nach Pakistan.
Der Antragsteller, ein im Jahr 1988 geborener, pakistanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im Jahr 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte am 17. Juni 2016 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 21. März 2017, der seit 11. Mai 2019 bestandskräftig ist, wurde der Asylantrag abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen, eine Frist für die freiwillige Ausreise von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens gesetzt sowie die Abschiebung nach Pakistan angedroht.
Seit 3. Juni 2019 war der Antragsteller im Besitz einer Duldung wegen fehlender Reisedokumente.
Da der Antragsteller mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts Dachau vom 31. Mai 2021 zu einer Geldstrafe wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass verurteilt wurde, wies der Antragsgegner den Antragsteller mit Bescheid vom 28. Oktober 2021 aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von drei Jahren an und forderte den Antragsteller unter Androhung der Abschiebung auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 4 Wochen nach Bestandskraft des Bescheids zu verlassen.
Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 8. November 2021, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben (Az. M 10 K 21.5786). Er beantragt gleichzeitig,
im Wege der einstweiligen Anordnung die aktuell laufende Abschiebung unverzüglich zu stoppen.
Der Antragsteller befinde sich in Abschiebehaft und solle am 9. November 2021 abgeschoben werden. Der Antragsgegner habe die Abschiebung nicht unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers beschlossen. Der Antragsteller leide an einer rezidivierenden depressiven Störung bis hin zu einer schweren depressiven Episode und sei darüber hinaus an HIV erkrankt. Zum Nachweis hierfür wird ein ärztlicher Befundbericht des …-Klinikums vom 10. September 2021 vorgelegt. Der Antragsteller befinde sich fortlaufend in Behandlung des …-Klinikums und nehme schwere Medikamente, die ihm bei einer Abschiebung nicht mehr zugänglich seien. Es bestehe daher eine erhöhte gesundheitliche Gefahr bis hin zur Selbstmordgefahr. Auch eine psychologische Behandlung sei in Pakistan nicht möglich. Im Übrigen gebe es in der Heimatregion des Antragstellers an der Grenze zu Indien schwere Unruhen, die bürgerkriegsähnliche Zustände aufwiesen.
Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 9. November 2021 zum Verfahren Stellung genommen, ohne einen Antrag zu stellen. Es sei beabsichtigt, den Antragsteller am 11. November 2021 nach Pakistan abzuschieben. Die Ausweisungsverfügung vom 28. Oktober 2021 sei mit beigefügtem und dem Bevollmächtigten des Antragstellers per Fax zugestelltem Bescheid vom 9. November 2021 zurückgenommen worden, da die im Ausweisungsbescheid erneut gesetzte Ausreisefrist sowie Abschiebungsandrohung der Ausreisefrist sowie Abschiebungsandrohung aus dem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts widersprächen. Der Antragsteller sei seit 11. Juni 2019 auf Grundlage des bestandskräftigen Bescheids des Bundesamts vollziehbar ausreisepflichtig. Er sei auch reisefähig. Das ausschließlich vorgelegte Attest vom 10. September 2021 sei keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung. Nach dem Attest bestehe kein Anhaltspunkt für akute Suizidalität. Im Übrigen sei der Antragsteller vor der Ingewahrsamnahme durch eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie auf Haftfähigkeit untersucht worden. Diese sei zum Ergebnis gekommen, dass keine akute Suizidalität beim Antragsteller bestehe und keine besonderen Maßnahmen wegen einer Gefahr für den Antragsteller oder andere erforderlich seien. Die darüber hinaus geltend gemachte Erkrankung an HIV sei im Asylverfahren abschließend gewürdigt worden; ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG bestehe nicht. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung sei auch nicht mit Blick auf familiäre Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland ersichtlich. Die Familie des Antragstellers lebe in Pakistan. Soweit eine Bedrohung im Heimatland geltend gemacht werde, handle es sich um einen zielstaatsbezogenen Umstand.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der gestellte Antrag, im Wege einer einstweiligen Anordnung die aktuell laufende Abschiebung zu stoppen, ist zu verstehen als Antrag nach § 123 VwGO, der gerichtet ist auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG. Der so verstandene Antrag nach § 123 VwGO bleibt ohne Erfolg, da er nicht begründet ist.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden.
Im vorliegenden Fall ist der Antrag nach § 123 VwGO zwar zulässig, insbesondere ist eine besondere Dringlichkeit gegeben. Der Antragsteller soll im Rahmen einer Sammelabschiebung am 11. November 2021 nach Pakistan abgeschoben werden.
Der Antrag nach § 123 VwGO ist aber unbegründet, da der Antragsteller keinen nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO).
1. Der Antragsteller ist gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG abzuschieben, da er nach bestandkräftigem Abschluss seines Asylverfahrens vollziehbar zur Ausreise verpflichtet ist (§§ 50 Abs. 1 Satz 1, 58 Abs. 2 AufenthG), die 30-tägige Ausreisefrist nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens am 11. Juni 2019 erfolglos verstrichen ist und der Ausweisungsbescheid vom 28. Oktober 2021, der eine neue (verlängerte) Ausreisefrist gesetzt hatte, mit Bescheid vom 9. November 2021 aufgehoben worden ist. Da der Antragsteller nach Aktenlage mehrfach angegeben hat, das Bundesgebiet nicht freiwillig zu verlassen, ist die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht auch nicht gesichert.
2. Die Abschiebung ist auch durchführbar. Es liegen weder Abschiebungshindernisse noch -verbote vor. Der Antragsgegner ist an die Entscheidung des Bundesamts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG gebunden (§ 42 Satz 1 AsylG). Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die bereits im Asylverfahren geltend gemachte und gewürdigte Erkrankung des Antragstellers an HIV.
a) Auch eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.
Die Abschiebung eines Ausländers ist gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
aa) Anhaltspunkte für eine tatsächliche Unmöglichkeit im Sinne von § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
bb) Die Abschiebung ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne von § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG. Ein rechtliches Ausreisehindernis ergibt sich insbesondere nicht unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Situation des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und Satz 3 AufenthG).
Im konkreten Fall hat der Antragsteller die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nicht durch die Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG widerlegt.
Der ausschließlich vorgelegte ärztliche Befundbericht vom 10. September 2021 ist keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, da hierin lediglich eine Diagnose (insbesondere einer rezidivierenden depressiven Störung) gestellt sowie ein psychopathologischer Befund enthalten ist. Fundierte Ausführungen insbesondere zur Anamnese, zur Methode der Befunderhebung sowie zu Folgen der Erkrankung fehlen. Jedenfalls ergibt sich hieraus nicht eine schwerwiegende Erkrankung, die einer Abschiebung entgegenstehen könnte. In diesem Bericht wird vielmehr gerade festgestellt, dass keine Anhaltspunkte für akute Suizidalität oder Fremdgefährdung bestünden. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Ergebnis der Gewahrsamfähigkeitsprüfung vom 5. November 2021 durch eine Fachärztin für Psychologie.
b) Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung im Ermessenswege nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Solche dringenden humanitären oder persönlichen Gründe sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
c) Soweit der Antragsteller sich auf Unruhen in seiner Heimatregion beruft, folgt hieraus ebenso kein im ausländerrechtlichen Verfahren ausschließlich zu prüfendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Dieser Aspekt stellt einen rein zielstaatsbezogenen Umstand dar, der beim Bundesamt geltend zu machen wäre.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nummern 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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