Verwaltungsrecht

Einstweiliger Rechtsschutz für Tankstellenbetreiber wegen Fremdenverkehrsbeitrags

Aktenzeichen  B 4 S 19.675

Datum:
18.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 56866
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
KAG Art. 6

 

Leitsatz

Die Gemeinde kann bei der Schätzung des Vorteilssatzes Erfahrungswerte nur dann zu Grunde legen, wenn konkrete Umstände nicht oder nicht mit zumutbarem Aufwand ermittelt werden können, oder wenn der Abgabenschuldner insoweit keine ausreichenden oder keine brauchbaren Angaben macht (VGH München, Urt. v. 01.12.1989 – Az. 4 B 88.1720, BeckRS 1989, 110307). Vorliegend lässt sich der angesetzte Vorteilssatz von 20% nicht auf eine hinreichend belegbare Tatsachengrundlage stützen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 30. Juni 2019 gegen den Fremdenverkehrsbeitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 11. Juni 2019 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 309,59 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller betreibt in … eine Tankstelle mit der Bezeichnung tanken & mehr. Er wendet sich gegen seine Heranziehung zu einem Fremdenverkehrsbeitrag für das Jahr 2017 und die Vorauszahlungen für die Folgejahre.
Mit Bescheid vom 11.06.2019 erhob die Antragsgegnerin vom Antragsteller für das Veranlagungsjahr 2017 einen Fremdenverkehrsbeitrag in Höhe von 1.238,34 EUR. Die Vorauszahlungen ab dem Jahr 2018 wurden gleichfalls auf 1.238,34 EUR festgesetzt. Die Antragsgegnerin legte der Veranlagung einen steuerbaren Umsatz von 1.769.052,38 EUR, einen Vorteilssatz von 20% und einen Mindestbeitragssatz von 0,35% zu Grunde.
Mit Schreiben vom 30.06.2018, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 01.07.2019, erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers Widerspruch mit der Begründung, dass die Annahme eines Vorteilssatzes von 20% fehlerhaft sei und die erhobenen Beiträge weder dem Äquivalenz- noch dem Kostendeckungsprinzip entsprächen.
Mit Schreiben vom 03.07.2019 beantragte er außerdem die Aussetzung der Vollziehung. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 15.07.2019 ab.
Mit Schriftsatz vom 26.07.2019 wandte sich der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers an das Verwaltungsgericht Bayreuth und stellte den Antrag:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 30.06.2019 und einer nachfolgenden Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11.06.2019 über die Veranlagung zum Fremdenverkehrsbeitrag für das Jahr 2017 und Vorauszahlungen wird angeordnet.
Zur Antragsbegründung wurde ausgeführt, das Suspensivinteresse des Antragstellers überwiege das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Die Schätzung und damit die Annahme eines Vorteilssatzes von 20% sei fehlerhaft. Die erhobenen Beiträge entsprächen weder dem Äquivalenz- noch dem Kostendeckungsprinzip. Es sei völlig offen, wie die Antragsgegnerin den Vorteilssatz von 20% ermittelt habe. Die vorzunehmende Schätzung sei keine Ermessensentscheidung. Sie sei einzelfallbezogen vorzunehmen und gerichtlich voll überprüfbar. Es sei bei der Schätzung des Vorteilssatzes nicht einbezogen worden, dass die Übernachtungszahlen in der Gemeinde drastisch zurückgegangen seien. Nach den Zahlen der Tourismus- und Marketing GmbH … seien die Übernachtungen in der Gemeinde vom Jahre 1990 mit 135.025 abgesunken auf 81.305 im Jahr 2011, auf 74.854 im Jahr 2012, auf 61.919 im Jahr 2013 und auf 56.355 im Jahr 2014. Sollte ein Vorteilssatz von 20% einmal richtig geschätzt worden sein, so hätten sich die mittelbaren und unmittelbaren Vorteile des Antragstellers aus dem Fremdenverkehr deutlich reduziert. Allerdings sei es de facto so, dass dem Betrieb des Antragstellers weder mittelbare noch unmittelbare Vorteile aus dem Fremdenverkehr erwüchsen. Dies ergebe sich daraus, dass die Umsatzzahlen des Betriebs unabhängig von der Anzahl der Touristen und unabhängig von den Übernachtungszahlen in den vergangenen Jahren konstant geblieben, also auch in den Ferienzeiten nicht nennenswert angestiegen seien. Es stelle sich angesichts der finanziellen Situation der Gemeinde die Frage, wie sie in den Jahren 2011 bis 2018 den Fremdenverkehr gefördert habe, ohne Fremdenverkehrsbeiträge zu erheben. Das letzte Mal sei beim Antragsteller ein Fremdenverkehrsbeitrag für das Jahr 2009 erhoben worden. Da offenbar keine Notwendigkeit einer zeitnahen Festsetzung von Beiträgen bestanden habe, scheine der gemeindliche Aufwand gedeckt gewesen zu sein.
Das Landratsamt … teilte mit Schreiben vom 01.08.2019 mit, dass dort noch kein Widerspruch vorliege.
Mit Schriftsatz vom 27.08.2019 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Antragserwiderung führt er aus, der Antragsteller betreibe eine Tankstelle, in der auch Backwaren, Shop-Artikel, Zeitungen und Zeitschriften, Getränke mit und ohne Alkohol, Tabakwaren, E-Zigaretten, Snacks, Informationen, Post- und Postbank-Dienstleistungen sowie ein kostenloser Internet- und PC-Zugang mit Ausdruckmöglichkeit angeboten würden. Darüber hinaus bestehe die Möglichkeit beim Antragsteller E-Bikes oder normale Fahrräder zu leihen. Diese Angaben seien der Homepage des Antragstellers entnommen. Die Tankstelle des Antragstellers liege in der Ortsmitte. Sein Angebot wende sich nicht nur an Ortsansässige, sondern auch an Ortsfremde. Die Zahl der Fremdübernachtungen in der Gemeinde übersteige im Jahr in der Regel das Siebenfache der Einwohnerzahl. Damit sei die Antragsgegnerin berechtigt, Fremdenverkehrsbeiträge zu erheben. Die entsprechende Fremdenverkehrsbeitragssatzung datiere vom 22.10.1981, in Kraft getreten am 01.01.1982. In den Jahren 2011 bis 2017 sei es aufgrund verschiedenster Schwierigkeiten in der Gemeinde (personelle Unterbesetzung, mehrfacher Personalwechsel, Krankheit, usw.) zu Defiziten bei der Erhebung der Fremdenverkehrsbeiträge gekommen. In der Folgezeit seien die Rückstände abgearbeitet und die Abgabepflichtigen zur Erklärung mit entsprechenden Formblättern aufgefordert worden. Die entsprechende Erklärung für das Jahr 2017 habe der Kläger am 03.06.2019 abgegeben. Danach habe die Antragsgegnerin den Fremdenverkehrsbeitrag des Antragstellers auf 1.238,34 EUR festgesetzt. Im Rahmen der Doppelermittlung nach Gewinn und nach Umsatz sei der aus dem Umsatz ermittelte Beitrag höher und damit satzungsgemäß anzusetzen gewesen. Auch wenn die Übernachtungszahlen rückgängig seien, so sei festzuhalten, dass die Gemeinde ca. 1.762 Einwohner habe und deutlich mehr als 12.500 Fremdenübernachtungen stattfänden. Ein Fremdenverkehrsvorteil liege beim Antragsteller vor. Dass ein gewerblicher Betrieb wie eine Tankstelle von Fremden aufgesucht und von diesen auch Umsätze getätigt würden, liege auf der Hand. Tankstellen hätten darüber hinaus auch einen mittelbaren Vorteil, soweit dort Personen ihren Bedarf deckten, die selbst einen unmittelbaren Vorteil vom Fremdenverkehr hätten. Der Vorteil des Antragstellers sei, anders als ein Kurbeitrag, nicht unmittelbar davon abhängig, dass ein Ortsfremder übernachte. Auch Tagesgäste würden ihren Bedarf im Rahmen des Angebots des Antragstellers decken. Bei der Antragsgegnerin liege 2017 ein Haushaltsansatz für Fremdenverkehrsausgaben in Höhe von 149.100 EUR vor. Die tatsächlichen Ausgaben für 2017 lägen bei 158.645,71 EUR. Das Einnahmesoll bei den Fremdenverkehrsbeiträgen liege bei 17.000 EUR. Damit sei nicht ansatzweise eine kostendeckende Erhebung vorhanden. Zum Vorteilssatz sei vorzutragen: Für 2017 ergebe sich für den ländlichen Raum anhand der statistischen Landesdaten in Bayern eine Fremdenverkehrsquote von 12,89%. Konkret beim Kläger schätze die Antragsgegnerin seinen fremdenverkehrsbezogenen Vorteil auf 20%, da seine Geschäftsbereiche besonders Kunden beträfen, die Ortsfremde seien und sein vielfältiges Angebot nutzten. Sein Geschäftsangebot richte sich nicht nur an Fremde, sondern in erheblichem Umfang auch an andere örtliche Gewerbetreibende und deren Mitarbeiter. Hinsichtlich der Vorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und folgende werde auf Art. 6 Abs. 4 BayKAG und § 5 der Satzung verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 12.09.2019 verwies der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers erneut auf die rückläufigen Gästeübernachtungen im Bereich der …gemeinden, die sich aus einer konkreten Ausarbeitung der Tourismusorganisation ergebe. Es bedürfe somit keiner statistischen Landesdaten für den ländlichen Raum in Bayern, da es exakt auf die Antragsgegnerin bezogen konkretere Daten gebe. Wie die Antragsgegnerin den fremdenverkehrsbezogenen Vorteil des Antragstellers auf 20% schätze sei nicht überzeugend, da nicht ansatzweise eine Erläuterung vorliege. Der Rückgang der Übernachtungszahlen 2017 im Verhältnis zu 1990 betrage 54% mit fallender Tendenz. Hinzukomme der Verlust der Therme, der marode Ortskern und die fehlende Infrastruktur. Aus den Umsatzzahlen des Antragstellers von 2014 bis 2019 ergebe sich, dass der Umsatz seines Betriebes unabhängig von der Anzahl der Touristen, unabhängig von den Übernachtungszahlen und unabhängig von Ferienzeiten konstant geblieben sei.
Mit Schriftsatz vom 25.09.2019 trug die Antragsgegnerseite ergänzend vor, zweifelsfrei sei die Gemeinde erhebungsberechtigt, da die Übernachtungszahlen auch in den letzten Jahren das 30-fache der Einwohnerzahl überschritten habe. Außerdem komme es nicht alleine auf die Übernachtungszahlen an. Maßgeblich seien auch die ortsfremden Tagesgäste. Aus den Zahlen der Tourismus- und Marketing GmbH … gehe nicht hervor, was berücksichtigt worden sei. Ob und in welchem Umfang Wohnmobil- und Campingübernachtungen enthalten seien, sei nicht bekannt. Auch bei Zugrundelegung der Daten ergäben sich für 2017 immer noch gut 164 Übernachtungen pro Tag. Die Antragsgegnerin gehe von den amtlichen statistischen Landesdaten aus, bei denen auch Campingübernachtungen mit erfasst seien. Der Erfassungsschlüssel dazu sei veröffentlicht. Die Gemeinde habe nicht nur Sommersondern auch Wintergäste.
Wegen der Fremdenverkehrsbeiträge für die Jahre 2011 bis 2016 (Bescheide vom 25.05.2018) hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Bayreuth eine Untätigkeitsklage erhoben, die unter dem Az. B 4 K 18.1057 anhängig ist.
Am 14.11.2019 führte das Gericht einen Erörterungstermin durch. Auf das hierzu gefertigte Protokoll wird verwiesen. Der Vorschlag der Antragsgegnerin, sich auf der Basis eines Vorteilssatzes von 15% zu einigen, wurde von Seiten des Antragstellers nicht angenommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten – auch des Verfahrens B 4 K 18.1057 – Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und in der Sache begründet.
1.1 Die bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehende Zulässigkeitsvoraussetzung nach § 80 Abs. 6 VwGO ist eingehalten, weil die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 15.07.2019 den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung vom 03.07.2019 abgelehnt hat.
1.2 Der Antrag ist auch begründet.
Die grundsätzlich mit einem Widerspruch verbundene aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO) tritt kraft Gesetzes nicht ein, wenn ein Verwaltungsakt die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten betrifft (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen und deshalb seine Aufhebung oder Änderung im Hauptsacheverfahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist oder wenn dessen sofortige Vollziehung für den Abgabeschuldner eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Nach summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hat das Gericht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des erlassenen Beitragsbescheides.
Gemäß Art. 6 KAG können Gemeinden, in denen die Zahl der Fremdenübernachtungen im Jahr in der Regel das Siebenfache der Einwohnerzahl übersteigt, zur Deckung des gemeindlichen Aufwands für die Fremdenverkehrsförderung u. a. von den selbstständig tätigen, natürlichen und juristischen Personen, denen durch den Fremdenverkehr im Gemeindegebiet unmittelbar oder mittelbar wirtschaftliche Vorteile erwachsen, einen Fremdenverkehrsbeitrag erheben.
Von dieser Ermächtigung hat die Antragsgegnerin durch den Erlass der Satzung für die Erhebung eines Fremdenverkehrsbeitrags vom 30.09.1981 (FVBS) Gebrauch gemacht. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist von der Gültigkeit dieser Satzung auszugehen, wenn nicht ausnahmsweise Gründe, welche die Annahme der Nichtigkeit rechtfertigen, offen zu Tage treten (std. Rechtsprechung des BayVGH: vgl. BayVGH v. 17.12.2008 Az. 23 CS 06.2979 m.w.N.). Solche Gründe sind hier nicht geltend gemacht und nicht ersichtlich.
Nach § 1 Abs. 1 FVBS wird von allen selbstständig Tätigen, natürlichen und juristischen Personen, denen durch den Fremdenverkehr im Gemeindegebiet Vorteile erwachsen, ein Fremdenverkehrsbeitrag erhoben. Mit dem Beitrag wird der Vorteil, der dem Beitragsschuldner durch den Fremdenverkehr mittelbar oder unmittelbar erwächst, abgegolten (§ 2 Abs. 1 FVBS). Unmittelbare Vorteile entstehen durch den direkten Geschäftsverkehr mit Fremden. Mittelbare Vorteile resultieren daraus, dass jemand aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit zwar nicht mit den Ortsfremden selbst, wohl aber im Rahmen der Bedarfsdeckung für den Fremdenverkehr mit den unmittelbar daran Beteiligten Geschäfte tätigt.
Grundsätzlich besteht eine Fremdenverkehrsbeitragspflicht des Antragstellers. Der Fremdenverkehr führt bei Tankstellen zu einer Steigerung des Treibstoffverbrauchs, sei es unmittelbar durch entsprechende Nachfrage der Fremden oder mittelbar durch die am Fremdenverkehr direkt beteiligten Personen (vgl. Thimet, Kommunalabgaben- und Ortsrecht in Bayern, Teil IV, Art. 6 KAG, Frage 3, Tz. 6.30). Das Gleiche gilt für die weiteren im Betrieb des Antragstellers angebotenen Waren und Dienstleistungen. Fremdenverkehrsbedingte Vorteile hat der Antragsteller im Erörterungstermin auch grundsätzlich eingeräumt. Er bezweifelt aber die Höhe des angesetzten Vorteilssatzes.
Diese Zweifel an der Rechtmäßigkeit des erlassenen Beitragsbescheides teilt das Gericht insofern, als die Antragsgegnerin für den Fremdenverkehrsbeitrag 2017 und die Vorauszahlung für die Folgejahre einen Vorteilssatz von 20% zu Grunde gelegt hat, der auf einer nicht durch hinreichend konkrete Tatsachen belegbaren Schätzung beruht.
Der Vorteilsatz bezeichnet den auf dem Fremdenverkehr beruhenden Teil des steuerbaren Umsatzes. Er wird durch Schätzung für jeden Fall gesondert ermittelt, wobei insbesondere Art und Umfang der selbständigen Tätigkeit, die Lage und Größe der Geschäfts- und Beherbergungsräume, die Betriebsweise und die Zusammensetzung des Kundenkreises von Bedeutung sind (§ 3 Abs. 3 FVBS).
Dass ein Vorteilsatz im Wege der Schätzung ermittelt wird, ist rechtlich nicht zu beanstanden, insbesondere auch mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar (BayVerfGH E.v. 21.10.1960 – Vf. 24-VII-59 – VerfGH 13, 127/132). Die Legitimation für eine Schätzung des Vorteilsatzes ergibt sich daraus, dass es praktisch kaum möglich ist, die dem Einzelnen aus dem Fremdenverkehr erwachsenden Vorteile exakt zu ermitteln und die Geschäfte mit Fremden und Ortsansässigen jeweils gesondert zu erfassen. Bei der Schätzung ist derjenige Betrag festzustellen, der bei Berücksichtigung aller Umstände die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich hat. Die Schätzung ist dabei nicht dem Bereich der Ermessensausübung, sondern der Tatsachenfeststellung zuzurechnen; sie unterliegt daher der vollen gerichtlichen Nachprüfung (std. Rspr. des BayVGH – vgl. U.v. 09.05.1984 – 4 B 82 A.1097 – BayVBl 1985, 244 ff.; U.v. 05.12.2006 – 4 B 05.3119 – juris Rn. 28; B.v. 01.02.2007 – 4 ZB 06.167 – juris Rn. 7). Das Gericht überprüft demgemäß, ob die Schätzung der einzelnen Vorteilsätze von einer plausiblen Tatsachengrundlage getragen ist. Ausreichend – aber auch notwendig – ist die objektive Möglichkeit der Erzielung von Umsätzen in Höhe der festgesetzten Vorteilsätze. Zwar kann die Gemeinde beim Fehlen ausreichender Daten auf Erfahrungswerte zurückgreifen (BayVGH, B.v. 01.02.2007 a.a.O. RdNr. 8), die Schätzungsbefugnis entbindet die Gemeinde aber nicht von der Verpflichtung, nach Möglichkeit alle Tatsachen zu ermitteln und zu berücksichtigen, die für die Abgabenpflicht von Bedeutung sind. Es ist bei der Schätzung derjenige Betrag festzustellen, der bei Berücksichtigung aller Umstände die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich hat (BayVGH v. 01.12.1989 Az. 4 B 88.1720).
Die Antragsgegnerin hat bisher keine Angaben darüber gemacht, auf welche Weise sie den gewählten Vorteilssatz von 20% für das Jahr 2017 und die Folgejahre ermittelt hat. Der vorgelegten Behördenakte im Verfahren B 4 K 18.1057 ist zu entnehmen, dass für den Betrieb des Antragstellers in den Jahren 1989 bis 1999 ein Vorteilssatz von 20% angesetzt wurde. Auf Antrag des Antragstellers wurde ab dem Jahr 2000 bis einschließlich 2005 ohne nähere Darlegung ein reduzierter Vorteilssatz von 5% zu Grunde gelegt. Im Jahr 2005 stellte die Antragsgegnerin Ermittlungen für eine Anpassung der Fremdenverkehrsbeiträge durch Umfragen bei anderen Fremdenverkehrsgemeinden an. Am 09.05.2006 beschloss der Gemeinderat, den Vorteilssatz für den Betrieb des Antragstellers auf 15% anzuheben. Davon wurde der Antragsteller mit Schreiben vom 22.06.2006 verständigt. In dem Bescheid vom 09.09.2008 wurde für den Fremdenverkehrsbeitrag für 2006 aber ein Vorteilssatz von 20% angesetzt, ebenso in der Folgezeit bis einschließlich 2010, sowie für die Jahre 2011 bis 2016 durch Bescheide vom 25.05.2018. Die Antragsgegnerin räumte im Erörterungstermin ein, dass sie keine Erklärung für den Ansatz eines Vorteilssatzes von 20% anstatt des 2006 beschlossenen Vorteilssatzes von 15% hat. Es seien seither auch keine weiteren Ermittlungen dazu erfolgt, ob der damals beschlossene Vorteilssatz noch den aktuellen Gegebenheiten entspricht. Der Antragsteller verweist hierzu auf die seit Jahren rückläufigen Übernachtungszahlen, die für sich genommen keinen konkreten Nachweis, aber doch ein gewichtiges Indiz für rückläufige Vorteile aus dem Fremdenverkehr darstellen. Die Antragsgegnerin führt die statistischen Landesdaten für den ländlichen Raum in Bayern mit einer Fremdenverkehrsquote von 12,89% an, die für Art und Umfang der selbständigen Tätigkeit des Antragstellers allein nicht aussagekräftig sind, und einen Vorteilssatz von 20% nicht ohne weiteres rechtfertigen.
Nach alledem ergibt sich, dass sich der im Bescheid vom 11.06.2019 angesetzte Vorteilssatz von 20% nicht auf eine hinreichend belegbare Tatsachengrundlage stützen lässt, zumal seit der letzten Schätzung mehr als zehn Jahre vergangen sind. Zwar kann die Gemeinde grundsätzlich bei der Schätzung auch allgemeine Erfahrungswerte zu Grunde legen. Das gilt jedoch nur dann, wenn konkrete Umstände nicht oder nicht mit zumutbarem Aufwand ermittelt werden können, oder wenn der Abgabenschuldner insoweit keine ausreichenden oder keine brauchbaren Angaben macht (BayVGH v. 01.12.1989, Az. 4 B 88.1720).
Somit bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragsbescheids wegen der unzureichenden Bestimmung des Vorteilssatzes. Da nicht absehbar ist, welcher Vorteilssatz nach weiterer Aufklärung im Widerspruchsverfahren und einzelfallbezogener Schätzung ermittelt wird, ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Beitragsbescheid insgesamt anzuordnen. Es ist insbesondere im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, die tatsächlichen Grundlagen für die Festsetzung des Beitrags selbst festzustellen, wenn dies im Verwaltungsverfahren nicht erfolgt ist. Selbst wenn ein Widerspruchsverfahren bereits abgeschlossen oder nach Einlegung des Widerspruchs Untätigkeitsklage erhoben worden ist, kann sich das Gericht auf die Aufhebung des für rechtswidrig erkannten Bescheids beschränken und der Gemeinde die ihr obliegende Ermittlung der Bemessungsgrundlagen überlassen (VG München v. 23.11.2010 – Az. M 10 S 10.4524, juris Rn. 37; BayVGH v. 01.12.1989 a.a.O., juris Leitsatz 2).
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (1/4 des Streitwerts in der Hauptsache: 1.238,34 Euro).


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